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Rundbriefe

Meinen – Glauben – Wissen

Liebe Leserinnen und Leser!

Der Mensch ist einmalig. Milliardenfach. Er kann die gemeinschaftliche Arbeit besser organisieren als jedes andere Lebewesen, und dabei ist er auch noch erfinderisch. Die Ameise ist das nicht. Die ist bloß emsig. Der Mensch ist keineswegs das schnellste aller Lebewesen, aber er ist am ausdauerndsten beim Laufen, schon dank seines mittigen Hinterhauptslochs und seines verstärkten Knies. Seine Frau ist nicht ganz so schnell wie er, trotz aller Versuche, den Unterschied der Geschlechter abzustreifen oder zumindest abzustreiten. Tigst Assefa brauchte für den Marathonlauf nur 2 Stunden, 11 Minuten und 53 Sekunden. Sie gilt als Frau. Eliud Kipchoge schaffte es sogar in 2 Stunden, 1 Minute und 9 Sekunden. Er ist nach herkömmlichen Kategorien ein Mann und außerdem tot. Männer leben sowieso kürzer als Frauen, diese Ungerechtigkeit ist noch nicht beseitigt. Er fiel allerdings nicht der Statistik zum Opfer, sondern einem Verkehrsunfall. Das konnte er nicht ahnen. Trotzdem wusste er, dass er sterben würde, irgendwann, denn das ist der größte Unterschied zwischen Mensch und Tier: die Gewissheit des eigenen Todes. Um diese Kränkung auszuhalten, hat der Mensch die Religion erfunden. Sie macht Hoffnung darauf, dass es nachher weitergeht. Gleichzeitig dient die Religion als Richtschnur dafür, wie man sich hier zu verhalten hat, um es später, jenseitig, mal gut zu haben. Der Glaube dient den verunsicherten Beherrschten als willkommene Leitlinie und den gewitzten Regierenden zur Absicherung ihrer Herrschaft. Dabei unterstreicht es die Glaubwürdigkeit ihres Auftretens, wenn sie sich selbst von einer höheren Macht eingesetzt wähnen: von Gottes Gnaden, wie es heißt. Manchmal muss allerdings ein Zentralkomitee zur Legitimation reichen, mehr nicht. In solchen Fällen ist ein wenig Einschüchterung hilfreich.

Sich seines irdischen Todes bewusst zu sein, das ist das eine; den Gedanken daran nach Kräften zu verdrängen, das andere. Sterben – das tun der eigenen Erfahrung nach eigentlich immer bloß die anderen. Englisch: ‚to die‘ – ‚dead‘. Französisch: ‚mourir‘ – ‚mort‘. Italienisch: ‚morire‘ – ‚morto‘. Im Deutschen gibt es für diesen Vorgang sogar ein eigenes Wort. Da töteln die Menschen nicht, nein, sie ‚sterben‘, und das sogar unregelmäßig: kein ‚Sterbte‘, ‚Gesterbt‘, sondern deutsche Helden und Feiglinge starben und sind gestorben. ‚Morden‘, ‚mordete‘, ‚gemordet‘ ist dagegen ganz regelmäßig, ein schwaches Verb. Sagt all das etwas über den deutschen Volkscharakter aus oder ist der sowieso wegen Rassismusverdachts abgeschafft? Rassismusverdacht trifft einen heute ja schnell mal im Kreise weltoffener Linker. Man kann den Ausdruck ‚Schlitzaugen‘ vermeiden, um niemanden zu beleidigen. Größer werden die Augen davon zwar trotzdem nicht, aber weitsichtige Weltbürger wollen keinesfalls anecken und sagen statt ‚Schlitzauge‘ ‚Epikanthus medialis‘, wenn sie sehr gebildet sind, sonst schweigen sie. – Auch schlecht. „Ihr dürft nicht schweigen!“, fordern die Engagierten. Das heißt allerdings immer, wir sollen genau das sagen, was der Schweigeverbieter (und sie erst!) für richtig hält. Unbedarfte reagieren da gelassener und nennen Asiaten ‚Reisfresser‘. – Alles eine Frage der Formulierung. Steht in deinem Zeugnis, du seiest sehr kontaktfreudig, dann heißt das: Du hältst durch dein Geschwätz die anderen von der Arbeit ab.

