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Sonntagspredigten

Wahrheit

Liebe Leserinnen und Leser,

nächtliches Wachbleiben kann quälend sein, aber auch zielführend: Abtanzen im Club bei Flashlight ist dabei im Allgemeinen weniger erhellend als Rumliegen im Bett ohne Beleuchtung. Statt Schäfchen zu zählen, kann man so dies und das denken, und manchmal kommt man dabei sogar zu Schlussfolgerungen: Erkenntnisse, geboren aus der Dunkelheit. Die Vermählung von Geist und Nacht. Oder von Quatsch und Finsternis.

Das Gute. Das Schöne. Das Wahre. – Absolute Werte?

Das Gute? – Das ist Ansichtssache: Ein islamistischer Kämpfer im Jemen und ein zionistischer Siedler im Westjordanland sehen das völlig unterschiedlich.

Das Schöne? – Das ist Geschmacksache: Ein Bauhausstuhlbesitzer und ein Gartenzwergbesitzer sehen das völlig unterschiedlich.

Das Wahre? – Das ist so eine Sache …

Unser Jahrtausend vervollkommnet die schon im vorigen Jahrhundert begonnene Teilhabe durch Aneignung: Ich sehe einen Maya-Tempel oder einen Bauchnabel. Auf dem Bildschirm. Dadurch erspare ich mir alles, was analoges Reisen und Daten lästig macht: vom Sicherheitscheck (aus Vorsicht) bis zum Gestank (aus Straßenschluchten oder Körperöffnungen). Was ich im Film sehe, ist für mich echt. Oder gestellt? Die Wirklichkeit spielt keine Rolle für meine Wahrheit. Und ohnehin: Nicht die Wahrheit macht mich glücklich, sondern das, was ich für wahr halte. Mit einer Lüge, (an) die ich glaube, lebe ich besser als mit einer verdrießlichen Wahrheit. Zu sterben, ohne seinen Irrtum erkannt zu haben, ist eine besondere Gnade (Gottes?). Wird aber der Irrtum offenbar (etwa für Hitler-Gläubige spätestens im Mai 1945), dann ist die nicht zu beantwortende Frage: Wiegt das früher genossene Glück die spätere Enttäuschung auf? Moralisch ist dem nicht beizukommen, genauso wenig wie der Frage, ob die Qualen des Entzugs die vorhergehenden Drogenräusche desavouieren. Geschichte von ihrem Ergebnis her zu beurteilen ist legitim, aber um die ursprüngliche Gefühlslage ihrer Protagonisten zu beurteilen, unergiebig. Dafür müssen wir zurückgehen in eine Zeit, in der die Vergangenheit noch eine Zukunft war, die sich nach Gegenwart sehnte.

Wo sind wir näher bei uns: im Rausch oder in der ‚Nüchternheit‘ (ein etwas fades Wort)? Und wo sind wir näher an der Wahrheit? An der für alle geltenden Wahrheit vermutlich, wenn wir nüchtern sind – aber an unserer eigenen? Da scheint womöglich ein Unterschied zu bestehen. Ich rede hier nicht vom Sich-Besaufen. Eher von Bewusstseinserweiterung mit oder ohne Hilfsmittel. Die Ekstase frommer Jungfrauen: Früher führte sie zur Heiligsprechung, heute in die Psychiatrie. Haschisch bekäme ich heute an jeder Ecke. Dass die jetzige Regierung zaghaft leisetreterische Legalisierungsmaßnahmen ergreift, scheinen einige CSU-Politiker bereits auf eine Stufe mit Kinder-Prostitution zu stellen. Das lächerlich zu finden und meine uneingeschränkte Befürwortung von Abtreibung und Sterbehilfe bewahren mich davor, als konservativ gelten zu müssen.

Noch einmal die Frage: Haben die, für die ihre Religion oder Ideologie eine allgemeingültige Wahrheit bedeutet, ein besseres Leben oder die, die sich aufklärerisch davon befreit haben? Der Wunsch, das Leben – nicht nur für sich selbst, sondern auch für möglichst viele andere – besser zu machen, hat viel bewirkt. Vor allem im heute unter Rechtfertigungsdruck stehenden Westen. Der Drang zur Verbesserung hat den Kapitalismus gebracht, der für das, was Leute wollen, Geld einstreicht, aber auch die Erfindungen, auf denen die globale Welt heute aufbaut. Dass der aufgeklärte Westen sich seit einiger Zeit ständig für alles entschuldigt, ist nobel. Nützlich ist es nicht. Die von den Kolonialisten unterdrückten Völker Afrikas wären heute immer noch ohne Strom und ohne moderne Medizin, wenn die Engländer und Franzosen damals zu Hause geblieben wären. Das ist die Wahrheit. Ob eine Nigerianerin ohne Handy und Kühlschrank glücklicher wäre, ist schwer zu beurteilen.

