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DIE ELF  —   1. Kapitel: MINUS ELF

#1.2 | Begehrliche Blicke als Straftatbestand

Zuerst haben die Zweibeiner auch nicht viel schlimmer gewütet als später die Heuschrecken, nicht mal, als Homo erectus schon das Feuer nutzte, um andere Geschöpfe zu braten oder zu verscheuchen. Aber nach und nach haben die Menschen ihr Potenzial potenzartig gesteigert, sodass wir heute da sind, wo wir sind. Noch verheerenderen Einfluss nahmen nur die Cyanobakterien.

Die fingen vor rund 2,4 Milliarden Jahren1 an, die Atmosphäre mit Sauerstoff anzureichern. Die Folge: Alle Einzeller von damals starben aus. Unser Aufstieg begann. Das führt uns zum Jahr 1935.

Da wurde im Deutschen Reich das ‚Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre‘ erlassen. Sex zwischen Juden und Nichtjuden – verboten! Heiraten erst recht: ‚Rassenschande‘. Schwule Männer waren ‚Sittlichkeitsverbrecher‘, die im Zuchthaus und im KZ gemaßregelt wurden. ‚Begehrliche Blicke‘ reichten aus für die Strafverfolgung. Alles keine Gründe für mich, mir eine Geburt zu wünschen. Bis heute hätte ich gern darauf verzichtet, auf die Welt zu kommen. Obwohl: Die Situation war ja dann, elf Jahre später, eine völlig andere, vor allem in meiner Geburtsstadt Berlin. Und ja, ich hatte es immer sehr viel besser als andere Menschen. Ich beklage mich auch nicht, aber nörgeln, das wird man doch wohl noch dürfen?!

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Guntram, mein Vater, war 1935 ganz zufrieden. Noch. Beziehungsweise wieder. Mit sechzehn war er sitzen geblieben. – Kein Wunder: Die Mutter war mit ihm rumgezogen, als Empfangsdame in Hotels. Das wäre ihr nicht mal im Traum eingefallen, als sie Reinhold, den ‚schönsten Leutnant Berlins‘, 1899 geheiratet hatte. (Diese Aussage wurde später angezweifelt, auch von mir, anhand der spärlichen Fotos.) Sie war Bierbrauerstocher und ‚eine gute Partie‘ gewesen. Für ihn war die weniger gute Party 1918 zu Ende. Der Krieg war vorbei. Deutschland war geschlagen. Alle bekamen es zu spüren. Übel genommen wurde es nur wenigen, und wie so oft denen, die den Schlamassel gar nicht angerichtet hatten. Von Reinholds Pension als Oberstleutnant musste die Familie mit vier Söhnen und seiner wegen Reizlosigkeit unverheiratbaren und deshalb als Haushaltshilfe geduldeten Schwester in den Zwanzigerjahren leben. – Schwierig. Der bornierte, untüchtige Vater tobte wegen Guntrams schulischem ‚Versagen‘, mehr fiel ihm nicht ein. Die Mutter war gewitzter: Sie verschaffte Guntram eine Lehrlingsstelle bei den Kokswerken. Auftreten hatte sie, schön war sie auch, und sie kannte den Generaldirektor der Kokswerke vom Tennisplatz her. Sage mir deine Adresse, und ich sage dir, wer du bist. In diesem Fall: Lankwitz, damals großbürgerlicher Berliner Westen. (Meine Mutter hat meine Laufbahn später ähnlich beeinflusst.)

Mit zwanzig war Guntram damals noch nicht volljährig, hatte aber schon Prokura, betonte er später. Seit dem Röhm-Putsch waren ihm die Nazis, die ‚ihre eigenen Kameraden‘ umgebracht hatten, suspekt, betonte er später ebenfalls. Aber: Mit der Wirtschaft ging es aufwärts, mit Guntrams Gehalt auch. 1935 war er fünfundzwanzig, da hatte er schon einen feschen Wagen, mit dem er seinen Eltern zeigen konnte, was eine Harke ist, also: wie man Karriere macht.

Foto: Privatarchiv H. R.