Der Mensch ist eben nicht nur technisch erfinderisch, sondern auch in seiner Ausdrucksweise. Wenn sich ein Lebensgefühl verändert, verändert sich die Sprache gleich mit. Der umgekehrte Versuch, durch eine veränderte Sprache ein verändertes Lebensgefühl zu erzeugen, ist in vollem Gange, mit ungewissem Ausgang, aber besten Absichten. Manche einfühlsamen Christen wollen Moslems nicht länger mit dem ganzen kapitalistischen Weihnachts- und Osterbrimborium belästigen. In Frankfurt und Köln gibt es stattdessen jetzt Ramadan-Illumination. Ist kulturelle Aneignung nicht verboten? – Offenbar nicht. Genauso wenig entstehen durch die einfühlsame Lichter-Geste Benachteiligungen andersgläubiger Bürger: Eine österliche Hasen- und Eier-Beleuchtung – analog zu den Glühbirnengirlanden spätestens ab Totensonntag –, so etwas war in beiden Städten ohnehin nie geplant, und das Bürgergeld für Asylanten wurde im März auch nicht erhöht. Das engstirnige Argument nationalistischer Populisten, in Saudi-Arabien dürfe es ja nicht mal unsere Kirchen geben, verfängt nicht. Darin, dass wir weltoffen und tolerant sind, besteht ja gerade unser Selbstwertgefühl. So merken wir täglich: Wir sind eben besser als die anderen. Weiter ohnehin. Das Streitthema ‚katholisch oder evangelisch‘, das jahrhundertelang für Mord und Totschlag gesorgt hatte, ist in der Tat ziemlich ausgestanden, wohl auch wegen ökumenischer Schrumpfung beider Konfessionen. Die Frage dagegen, ob jüdisch, islam(ist)isch, christlich oder gar ‚israelisch kontra palästinensisch‘, diese Frage steht nicht bloß immer noch im Raum, nein, sie grölt auch gerade wieder lautstark durch die Straßen. Laut ‚Statista‘ wird die Zahl der Muslime bis 2050 um 73 Prozent wachsen. Gut, dass Köln und Frankfurt schon mal anfangen, sich darauf vorzubereiten.

Die Menschheit kommt ohne Religionen offenbar nicht aus, mit ihnen bisher allerdings auch nicht besonders gut. 84 Prozent der Weltbevölkerung gehören einer Religion an. Statistisch lässt sich belegen: Je unterentwickelter ein Land ist, desto religiöser ist es, die fundamentalistischen Staaten Iran und Saudi-Arabien ausgenommen. Während meiner Pubertät hieß es: „Dumm fickt gut!“. Also, da habe ich mich später immer vehement für das Gegenteil eingesetzt; aber ‚arm betet gut‘, das würde ich stehen lassen. Auch bei ‚dumm‘ hätte ich nur den Einwand, dass man heute ‚bildungsfern‘ sagt.

Im globalen Westen hat ein Wertewandel stattgefunden: Früher sollten die Menschen einigermaßen fromm leben, um rasch in den Himmel zu kommen, heute wollen sie möglichst gesund leben, um die ungewisse nächste Station des Da- oder Irgendwo- oder gar Nirgendwo-Seins möglichst lange hinauszuzögern. Das klappt womöglich eine ganze Weile, doch nicht endlos; denn alles Sein läuft auf eine Lösung hinaus. Wenn die Lösung eines Problems der Tod ist, und es ist nicht der eigene, nennt man es Mord. Ist es aber der eigene, findet zumindest eine Loslösung statt: vom Leben. Vielleicht ist es sogar eine Erlösung, auch dann, wenn anschließend gar nichts mehr stattfindet – immer noch besser als die Hölle als Endlösung.

Auf dem Weg ins Jenseits ist der Glaube deutlich hilfreicher als die Angst, das ist ja klar. Mutiger ist er logischerweise nicht. Glauben heißt: nicht wissen können und deshalb nicht wissen wollen. Den Glauben, den man nicht teilt, zu respektieren ist nobel. Aber auch respektlose Karikaturen muss eine betroffene Gruppe in liberalen Gesellschaften aushalten. Die Worthülse vom ‚Respekt‘, die Kanzler Scholz gern bemüht, mit wirklichem Leben zu füllen, das wäre eine Aufgabe, die als Osterbotschaft taugt. Aber weder in der Politik noch in der Talkshow noch auf der Straße ist viel davon zu merken. Immerhin werden wir bald die Lieferketten unserer Eier und T-Shirts zurückverfolgen können. Produkte, die durch Ausbeutung entstanden sind, müssen dann außerhalb der EU verkauft werden. Gut gemeint ist nicht gut gemacht, und doch ist es ein Anfang. Denn was soll sonst werden aus unserer Erde?

Theoretisch bin ich ja für Härte, damit die Welt etwas mehr so wird, wie ich sie haben will: Härte zugunsten der Ukraine, Härte gegen die Hamas. Nur praktisch brauche ich eben nichts anderes zu tun, als eine Meinung zu haben. Das reicht wohl nicht aus, um die Welt zu retten.

