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DIE ELF  —   3. Kapitel: PLUS ELF

#3.3 | Acht Kostbarkeiten statt Gefängnis

Damals werde ich die Jahre wohl anders untergliedert haben, aber heute kann ich sie mir am besten daran merken, wie ich die Sommerferien verbrachte. Wo meine Mutter sich ihre Anregungen für die Reisen holte, weiß ich nicht. Für den Aufenthalt in Juan-les-Pins mit meinem Vater vielleicht in der ‚Vogue‘, für die Ferien mit mir sechs Wochen später sicher nicht. Dieser für Gäste nur mäßig geeignete Bauernhof in hoch gelegener, waldiger Einöde kann doch höchstens im Friedhofsblatt inseriert haben. Im Gegensatz zu meiner Mutter konnte ich mit dem Wort ‚Luxus‘ noch nicht viel anfangen und vermisste nichts. Natürlich wurde genau sie vom Floh gebissen. So arbeitet das Schicksal immer, lernte ich später. Gekichert habe ich bloß verstohlen. Das ist mir wohl auch deshalb im Gedächtnis geblieben, weil mir das Unangebrachte meiner Heiterkeit durchaus bewusst war. Damals begann ich zu ahnen, dass ich ein schlechter Mensch war. Aber auch das war etwas, worüber ich besser den Mund hielt.
Das wirklich schlimme Ereignis war in München vermieden worden. Dort hatten wir übernachtet. Von Hamburg aus musste man bis kurz vor Göttingen auf der zweispurigen Landstraße fahren. – Ätzend! Immer hinter Lastwagen. Auf der Autobahn ging es natürlich schneller, aber die führte damals noch über Frankfurt und Stuttgart, ein riesiger Umweg, aber wenn man am ganz frühen Morgen losfuhr, war das in einem Rutsch zu schaffen.

Foto/Symbolbild: Bundesarchiv, Bild 146-1979-096-13A/Unbekannt, CC-BY-SA 3.0

Guntram hatte den ganzen Tag am Steuer gesessen und freute sich auf was Bayerisches. Wir kamen in einem für mich unauffälligen Hotel unter und gingen dann zum Augustiner-Keller. 1957 gab es in der Bundesrepublik noch keine italienischen Lokale aller Qualitätsgrade. Für gehobenes Essen war nach wie vor die französische Küche zuständig, mit teuren Zutaten. Für exotische Abwechslung sorgten chinesische Gaststätten mit mehr oder weniger kantonesischen Speisen. Das fand ich interessant und scharf. Chinesische Lokale hatten durchgehend geöffnet, was mir viel fleißiger vorkam als die limitierten deutschen Öffnungszeiten. (Vielleicht wird das fleißige Volk der Chinesen im Jahr 2050 Europa beherrschen und die 60-Stunden-Woche einführen. Vielleicht arbeiten dann nur noch Roboter.) Wenn einer unserer allwöchentlichen Sonntagsspaziergänge mal durch den Sachsenwald verlief, dann waren wir Berlin wieder vierzig Kilometer näher als in Othmarschen. Da es so gut wie nichts gab, wovor ich keine Angst hatte, fürchtete ich mich ein bisschen davor, dass wir uns verlaufen und in der Ostzone landen würden, also im Gefängnis. Über Jahre. Aber auf dem Rückweg durch die Innenstadt gegen drei Uhr nachmittags steuerten wir eine der chinesischen Möglichkeiten an. Meistens lagen sie im Souterrain: verwinkelte Räume, abenteuerlich dekoriert und riesige Speisekarten mit Gerichten, die so vielversprechend hießen wie ‚Acht Kostbarkeiten‘. Wir bestellten alles Mögliche und aßen durcheinander. Das war lustiger als zu Hause, und den Reis ließ ich natürlich liegen, der schmeckte ja immer nach Kranksein und verdorbenem Magen.

Foto links: Privatarchiv H. R. | Foto rechts: Kiban/Wikimedia Commons, gemeinfrei/public domain (umkoloriert in s/w)

Am Dammtor gab es damals ein Münchner Hofbräuhaus. Dahin gingen wir auch manchmal, im Allgemeinen am frühen Abend. Eigentümlicherweise wurde dort von uns Eisbein gegessen. Dass das preußisch und nicht bayerisch ist, fiel mir damals nicht auf, und ich brauchte das Fett nicht mitzuessen. Ein paar Haare am grauen Glibber machten das tote Schwein nicht appetitlicher. Auch Irene verzichtete auf größere Mengen davon, während Guntram das warme Geschlabber samt Borsten mit reichlich Mostrich genoss.

