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Sonntagspredigten

Betrifft: Andere Länder, eigene Sitten

Liebe Leserinnen und Leser,

in Amsterdam, in Paris, in Warschau war ich immer gern. Mal länger, mal kürzer. Außerhalb Deutschlands zu reisen, das war lange Zeit eines meiner größten Vergnügen: beobachten, lernen, bewundern oder bestaunen – das hat mich geprägt. Aber irgendwo einzumarschieren, als Soldat mit anderen Soldaten gegen den Willen derer, die ich dann nicht besuche, sondern überfalle? Ich kann es mir einfach nicht vorstellen.
Ich verstehe nicht, dass Diktatoren, Kriegsminister, Generäle sich darauf verlassen können: Es klappt! Sie sind in der Lage, durch ihren schieren Willen, mit markigen Worten Bataillone in Bewegung zu setzen, um dann Menschen, die ihnen nichts getan haben, anzugreifen und zu ermorden.

Der Spruch aus meiner Jugend ‚Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin!‘1 hat mir mehr eingeleuchtet als alles, was ich über Schlachten und Siege gelernt habe. Der Satz stammt nicht von Brecht, wie manchmal behauptet wurde, wohl aber stammen von Brecht die Zeilen:
‚Es wird kämpfen für die Sache des Feinds, wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat.‘2

So steht es in der Koloman-Wallisch-Kantate. Selber ging Brecht dann aber doch lieber ins Exil, statt zuzuschlagen. Ein Unbekannter hat dem Kernsatz(1) der Friedensbewegung die Unterstellung hinzugefügt: ‚Dann kommt der Krieg zu euch‘, und diese schreckliche Vermutung ist ja nicht ganz von der Hand zu weisen. Solch eine Drohkulisse machen deshalb auch alle auf, die ihre Landsleute in einen Krieg hetzen wollen; dass es gelingt, verstehe ich trotzdem nicht. Gleichzeitig erinnert mich die Situation zwischen Europa und Putin an Chamberlain und Hitler 1938: Die eine Seite bemüht sich bis zur Selbstaufgabe um Frieden, die andere Seite will nichts als Krieg. Sind das nur Einzelne? Sind das wirklich Nationen? Das fragen wir uns jetzt nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine. Sanktionen? Die Leningrader haben damals gegenüber der deutschen Blockade eisern durchgehalten. Eine Weisung Hitlers von 1941 lautete: ‚Der Führer ist entschlossen, die Stadt Petersburg vom Erdboden verschwinden zu lassen. Es besteht nach der Niederwerfung Sowjetrusslands keinerlei Interesse am Fortbestand dieser Großsiedlung.‘3 Umgekehrt mochten viele Deutsche noch im Januar 1945 nicht von Hitler lassen. Verbissen. Hört das alles also niemals auf? Die Opferbereitschaft und Leidensfähigkeit der Massen ist trostlos. Ich habe kein Empfinden für sie. Für die Mächtigen sind sie Material, für mich sind sie unfassbar.

Ein Nachbar kann mein Feind sein, ein Kollege, ein Franzose – aber die Franzosen, die Polen, die Deutschen? Ein ganzes Volk, das ist mir einfach zu viel. Mehr als zehn Personen über einen Kamm zu scheren, finde ich fast schon rassistisch. Und doch: Fast alle Deutschen haben mitgemacht oder weggesehen, als ihr Land von Rassismus überschwemmt wurde; sie sind mitgeschwommen oder untergetaucht. Na ja. Auch ich bin kein Wellenreiter geworden oder gegen den Strom geschwommen. Doch als Soldat eigne ich mich genauso wenig wie als Rugbyspieler. Gruppensport – nein, danke. Ich wollte niemals in einem Club oder Verein aufgenommen werden, und aus der katholischen Kirche bin ich ausgetreten. Als andere Rock hörten, hörte ich Beethoven. Ein Außenseiter, dessen Standhaftigkeit nie auf eine ernsthafte Probe gestellt wurde. So steht es mir nicht zu, darüber zu urteilen, wieso Garnisonen den Befehlen eines Machthabers gehorchen, Fahneneide schwören, ‚Befehl ist Befehl!‘ behaupten und in den Krieg ziehen, und wieso Putin sich so sicher sein kann darüber, was immer er beschließt, ‚seine‘ Russen an der Front werden das umzusetzen versuchen, was ihm vorschwebt, auch wenn sie dabei sterben müssen. ‚Wer den Tod in Ehren scheut, stirbt ihn in Schande‘, verkündete Breslaus Gauleiter Hanke4. Vor mir die Sowjets, hinter mir die SS. Was mache ich dann? So viele Fragen. Ohne Gehorsam gäbe es wohl keine Zivilisation. Vielleicht gibt es mit Gehorsam bald nur noch die chinesische. Was, wenn Russland Estland angreift und für die NATO der Bündnisfall eintritt, China Taiwan überrollt, Nordkorea Atombomben gegen Südkorea einsetzt? Ich schließe nichts mehr aus. Ich schließe mich ein.