Zuversicht wünsche ich uns, Tatendrang auch, aber nur, wenn die Richtung stimmt. Sonst lieber die KI machen lassen. Und da, wo der Glaube versagt, soll immer noch die Hoffnung bleiben: Sie ist ein guter Grund für unsere Auferstehung. Jeden Morgen.

Guten Tag! Gutes Jahr! Gutes Leben!

Hanno Rinke

Ostern 2024

Cover mit Material von Shutterstock: Morphart Creation (Gehirn), MoreVector (Hand mit Glas) und aus Privatarchiv H. R. (7)

54 Kommentare zu “Meinen – Glauben – Wissen

  1. Was für eine Überraschung an Ostern von Ihnen zu lesen! Man fragt sich bei dem Fest doch sowieso, wie viel vom eigentlichen Anlass noch übrig ist. Schokohasen und gefärbte Eier sehe ich seit Wochen. Von der Kreuzigung oder Auferstehung Jesu habe ich, vielleicht zum Glück, so gut wie nichts gehört. Ein Frohes Osterfest wünsche ich Ihnen trotzdem.

      1. Früher habe ich wie verrückt rumgeschmückt. In diesem Jahr mache ich gar nichts. Aber eigentlich waren mir die bunten Eier im Korb früher lieber als jetzt die schwarzweißen Schuldzuweisungen im Netz.

  2. Der Mensch ist in der Evolutionsgeschichte sicher einmalig. Klar. Als Individuen nehmen wir uns aber trotzdem viel zu wichtig. Da sind die angestrebten Veränderungen von links sehr gut gemeint, aber sie machen uns auch übersensibel und ignorant. Das eigene Empfinden steht oft über allem. Einfühlungsvermögen gegenüber den Andereb kommt hingegen kurz 🤷🏻‍♂️

      1. Das glaube ich nicht. Ich würde sagen man kommt am besten durchs Leben wenn man weder sich selbst noch die anderen allzu wichtig nimmt. Jedenfalls braucht es dann auch die Religion nicht.

      2. Die Instagram-Generation nimmt sich wahnsinnig wichtig. Das würde ich unterstreichen. Bei allen anderen sehe ich nicht, dass sich da etwas verändern würde.

  3. Ich muss sagen, dass ich in den meisten Punkten mit Ihnen übereinstimme, Herr Rinke. Und theoretisch wäre ich auch für Härte. Denn wenn alle ein wenig mitreden dürfen kommt meistens dasselbe heraus als wenn zu viele Köche am Werk sind. Aber Demokratie funktioniert eben mur wenn man sie konsequent verfolgt.

    1. Israel versucht es gerade mit Härte. Über das Ergebnis kann man sich sehr offensichtlich wunderbar streiten.

      1. Die Streifen-Bevölkerung hat die Hamas zumindest gewähren lassen wie die Deutschen einst Hitler. Dresden und Gaza sind das Ergebnis.

  4. „Wenn sich ein Lebensgefühl verändert, verändert sich die Sprache gleich mit.“
    So macht das sicher Sinn. Aber was passiert, wenn man die Sprache übereifrig und fast gewaltsam verändert? Dann ändert sich das Lebensgefühl möglicherweise wieder in eine Richtung, die man eigentlich schon abgehakt hatte. Ich sehe manchen Versuch da durchaus kritisch.

    1. Die Progressiven schießen ohne Frage oft über das Ziel hinaus. Aber man kann sich auch nicht die ganze Zeit zurück lehnen und abwarten. Wer verändern will macht mitunter Fehler, aber wer nut gemütlich abwartet, der wundert sich irgendwann, wenn er in einer Gesellschaft lebt, die er so nicht haben wollte.

      1. Wer nicht verändern will, macht auch Fehler, wenn er nicht eingreift: um zu bewahren. Und später lebt er in einer Gesellschaft, die ihn nicht haben will.

  5. Herr Rinke, wie immer ist es schön ein Lebenszeichen von Ihnen zu lesen. Ich wünsche Ihnen ein schönes Osterfest und uns allen eine nicht ganz so düstere Zukunft, wie sie gerade scheint.

    1. Früher nannte man es ‚Schwierigkeiten‘, heute heißt es immer nur ‚Herausforderungen‘. Heikle Situationen können aber in der Tat dazu führen, dass man gezwungen ist, bessere Lösungen zu finden. In diesem Sinne wünsche ich mir, dass sich unsere Herausforderungen entwickeln.

  6. Ach ja, genau so sieht es aus. „Ihr dürft nicht schweigen“, sagen die Engagierten. Wer allerdings darauf hinweist, dass 32.490 getötete Menschen im Gazastreifen eine Überreaktion des israelischen Militärs ist, der ist Antisemit. Wer hingegen behauptet, Israel habe nach den schrecklichen Anschlägen der Hamas ein Recht sich zu verteidigen, der ist islamfeindlich. Man kann sich also aussuchen, aus welchem Grund man sich am liebsten Vorwürfe machen lässt.