Im Augustiner-Bräu im Juli 1957 hieß der Mostrich ‚Senf‘ und konnte sogar süß sein. Was wir da aßen, war bestimmt vom Schwein, aber nicht erinnernswert. Viel aufregender war das mächtige Gewitter. Der ‚Keller‘ war gar kein Keller, sondern hieß bloß so. Es ist gut, beizeiten zu lernen, dass Namen nicht immer halten, was sie vorgeben. Manchmal kann das sogar ein Glück sein. Diesmal nicht. Das Glasdach hoch oben brach ein und fiel neben uns runter. – Das war doch mal was! Als wir zum Hotel zurückrannten, versuchte Guntram, ein Taxi zu erwischen. Irene hielt mich an der Hand, mit den Augen sehen konnte man sie nicht, so goss es. Den heranschlitternden Wagen sah Irene also nicht. Sie fiel auf die Fahrbahn, ich mit. Das Auto – na, zumindest fuhr es nicht über uns hinweg. Irene hatte Schürfwunden und eine kaputte Handtasche, ich nichts. Guntram hatte Schuld und bekam Vorwürfe von seiner und von meiner Mutter, warum, war mir nicht klar.

Ich schlief im Zimmer mit meiner Großmutter. Sie trug mir auf, dem lieben Gott gründlich dafür zu danken, dass nichts Schlimmeres passiert war. Ich tat das recht widerwillig. Sicher, nach einem schweren Unfall wäre Kärnten ausgefallen, aber so richtig dankbar wäre ich Gott bloß gewesen, wenn er das störende Auto gleich eine andere Straße entlanggeschickt hätte. Nur, stimmt schon: Dann hätte ich ja gar nichts gemerkt. Wenn ich Gott für jeden Floh, der mich nicht gebissen hat, danken möchte, dann komme ich kaum zu anderen Beschäftigungen, die den Schöpfer vielleicht ebenfalls erfreut hätten. So grübelte ich mich langsam in den Schlaf, während meine fromme Großmutter längst schnarchte.

Foto: NoName_13/pixabay, Inhaltslizenz | Titelbild mit Material von Shutterstock: Epine (Stäbchen mit Nudeln), Vector_Line (Shrimps); aus Privatarchiv H. R. (1) sowie von Kiban/Wikimedia Commons, gemeinfrei/public domain (Hofbräuhaus/umkoloriert in s/w) und Bundesarchiv, Bild 146-1979-096-13A/Unbekannt, CC-BY-SA 3.0 (Autobahn)

Fortsetzung folgt am Dienstag, 05.12.2023

57 Kommentare zu “#3.3 | Acht Kostbarkeiten statt Gefängnis

  1. Ich würde wohl weder ein Auge zumachen, wenn ich grübelnd im Bett, noch wenn eine schnarchende Dame neben mir läge. Mein Schlaf ist mittlerweile noch schlechter als vor ein paar Jahren geworden. Ich lese immer, dass das eine Volkskrankheit unserer Zeit ist. Immerhin ein kleiner Trost, dass ich mich nicht alleine schwer tue.

      1. Früher mochte ich die Sendung sehr gern. Mittlerweile werde ich beim Gedanken an Lanz schon vorher müde.

      2. Dieses Gespann aus Precht und Lanz geht mir schon seit Langem auf den Senkel. Es kommt mir immer so vor, als würde es beiden nur um das eigene Ego gehen. Die eigentlichen Themen stehen selten im Mittelpunkt.

      3. Das eigene Ego in den Vordergrund zu stellen, wie P&L es tun, ist völlig in Ordnung, wenn man damit etwas verkaufen kann. Ein Moderator, also ein Vermittler, darf ruhig auch mal sein Gegenüber zu Wort kommen lassen.

