Teilen:

2411
DIE ELF 3. Kapitel: PLUS ELF

#3.1 | Was normal ist und was nicht

An den Geburtstag selbst erinnere ich mich nicht. Später habe ich mich gern als Außenseiter stilisiert, weil ich keine Tore schießen konnte. Noch heute träume ich, dass ich nach dem Ball trete und ihn nicht treffe. Richtig ist: Auf der Grundschule war ich bei den Mädchen beliebter gewesen als bei den Jungen. Zu meinen Nachbarinnen im Doppelhaus hatte ich ein inniges Verhältnis. Einen jeweils besten Freund hatte ich aber auch die ganze Zeit über, und an meinen Geburtstagen saßen immer genügend Gleichaltrige vor Kakao und Obsttorte, um mich als vollgültiges Mitglied der Kinder-Gesellschaft auszuweisen.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Mit fünf schickte mich meine Mutter in die Schule. Damals, nach dem Krieg, dachte man, Kinder sollten möglichst lange vom Leben und vom Lernen verschont bleiben. Irene dachte das nicht. Als wir 1953 von Berlin nach Hamburg zogen, sagte die Schuldirektorin zu meiner Mutter: „Wir hätten ihn hier nicht eingeschult, aber wo es nun mal so ist, können wir es ja versuchen.“ Bis zum Abitur blieb ich der Klassenjüngste.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Irene fühlte sich in Hamburg wohler als im eingeschlossenen Westberlin, aber so enge Freundschaften wie vorher schlossen meine Eltern nicht mehr. Mit der Hamburger Gesellschaft wurden sie nie richtig vertraut. Mich hatten die Ruinen im Berliner Grunewald sehr viel mehr beeindruckt als die adretten Einfamilienhäuser in Othmarschen, aber Guntram machte weiter Karriere, und ich wurde nicht gefragt, natürlich nicht. Entscheidungen treffen zu können, erfordert Kenntnisse. Wenn Entscheidungsmöglichkeiten Menschen angedient werden, die keine Kompetenz haben, dann ist der Ausgang ungewiss. Deshalb hat der real existierende Sozialismus seine Wahlen lieber fingiert. Man konnte dem Volk nicht trauen, schon Lenin tat das nicht. Ist aber trotzdem schiefgegangen mit seinen Vorgaben. Hoffentlich blüht den westlichen Demokratien nicht dasselbe Schicksal, wenn sie nicht nur ab 16 wählen lassen, sondern das Ergebnis auch noch respektieren.

Dass meine Mutter sich in den Hamburger ‚besseren Kreisen‘ fremd fühlte, lag wohl an deren unerschütterlich zuversichtlichem Weltbild – und deren Ahnungslosigkeit. Als ich erwachsen war, erzählte Irene von einem Gespräch, das zehn Jahre zuvor auf einem ‚geselligen Beisammensein‘ stattgefunden hatte: Schlips und Kragen, Cocktailkleid, Canapés, Moselwein. Die Herren erwähnten, leicht angeheitert, dass sie ja leider den Drang hätten, auch nach der Hochzeit noch anderen weiblichen Wesen nachzuschauen. Das sei normal. Frauen dagegen hätten keinen derartigen Drang. Wenn doch, sei das krankhaft. Mit der Ehe sei das weibliche Sexualleben geregelt. Die Damen stimmten dem zu. Irene wunderte sich und hielt den Mund. Ein Widerspruch hätte ihr keine Lorbeeren eingetragen, und der Krieg hatte sie das Schweigen gelehrt.

Foto: Privatarchiv H. R.

An einem Elternabend 1959 war sie weniger zimperlich gewesen. Unser Klassenlehrer kam auf ein heikles Thema zu sprechen. Ihm schwante, man müsse die Jungen nun sexuell aufklären. Einige Mütter widersprachen. „Für Frank ist das zu früh!“, war sich Frau Leonhardt sicher. Irene, als Mutter des Jüngsten in der Klasse, fand die Diskussion lächerlich. „Für Schüler, bei denen Kin Ping Meh kursiert, kommt ein Aufklärungsversuch etwas spät“, sagte sie. Die Eltern waren entgeistert. Das Buch galt als hochpornografisch.