Eines von Brechts schönsten Gedichten, ‚Legende von der Entstehung des Buches Taoteking‘, spielt in China. Weiter oben habe ich Brecht kritisch erwähnt, im Blog haben wir sein Grab verlassen. Aber solange wir es mit Dorothee zu tun haben, bleiben wir kulturbeflissen. Mag es im Osten noch so beunruhigend zugehen – in Berlin, Ende des vorigen Jahrhunderts, war alles Hoffnung und Aufbruch: Architektur, Kino, Kochkunst.

Hemmungslos eskapistisch,
Hanno Rinke



1 Carl Sandburg: ‚The People, Yes‘ | 2 Bertolt Brecht: ‚Wer zu Hause bleibt‘/Koloman-Wallisch-Kantate (unvollendet) | 3 Wikipedia/Sankt Petersburg | 4 Wikipedia/Schlacht um Breslau
Cover mit Material von: Marcus Lenk/Unsplash (Häuser, hinten mittig und links), C Dustin/Unsplash (Wolke) und Shutterstock: ANDRIY B (Buch), Jan Martin Will (Baum), Wondervisuals (Haus, hinten links), Anibal Trejo (Fernsehturm), gomolach (Kerzenflamme), Marti Bug Catcher (Brandenburger Tor)

17 Kommentare zu “Betrifft: Andere Länder, eigene Sitten

  1. Man kann einfach nichts mehr ausschließen. Jetzt sind die nuklearen Kräfte bereits in Alarmbereitschaft. Unglaublich was Putin da anzettelt.

    1. Ich glaube (hoffe!) ja nicht, dass es gleich zum Atomkrieg kommt. Putin ist auf seine Weise irr, aber sicher nicht dumm.

      1. Putin wird so lange weiterdrängen, bis er eine klare Antwort bekommt. Er will Russland wieder zu einer Großmacht werden lassen. Alles andere wird ihm nicht genug sein.

      2. Es ist schon interessant, dass die russische Offensive so schlecht läuft. Aber trotzdem wird die Ukraine natürlich keine Chance haben einen Krieg gegen Russland zu gewinnen.

      3. Es ist wirklich erstaunlich, dass sich die Russen so schwer tun. Man hätte angenommen, das solch ein schwerwiegender Schritt besser geplant wäre. Ungefährlicher wird die Situation darum aber auch nicht.

      4. Jetzt muss man nur noch hoffen, dass sich ein möglicherweise gekränkter oder vorgeführter Putin nicht zum Auslöser für einen dritten Weltkrieg entwickelt. Es wäre das Letzte was wir brauchen.

    1. Man muss hoffen, dass Putin nicht mit einer so starken Reaktion gerechnet hat. Die Gegenwehr der Ukraine, die Proteste im eigenen Land und weltweit.

      1. Die Sanktionen sind bisher doch nicht wahnsinnig aggressiv. Ich glaube nicht, dass er sich davon einschüchtern lassen wird. Und die Proteste, naja, auch das muss ihn erstmal nicht weiter stören.

    2. Inzwischen gibt es ja schon das Gerücht, Putin sei totkrank und will die ganze Welt mitnehmen. Es gab schon Diktatoren, denen das zuzutrauen war. Sie hatten nur keine Atomwaffen.

      1. Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass es zum Atomkrieg kommt. Dass das ganze aber noch deutlich größer wird als es momentan ist, davon muss man wohl erstmal ausgehen.

      2. Ein geschwächter Putin wird schnell zum gefährlichen Putin. Das wird ja genau so auch in den Videos oben erwähnt.

      3. Trotzdem darf man die Verweise auf sein Atomarsenal nicht zu wörtlich nehmen. Als allererstes ist das ja eine Provokation in Richtung Westen. Bei einem Atomkrieg sind wir deswegen noch lange nicht.

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