Das postkolonialistische Getue, das die Israelis verurteilt und die Palästinenser in Schutz nimmt, ist bestenfalls ehrenwert, schlimmstenfalls degeneriert. Die Wahrheit? Die ursprünglich eher atheistische Linke entschuldigt inzwischen Ausschreitungen von Islamisten mit der Begründung, deren religiöse Gefühle seien verletzt worden. Die Wahrheit ist: Gefühle sind nicht ‚religiös‘ und Religion ist nicht in erster Linie gefühlig. Der Philosoph und Theologe Viktor Weichbold fragt, wie man wohl ein religiöses Gefühl von einem moralischen oder ästhetischen Gefühl unterscheiden will und ob es wohl auch ein ‚politisches‘ oder ein ‚ökonomisches‘ Gefühl gäbe. Gefühle sind keine religiösen Elemente, sondern austauschbare Beimischungen zum religiösen Erleben.

Die Wahrheit der Gläubigen ist natürlich eine andere, aber wir dürfen nicht zulassen, dass die – wovon auch immer – Erleuchteten ihre Wahrheit dem Rest der Welt aufzwingen. Ihr Beleidigtsein haben sie runterzuschlucken.

Die Wirklichkeit war: Elvis Presley und Prinzessin Diana sind gestorben. Die Wahrheit war: Millionen von Menschen vergossen Tränen, als sie die Todesnachricht hörten. Aber sie weinten nicht wegen dieser Personen, die sie ja gar nicht selber kannten, sondern wegen des Symbols, das sie in Elvis und in Diana sahen. Der Unterschied mag spitzfindig klingen, aber er erklärt die Wirkung von Idolen und die Macht, die sie ausüben – manchmal ganz besonders nach ihrem Tod. Wie Jesus. Würde mir auch für Trump gefallen. Möglichst bald.

Wir leben im Zeitalter der Reproduktionen aller Art. Geklonte Organismen, gestreamte Filme und Musiken. Die ständige Verfügbarkeit von Wissen und Kunst: Texte und Bilder als Kopien, die vom Original nicht abweichen. Für die einen wird das Echte dadurch überflüssig, für die anderen wird es gerade jetzt erst besonders wertvoll. Der Freischwinger, auf dem Mies van der Rohe 1926 selbst gesessen hat. Der erste Gartenzwerg, den Fischer von Erlach 1689 fürs Schloss Mirabell entwarf. Oder doch bloß der ‚Topsitz‘-Bürostuhl und der ‚pfeifende Gartenzwerg Peppi‘ von Amazon? Vervielfältigung, Imitation und Fälschung gehen ineinander über. Für Skeptiker ist inzwischen alles in Politik und Medien ‚Fake‘. Manchmal haben sie sogar recht. Die Wahrheit muss immer wieder neu erfunden werden.

Am kommenden Dienstag endet mein Projekt DIE ELF mit dem letzten Beitrag. Darauf ist noch Verlass. Meine guten Wünsche für den weiteren Verlauf des Jahres dagegen müssen Sie mir bereits glauben. Ich hoffe, Sie tun’s!

Ganz herzlich,
Hanno Rinke



Cover mit Material von Shutterstock: Morphart Creation (Gehirn), MoreVector (Hand mit Glas) und aus Privatarchiv H. R. (7)

39 Kommentare zu “Wahrheit

  1. Ich habe mich schon gefragt wann DIE ELF zu Ende gehen würde. Wir sind ja mit den Texten mittlerweile im Heute angekommen.

    1. Ja schade. Ich habe schon befürchtet, dass die Reihe bald endet. Hoffentlich geht es dann bald mit einem anderen Text weiter 😉

    2. Mir hat die Reihe wirklich sehr gefallen. Das Ende der ELF nach den 77er Kapiteln ist natürlich unausweichlich. Ich bin gespannt was danach kommt.

      1. Da schließe ich mich an. Aber wie es oben schon (so ungefähr) geschrieben steht: auf Hanno Rinke ist Verlass.

      1. Die „guten Wünsche für den weiteren Verlauf des Jahres“ klingen nicht unbedingt nach einer Weiterführung der Reihe!

    3. Ich muss ja sagen, so frisch wie gerade, mit der ELF und den Predigten wirkte der Blog lange nicht. Großen Respekt, Herr Rinke. Es scheint, dass da noch viel möglich ist.

    1. Die Wahrheit muss nicht nur immer wieder neu erfunden werden, manchmal wird ja sogar das, was eigentlich fake ist zu einer neuen Wahrheit. Ich denke z.B. an Trump’s „Big Lie“ der verlorenen Präsidentschaftswahl.

      1. Selbst die abgeschlossenen Wirklichkeiten der Vergangenheit werden von Historikern immer weiter auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft. ‚Die Schlafwandler‘. Gerade wieder?

  2. Dieser Unterschied, zwischen dem Tod eines nahestehenden Menschen und dem eines ‚Symbols‘ klingt völlig einleuchtend. Da stirbt dann ja manchmal gefühlt etwas viel Größeres als nur der eigentliche Mensch.