Am nächsten Tag machten mir meine Klassenkameraden Vorwürfe wegen meiner Petzerei. Wir hatten das Buch auch zu Hause, in die Schule mitgebracht hatte ich es nicht, aber wohl meinen Eltern ganz unbefangen davon erzählt, dass andere es taten. Nun war ich ein wenig schuldbewusst, aber erst recht geschmeichelt, weil mir die anderen erzählten, dass ihre Eltern mich jetzt für das Stück Dreck hielten, das den Rest der Klasse mit Zoten versorgt. Den Spruch ‚Ich bin am Ort das größte Schwein und lass mich nur mit Juden ein!‘ kannte ich schon aus dem Zeitgeschichtsbuch, das ich immer gern durchblätterte, wenn ich krank im Bett lag. Ich wusste auch, dass das Plakat inzwischen nicht mehr gegen die Beschuldigten sprach, sondern gegen die Denunzianten.

Foto links: Urheber: Anonym/Wikimedia Commons, gemeinfrei/US public domain | Foto rechts: Privatarchiv H. R.

Frau Leonhardt, eine ehrbare Reeders-Gattin aus Blankenese, lernte ich erst ein paar Jahre später auf der Silvesterparty ihres Sohnes kennen. Ihr unaufgeklärter Frank hatte bereits zu Kin-Ping-Meh-Zeiten genüsslich unter der Schulbank onaniert, aber das ging seine eigentümlich hausbackene, aber sehr nette Mutter wohl nichts an, und deshalb schwieg ich darüber in den letzten Stunden des Jahres 1965 bedachtsam: die Taktik meiner Mutter. Auch fürs gesellschaftliche Überleben ist es manchmal klug, sein Wissen für sich zu behalten. Und manchmal bedeutet es den Sieg, sein Wissen auszuspielen. Man darf das bloß nicht verwechseln.

Fotos (2): Privatarchiv H. R. | Titelbild mit Material von Travel Drawn/Shutterstock (Skyline Hamburg) und aus Privatarchiv H. R. (3)

Fortsetzung folgt am Dienstag, 28.11.2023

40 Kommentare zu “#3.1 | Was normal ist und was nicht

  1. In den ersten Schuljahren war ich auch eher bei den Mädchen beliebt. Erst in der Oberstufe relativierte sich dies. Man kann durchaus unterschiedlicher Meinung sein, ob das eine gute oder schlechte Entwicklung war.

    1. Bei mir war es so, dass ich unter meiner Außenseiterrolle in der Schule gelitten habe. Mittlerweile sehe ich aber die Bilder der Klassentreffen auf Facebook und könnte nicht froher sein, dass ich nicht „dazu“ gehört habe. Im Nachhinein gibt es wirklich wenig beneidenswertes an den Kleinstadtkarrieren meiner ehemaligen Mitschüler.

    2. Zu meiner Schulzeit gab es ja keine Koedukation. Das fand ich schade, wuchs aber so eng mit unseren Nachbarstöchtern auf, dass ich die Tanzveranstaltungen mit den Primanerinnen in der Oberstufe nicht brauchte, um zu wissen, wie Mädels ticken.

      1. Ein separates Unterrichten von Jungen und Mädchen kann ich mir gar nicht vorstellen. Das richtet doch sicher mehr Schaden an als dass es irgendeinen Nutzen haben könnte.

  2. Wirklich? Unter der Schulbank onanieren … das kenne ich nur aus der Aufklärungsseite der Bravo. Ich habe noch nie gehört, dass das tatsächlich mal jemand gemacht hätte.

    1. Man braucht ja heute auch keine Bücher oder Heftchen mehr dazu. Mit dem Smartphone kann mal jederzeit und überall seine Pornoseiten aufrufen. Auch als neugieriger Grundschüler.

      1. Damals war es wohl weniger sexueller Notstand als der Wunsch, seinen Klassenkameraden zu imponieren.

  3. Die engagierten 16-jährigen Wähler machen mir nicht soviel Angst, wie die von der Politik enttäuschten Älteren. In Amerika waren es ja auch nicht die Jungwähler, die Trump gewählt haben. Im Gegenteil.

    1. da ist was dran. man vergrault die jungen nur schnell wieder. siehe eben auch wieder amerika. biden könnte laut polls verlieren. und zwar hauptsächlich weil die jungen demokraten wahlfaul zu sein scheinen.

      1. Mich wundert immer, dass die Leute dort die Gefahr einer erneuten Trump-Präsidentschaft unterschätzen. Abtreiben darf man ja schon nicht mehr. Was kommt als nächstes?

      2. Ein großer Teil der Bevölkerung mag Trumps Nationalismus doch. Wer nicht schwul, schwarz oder Frau ist, macht sich jedenfalls keine großen Sorgen.

      3. Spätestens in dem Moment, in dem man merkt, dass etablierte Rechte auf einmal weggenommen werden, sollte man doch Warnung genug haben.