Meine Mutter Irena war damals fünfzehn. Sie lebte mit ihrer alleinerziehenden Mutter in Danzigs Vorort Zoppot, ging aufs polnische Gymnasium und hatte ihren jüdischen Vater nie kennengelernt. Sie hörte Hitler im Radio und fand die Stimme, die da dröhnte, schrecklich. Noch war Danzig Freistaat, aber der deutsche Gauleiter Albert Forster machte schon klar, wo es langgehen würde. Über Juden sagte er: „[…] Es fällt ihnen gar nicht ein, einem Deutschen auf dem Gehweg auszuweichen. Sie glotzen vielmehr mit einer unbeschreiblichen jüdischen Frechheit unsere deutschen Volksgenossen an, als wollten sie damit sagen, dass diese deutschen Volksgenossen ihre Knechte wären. In den Sommermonaten ist es gerade das Ostseebad Zoppot gewesen, das von allen möglichen Judentypen überlaufen war. Wohin man in Zoppot kam, ob im Bad oder auf der Straße oder im Hotel oder in einem Gasthaus, man war nirgends von dieser dreckigen und schmierigen Rasse sicher. Sie haben sich in verschiedenen Lokalen Zoppots eingenistet wie die Wanzen. […]“2

2 Quelle: Dieter Schenk: ‚Strukturen eines Gauleiters am Beispiel Albert Forsters, Reichsgau Danzig-Westpreußen‘, DOCPLAYER

Wer will unter solchen Voraussetzungen bei einem polnisch-jüdischen Backfisch später mal schwules Baby werden? Aber leider: Fragen sind nicht zugelassen.

Fotos (2): Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Material aus dem Privatarchiv H. R. sowie von Shutterstock: Alexander_P (Menorah), Morphart Creation (Embryo), MoreVector (Kerze)

Fortsetzung folgt am Dienstag, 21.11.2023

37 Kommentare zu “#1.2 | Begehrliche Blicke als Straftatbestand

    1. Wenn das tatsächlich der Wagen sein sollte, den Guntram mit 25 Jahren bekommen hat, dann wäre ich ebenfalls beeindruckt.

      1. Vom kommerziellen Talent meines Vaters oder von dessen Prestige-Bewusstsein?

      2. Sowohl als auch, nicht?! Der Wagen ist klasse. Und mit fünfundzwanzig ist das auch eine respektable Leistung.

    1. Man kann die Entwicklungen unserer Zeit ja sehen wie man will, aber auf der Stelle treten tun wir sicher nicht.

  1. Ich finde man darf schon über sein eigenes Leben nörgeln. Es geht ja nicht darum wer es besser hat etc. Klar ist man auch dankbar. Aber trotzdem hat ja jeder Dinge, die ihn nerven. Sachen, die schief laufen usw.

    1. Nörgelei hat einen extrem schlechten Ruf. Entweder man beschwert sich lautstark und verlangt sofortige Maßnahmen oder man hält die Klappe.

      1. Und wer in den Sozialen Medien den Mund aufmacht, der passt besser auf, dass er nicht 17 Jahre später wegen dieser unbedachten Bemerkung seinen Job verliert.

      2. Da ist was wahres dran. Wenn man kein A**** ist, dann hat man da meistens auch keine Probleme, aber die Suche nach Fehlern der Vergangenheit ist manchmal ziemlich albern.

      3. Wer sich nicht ständig anpasst, ist unflexibel. Wer immer gleich bleibt, ist rückständig. Man hat die Wahl, als was man sich lieber beschimpfen lässt.

      4. Man darf halt nicht in seinem Denken einfrieren. Für Äußerungen, die man früher mal gedacht und gemacht hat, braucht man sich meiner Meinung nach trotzdem nicht schämen.

  2. Schwule Männer waren ‚Sittlichkeitsverbrecher‘ – und gerade lese ich: die russische Regierung hat ein Verbot der LGBTQ- Bewegung beantragt. Wegen Extremismus. History repeats itself.

    1. Geschichte kann sich nicht wiederholen, weil nie mehr dieselben Umstände herrschen. Aber Parallelen gibt es durchaus. Wer die Geschichte nicht kennt, kann nicht aus ihr lernen. Aber selbst wer sie kennt, kann die verkehrten Schlüsse aus der Vergangenheit ziehen: Marx, Hitler, Putin. Schwierig!