      4. Bei einem geschätzten Vermögen von 10 Millionen Euro sieht es so aus als ob es für Markus Lanz mit dem Verkaufen ganz gut klappt. Bei Precht sieht es sicher auch nicht schlecht aus. Da wird ihm der Ruf unter seinen Mitphilosophen reichlich egal sein.

      5. Wer einen Ruf hat, macht ihn gern zu Geld (ehrlich oder erfinderisch). Wer Geld hat, macht sich gern einen Ruf (gut oder gefürchtet). Beides zu haben ist die Königsdisziplien, beides nicht zu haben die Regel.

      6. Ich tippe darauf, dass Precht mehr und mehr im Fernsehen auftritt, je lauter die Gegenmeinungen von anderen Philosophen sind. Aber das ist nur meine bescheidene Vermutung. Letztlich ist das wohl auch ganz egal. Wer ihn nicht mag, der schaltet nicht ein.

      1. Ja genau. Mir passiert das äußerst selten, aber wenn, dann fange ich in der Regel nur deshalb an über Gott und die Welt nachzudenken, weil ich einfach nicht einschlafe. Andersherum, das kenne ich eigentlich nicht.

      2. Gott und die Welt sind weniger hinderlich am Schlafen als das Hadern mit der eigenen Unzulänglichkeit.

  2. Hmmm, auf der Autobahn geht es mittlerweile gar nicht mehr so schnell. Jedenfalls nicht, wenn es nach den Grünen geht. Und die Berliner Stadtautobahn leidet sowieso immer unter ihrer Auslastung. In der Zeitung stand, dass die Pariser Peripherique demnächst sogar nur noch Tempo 50 erlaubt. Ob das das Klima rettet?

      1. Wenn es sowieso nicht schneller geht, muss man es ja auch nicht vorschreiben.

      2. Die Politik kann so einen Schritt aber dann bestimmt als schönen Erfolg anführen.

  3. Uber Eats (bzw. wird es wohl ein Chinesisches Pendant dazu geben) liefert in China in der Tat schon per Roboter. Ich stelle mir das ziemlich seltsam vor.

    1. Man spart sich dann wenigstens die genervten Kommentare der zugegebenermaßen sehr schlecht bezahlten Fahrer, wenn sie hoch in die vierte Etage kommen sollen.

      1. Ich habe mir angewöhnt runter zur Tür zu laufen. Die Lieferservice-Fahrer werden ja wirklich nahezu ausgebeutet. Die meisten sind sehr dankbar, da schmeckt das Essen besser als wenn alle voneinander angenervt sind.

      2. Ich habe noch nie einen Lieferservice in Anspruch genommen. Ich koche immer selbst, was ich mir bei Amazon fresh bestellt habe …

    1. Richtig. Die Schweinshaxe (ohne Schwarte) finden Sie u.a. in Bayern. Das Eisbein (mit Schwarte) eher im Norden.

  4. Sie machen mir Hunger, Herr Rinke. Vor lauter Home Office, habe ich das kochen vergessen.

    P.S. Auf meinem Handy lese ich gerade, dass George Santos (bis Heute offen schwuler, republikanischer Abgeordneter / früher auch mal brasilianische Dragqueen / mit Großereltern, die zwar nicht jewish waren, aber schon irgendwie Jew-ish / der Kampagnenspenden gerne für sein OnlyFans-Abo und Botoxspritzen verwendet…) von seinen Kollegen aus dem Congress geschmissen wurde. Ich würde zu gerne ihren Take dazu hören. Vielleicht mal in der Sonntagspredigt?

      1. Die Newsstory ist hier meiner Meinung nach vor allem, dass nun 50% der republikanischen Abgeordneten mit der Begründung, dass so ein Lügner nicht im Kongress bleiben dürfe, für den Rauswurf gestimmt haben, während Präsidentschaftskandidat Trump weiterhin mit seiner „Big Lie“ und der angeblich manipulierten Wahl 2020 Wahlkampf macht. Das ist schon ziemlich scheinheilig. Bei einer schwulen „Witzfigur“ kann man schon mal Härte zeigen, wenn es um ihren „Orange Jesus“ und vor allem um dessen große Fanbase geht, zucken weiterhin alle zusammen.