  3. Ich muss ja sagen, dass ich weitaus lieber eine Nacht im Club verbringe als schlaflos im Bett zu liegen und mir den Kopf zu zerbrechen. Meistens bin ich nach so einer Nacht mehr gerädert, als wenn ich einfach durchgemacht hätte.

    1. Das Kopfzerbrechen einzelner hat schon mehrmals die Welt verändert. Im Club sind allenfalls Gläser zerbrochen.

      1. Da ist was dran. Aber ich grübel lieber tagsüber im Café oder im Park. Nachts schläft es sich doch so gut.

      2. Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf, laut Psalm 124, Vers 2. Mir wird nichts geschenkt. Aber vieles angeboten. Um das Angebot beurteilen zu können, muss ich wach sein.

      3. Ich würde mich jedenfalls nicht auf die Geschenke verlassen wollen. Ein bisschen Eigenengagement hat ja noch nie geschadet.

      4. Das Eigenengagement kann in die verkehrte Richtung führen. Mangel an Einsatz führt zu nichts.

  4. Tja, was man im Film sieht, ist ab und zu echter als das wahre Leben. Dafür ist Reality TV wiederum sehr wenig real. Es verschwimmt irgendwie alles ein wenig.

    1. Na das kommt auf die Wahl des Fernsehprogramms an. Reality Tv schaue ich nicht, aber den Unterschied zwischen Film ubd Realität kriege ich noch hin.

      1. Bei Berichterstattungen ist es nicht immer leicht, die Wahrheit von der Meinung des Kommentators zu unterscheiden. Bewusste Täuschungen durch gefälschte Bilder und zurechtgeschnittene Aussagen werden immer häufiger. Man muss nicht mehr RTL2 gucken, um betrogen zu werden.

      2. Ein Glück, dass es hierzulande noch nicht diese Robocalls gibt wie in Amerika. Dass dort Wahlkampfaufrufe von Biden und Trump per KI gefälscht werden, ist schon sehr verstörend.

      3. Dass der Wahlausgang in hohem Maß von Geldgebern beeinflusst wird, ist wirklich verstörend. Wenn ich etwas zu sagen hätte (also nie), wäre Wahlwerbung verboten.

      4. Bei der letzten großen US-Wahl im Jahr 2020 flossen knapp 14 Milliarden Dollar in den Wahlkampf. Die Hälfte davon in das Rennen um die Präsidentschaft, der Rest um die Posten im Senat. Man kann es sich fast nicht vorstellen.

      5. So schlimm ist es hier noch nicht. Aber auch in Deutschland werden mittlerweile zehnstellige Millionenbeträge ausgegeben. Da muss man sich keine Illusionen machen.

      6. Dass eine bestimmte Politik beworben wird wie eine bestimmte Zahnpasta ist offenbar unvermeidlich. Im Einparteienstaat möchten wir auch nicht leben.

  5. Ich frage mich auch, warum Cannabis immer noch nicht legalisiert ist. Schließlich werden in jedem Supermarkt starker Alkohol und Zigaretten verkauft. Die Begründung, dass Cannabis gesundheitsschädlich wäre, greift also nicht so richtig.

  6. Wovor der Staat seine Bürger schützen muss, ist umstritten. Am besten, die Regierung führt nur aus, was Gott befohlen hat. Dann kann man Alkohol verbieten, um Ausschreitungen zu vermeiden, und Frauen die Burka aufzwingen, damit die Männer nicht geil werden.

  7. Oben steht der zugegeben überspitze Satz „Die Wirklichkeit spielt keine Rolle für meine Wahrheit.“ Ich muss die ganze Zeit denken, dass darin viel Wahrheit steckt. Schließlich sind es meist unsere eigenen Erlebnisse, Begegnungen und Gedanken, die „unsere“ Wirklichkeit ausmachen.

    1. Haha, ich musste den Kommentar glatt zweimal lesen. Sie meinten wahrscheinlich unsere Wahrheit, nicht unsere Wirklichkeit?!

      1. Die eigene Wirklichkeit und die eigene Wahrheit sind sich ähnlicher, als es die objektive Wirklichkeit und die objektive Wahrheit wären. Wissenschaftlich ist das allerdings nicht zu beweisen. Einen brauchbaren Maßstab gibt es nicht.

  8. Es gibt ja unterschiedliche Arten des Rausches. In der einen Variante betäubt man sich eher, in der anderen versucht man Wahrheiten zu finden, die einem auch in der anschließenden Nüchternheit noch weiterhelfen. Es besteht ja grundsätzlich immer die Gefahr, dass man sich im Rausch verliert, aber wenn man das nicht tut, dann kann er sehr bereichern. So ist jedenfalls meine Erfahrung. Andere mögen das kritischer sehen.

      1. Man verliert auch Hemmungen und Vorbehalte. Dadurch kann man Neues entdecken. Auch an sich selbst.

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