      1. Na und die machtgierigen unter uns, die ziehen aus ihrer Sicht ja auch die richtigen Schlüsse. Deshalb wiederholen sich bestimmt Muster halt doch ab und zu.

    1. Putin schafft das schon. Zumindest oberflächlich. Anderssein generell zu verbieten geht natürlich nicht langfristig.

      1. Es gibt immer eine Underground-Bewegung. Selbst in Ländern, in denen Homosexualität verboten ist. Das sollte selbst Putin mittlerweile wissen.

      2. Eine Bewegung kann man in autoritären Staaten leicht, in Demokratien weniger leicht verbieten. Eigenschaften zu verbieten ist dagegen schwierig. Heterosexuell oder intelligent kann man auch dann nicht werden, weil es einem befohlen wird.

  3. 2023 will man immerhin lieber ein schwules Baby werden als noch vor 50 Jahren. Schon toll, dass die Gesellschaft hier so einen großen Schritt nach Vorne gemacht hat.

    1. Keine Frage! Dafür ist es umso erstaunlicher, dass es immer noch, oder wieder, Länder gibt, in denen die Zeit zurückgeschraubt werden soll. Genau, wie wenn man sich den Streit um Abtreibung in den USA anschaut.

      1. Das ist wirklich eine unglaubliche Sache. Immerhin kassieren die Republikaner in allen Zwischenwahlen die Rechnung für diesen Schritt. Trotzdem klingt es nach einer Sache, vor der auch unsere AfD nicht unbedingt zurückschrecken würde. Dann wären wir bald wieder gefährlich nah am ‚Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre‘. Siehe oben.

      2. Inzucht ist doch viel unbekömmlicher als ein gut gemischer Gen-Cocktail. Die Natur (auch ‚Evolution‘ oder ‚Vorhersehung‘ genannt) liebt die Kreuzung von Arten, um sich weiterzuentwickeln.

      3. Dieses Abschotten nach allen Seiten, das ist doch immer nur Angst. Und natürlich eine Machtfrage für unsere Leader. Leider.

  4. Ich wundere mich bei Ihrem spannenden Leben ja doch immer wieder, dass Sie es auch gar nicht so schlimm gefunden hätten, wenn Sie diese Dinge nicht alle erlebt hätten. Aber da spielt sicher auch immer ein wenig Koketterie mit.

  5. „Dinge vorher erlebt zu haben, ist hilfreich, wenn man sie später beschreiben will“, tröste ich mich immer in grässlichen Situationen. Nicht geboren zu sein, finde ich eine Option. Ein ereignisloses Leben zu führen, ist keine. Kokett bin ich durchaus, in dieser Hinsicht aber gerade mal nicht.

    1. Das heißt dann in einem ja auch: über Dinge, von denen man keine Ahnung hat, sollte man sich lieber nicht äußern.

      Damit meine ich selbstverständlich nicht Sie, Herr Rinke, sondern eine Menge Facebookfreunde.

      1. Auch ich sollte mich nicht über Dinge äußern, von denen ich keine Ahnung habe.

      2. Hahaha 😆 Guter Punkt. Haben Sie da Grund sich schuldig zu bekennen? Sie scheinen mir bei aller Schärfe der Texte doch recht sorgfältig in Ihrer Wortwahl.

  6. Bei der Stelle mit dem überlaufenden Ostseebad, da musste ich gleich an die teilweise recht dummen Bemerkungen zu muslimischen Jugendlichen in den Berliner Freibädern denken.

    1. Es gab da ja, soweit ich das anhand der Nachrichten beurteilen kann, tatsächlich einige Zwischenfälle. Die Bäder waren ja nicht umsonst eine Weile geschlossen. Das hat aber zugegebenermaßen wohl weniger mit dem Islam als mit ungezogenen Jungs zu tun.

      1. ‚Die Deeskalierer aus der Sehitlik-Moschee sprechen „doch eher die türkischen Jugendlichen an“. Deshalb wäre es gut, wenn auch jemand aus der arabischen Community beruhigend auf die hochgeputschten Jugendlichen einwirken könne.‘ ‚Der Tagesspiegel‘
        Da muss man schon differenzieren beim Abwiegeln.

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