      4. Wenn es um Rechten geht, von denen man keinen Gebrauch machen will, ist es den meisten Wählern doch egal. Außerdem apropos Schwule, Schwarze, Frauen:
        Peter Boykin ist der Gründer von „Gays for Trump“. Trump mit Regenbogenfahne ist mit einem Click zu googlen.
        „Black Voters Drift to Trump“ (New York Times)
        „Women For Trump“ ist auf instagram zu besichtigen.

      5. Die ‚Blacks for Trump‘ Bewegung habe ich auch noch nie verstanden. Haben die seine ausländerfeindlichen Reden nie gesehen?

      6. Viele Menschen sind ja sehr grundsätzlich von der Politik enttäuscht. Warum sich das gerade im Moment so durchschlagend zeigt, weiss ich auch nicht so richtig. Aber da kommt dann jeder(r) gelegen, der die Mainstream-Politiker und das politische System mal so richtig durchrüttelt. Das kann man bei Trump, Johnson, Wilders etc. gleichermaßen beobachten.

      7. Vielleicht sind sie von ihrem veränderten Leben enttäuscht. Dann ist es angenehmer, das der Politik – also ‚den Eliten‘ – in die Schuhe zu schieben als sich selbst verantwortlich zu fühlen.

      1. Hahaha, interessante Frage. Den Zusammenhang könnte man ja tatsächlich sehen.

      2. Ja. Zwar nicht, um etwas zu verändern, aber um den Zustand willig zu ertragen.

  4. Von Kin Ping Meh hatte ich noch nie was gehört, aber das klingt doch frohlockend:

    Der chinesische Kaufmann Hsi Men liebt den Luxus, den Exzess, alle Freuden der körperlichen Liebe – und ganz besonders die Frauen. Das bringt ihm nicht nur Lust, sondern auch seinen völligen Niedergang.

    Denn seine fünfte Frau Pan Jinlian, auch Goldener Lotus genannt, versucht, die Kontrolle über seinen gesamten Haushalt inklusive vier weiterer Ehefrauen und einigen Konkubinen zu erlangen und zieht dafür alle Register der Verführungskraft …

    Ein sinnlicher Klassiker der Weltliteratur, der nach seinem Erscheinen im 16. Jahrhundert fast sofort auf dem Index der verbotenen Schriften gesetzt wurde, sich seitdem aber ununterbrochen einer großen, weltweiten Leserschaft erfreute und auch heute, 600 Jahre später, nichts von seiner erotischen Strahlkraft und prallen Lebenslust verloren hat.

    1. Wir haben aus Kin Ping Meh immer gern „das der Lotosgrotte vorgewölbte Buschwerk“ zitiert, das sich modebewusste Frauen heute ja gern wegrasieren lassen. Xi Jinpings Gattin auch?

      1. Hmmm, ich kenne das Buch auch nicht. Das war zu meiner Zeit scheinbar nicht mehr angesagt. Ich erinnere mich aber noch daran, wie einer meiner Mitschüler mal ein ähnlich verruchtes Heftchen in die Schule mitgebracht hat. Es war eine aufregende Pausenstunde.

      2. Gemeinsame Veruchtheit ist ein beliebter Kitt. Etwas nicht so geil zu finden wie die anderen, schließt aus. Das behält man besser für sich.

  5. Es ist ja kein schlechter Wunsch, die Kinder so lange es geht Kinder sein zu lassen und vor der Welt zu schützen. Aber ab einem gewissen Zeitpunkt wird das natürlich naiv. Auch was auf dem Schulhof passiert, ist die echte Welt. Auch dort bleibt nicht alles unschuldig.

  6. Kinder zum Schutz nichts lernen zu lassen, ist besonders verbreitet unter Eltern, die noch glauben, Gott hätte die Welt in sechs Tagen erschaffen, und wer vom Baum der Erkenntnis nascht, fliegt aus dem Paradies.

    1. Das macht ja auch Sinn. Ansonsten würden die Kinder ja wohlmöglich merken, dass die Bibel (oder welch anderer Text auch immer) doch nicht wörtlich zu nehmen ist. Man will den Glauben ja so lange einbläuen bis eine Abkehr nur noch sehr unwahrscheinlich ist.

      1. Ich musste gleich an einige Netflix-Docs über Sekten und deren ehemalige Mitglieder bzw. deren Kinder denken. So ein Clash der unterschiedlichen Realitäten muss unglaublich schwierig sein.

      2. Gerade jetzt wieder, angesichts der Ukraine und Gaza, frage ich mich, ob man jedem alles einreden kann, wenn man früh genug anfängt und genügend Druck ausübt.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

neun + sechzehn =