    1. Wenn Deutschland von einem anderen Land angegriffen würde, wenn Geiseln Monate lang verschleppt würden, dann würde es gar keine Diskussion über eine Gegenoffensive geben.

      1. Auch dann würde es bei uns Menschen geben, die Verhältnismäßigkeit anmahen: Man darf wütend sein! Aber nur ein bisschen.

      1. Er denkt also viel mehr als er sagt. Was zeugt von Vorsicht, aber nicht von Respekt.

  7. „Ihr dürft nicht schweigen!“ untergräbt meine Option zur Meinungsfreiheit. Meine privaten Profile muss ich nicht für einen politischen Diskurs öffnen, auch wenn ich es befürworte, dass Standpunkte kommuniziert werden. Doch muss ich mich nicht zu Dingen äussern, die Generationen vor mir nicht lösen konnten – da kann ich bei besten Willen keine hilfreiche Zugabe leisten. Ich halt da lieber meinen Mund und muss mich kein deut schuldig fühlen dabei.

  8. Früher war Schweigen Gold und Reden nur Silber. Heute wird Schweigen als Zustimmung oder Meinungslosigkeit gedeutet.

    1. Die sozialen Medien sind sicher nicht der geeignete Ort um die Konflikte im Mittleren Osten zu lösen. Ein schlechtes Gewissen muss man daher bestimmt nicht haben, nur weil man keine Gazaposts in seinem Profil hat. Die Frage ist, wenn überhaupt, viel eher, ob man im echten Leben auch die Augen vor dem Krieg verschließt.

      1. Wenn ich selbst nicht eingreifen kann, bin ich lieber Vogel Strauss als Lemmig.

      2. Wenn etwas richtig schief läuft, finde ich es durchaus angemessen zu demonstrieren und seine Meinung kundzutun. Es muss sich aber nicht jeder in die Weltpolitik einmischen. Politiker bauen viel Mist und ich bin sicher nicht mit jedem der gleichen Meinung. Aber ich denke doch, dass die sich viel besser mit den Dingen auskennen als wir. Mir fehlen jedenfalls zu viele Hintergrundfakten um laut aufzuschreien. Und ja klar, tote Kinder im Nahen Osten sind ein Unding. Diese Einsicht allein bringt mich der Lösung aber noch nicht näher.

  9. Das ist Wahnsinn und neuzeitiger Populismus, sich in Sekunden für eine Meinung zurechtzubiegen. Das ist einfach nicht möglich. Für eine differenzierte Meinungsbildung benötigt es Zeit und Willen, sich mit kontroversen Einstellungen und Deutungen auseinanderzsetzen. Sich zu belesen, im Vertrauten Standpunkte auszutesten und um anschliessend – vielleicht und wenn überhaupt – die eigene Meinung kund zu tun. Kein Wunder, dass meine Kinder hier klare Anzeichen von Überforderung zeigen und schlichtweg alles und nahezu jede Meinung teilen ohne sich dabei klar Gedanken zu machen, worum es eigentlich geht. Der Glaube, dass die heranwachsende Generation das noch sinnstiffend für die nächsten Generationen geradebiegen kann, schwindet.

    1. Die meisten machen sich die Gedanken nicht. Und das ist unabhängig davon ob auf Facebook oder Instagram Solidarität bekundet wird.

      1. Sich auseinanderzusetzen, bevor man sich eine Meinung bildet, das taten schon immer nur wenige. Die meisten setzen sich lieber zusammen: mit denen, die ihrer Meinung sind.

      1. Es ist für Gleichgesinnte (gleich dumme) vor allem viel leichter sich zu finden. Gemeinsam aufregen ist ja noch doller als alleine seine Meinung in die Welt zu schreien.

    1. Die Menschheit ist nicht die tollste. Man kann sich nur damit abfinden. Wenn man es trotzdem schafft seine Umwelt win bisschen besser zu gestalten, dann ist das schon viel erreicht.

  10. Ich wünsche mir ja immer, dass die Welt sich endlich mal dahingehend entwickelt, dass sie ohne Religionen auskommt. Es wäre doch langsam mal Zeit.

    1. Wird nicht passieren. Die selbst verschuldete Unmündigkeit ist bequemer, aber auch für willkommene Feindbilder unerlässlich.

      1. Die Dummheit macht dem auch einen Strich durch die Rechnung. Es wird immer zu viele geben, die ohne Gott nicht auskommen.

      2. Ich habe auch immer noch nicht begriffen, ob hinter der Gläubigkeit dummes Nachplappern häufiger steckt oder tiefere Einsicht.

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