      2. Die Menge der Followers macht die Macht aus. Das war schon bei Alexander, Napoleon und Hitler so. Aber mit Gewalt wie in Nordkorea und Iran kann es auch eine ganze Weile klappen. Dass inzwischen Influencerinnen nicht nur Nagellack bewerben, sondern auch die Hamas, erschüttert mich schon nicht mehr, sondern ist bloß noch ärgerlich wie eine Zugverspätung.

      3. Auf schräge Weise kann ich das sogar nachvollziehen. Was ich allerdings nicht verstehe, ist dass diese Follower mit einem Abgeordneten, der außer PR keine Erfolge vorweisen kann, wieder gewählt wird.

      4. Das wollte ich auch gerade sagen. Für viele Wähler ist es außerdem ein Erfolg wenn die Gegenseite ordentlich gedisst wird.

      5. Klar, wer sich selbst eher klein fühlt, der freut sich natürlich wenn andere noch kleiner gemacht werden. Wirklich helfen tut das auf lange Sicht aber auch nicht. Die eigenen Probleme bleiben ja die gleichen.

  5. Man muss sich nicht zwangsläufig bei Gott bedanken. Wenn es ihn wider aller vernünftigen Gründe doch geben sollte, wird ihn so etwas nicht kümmern. Aber solche Vorfälle, wie mit dem Auto, zeigen einem doch immer wie leicht einem das Leben einen Strich durch die Rechnung machen könnte.

    1. Ich bin immer entsetzt wieviele Zusammenstöße es bei mir im Viertel gibt. Ich lese fast jeden Morgen von einem Unfall mit Tram oder Auto.

    2. Gott kümmert alles. Nicht nur was ich esse, trage, tue, sondern auch, was mir passiert. Wenn ich davon nicht überzeugt bin, lasse ich ihn weg und lebe ohne ihn. Geht auch. Ist auf andere Weise schwer wie mit ihm.

      1. Man wundert sich fast, dass er nicht ähnlich wie Santa ein paar Elfen hat, die ihm dabei helfen… 🤭

      2. Erzengel und Fußvolkengel hat er doch in Scharen:
        Alles, was dich preisen kann,
        Cherubim und Seraphinen,
        stimmen dir ein Loblied an,
        alle Engel, die dir dienen,
        rufen dir stets ohne Ruh:
        „Heilig, heilig, heilig!“ zu.

        Glücklich, wer da Ohropax hat.

  6. Diese deutschen Chinarestaurants, die in meiner Jugend immer meine Lieblinge waren, machen mich richtig nostalgisch. Sonntags mit meinen Eltern ins Auto zu steigen um Frühlingsrollen und gebackenes Schweinefleisch zu essen, gehört zu meinen schönsten Erinnerungen und Freuden.

    1. Die Zeiten haben sich echt geändert. Wer hätte gedacht das Biang Biang Noodles 2023 der riesige Streetfoodtrend werden.

      1. Vom Wienerwald-Hähndl 1955 bis zum Sushirrito 2023 wechselten die Essensmoden immer mal wieder. Inzwischen ist Fastfood fast beim Zalando-Tempo angekommen. Der Bürger ist als Konsument gefragt. Die Antwort steht auf dem Konto.

      2. Ich war in Japan und in Mexiko. Auch ich werde die kulinarische Kombination beider Länder bleiben lassen und warte auf den nächsten Trend: zuhause.

      3. Das scheint vernünftig. Ich wünsche Ihnen schon einmal einen schönen 1. Advent.

      4. …und das dann lieber mit knackigen Spekulatius als mit fluffigen Schoko-Donut-Croissants. In meinem Alter darf man altmodisch sein. Und sonst auch.

  7. Vor-sich-hin-kichern macht ja noch keinen schlechten Menschen aus. Jemanden offen lauthals auszulachen ist ja etwas anderes.

  8. Durchgehend geöffnete Lokale kriegen bei mir immer viele Pluspunkte. Gerade auf Geschäftsreisen im Ausland finde ich es immer etwas anstrengend, wenn sich meine Arbeitspausen nicht mit den Öffnungszeiten der dortigen Restaurants überschneiden.

    1. Die Restaurants mit den besten Köchen können sich durchgehende Öffnungszeiten nicht erlauben. Ich finde allerdings ‚beste Köche‘ leicht etwas anstrengend.

      1. Zum Businesslunch muss es ja auch gar nicht immer das Michelin-Restaurant sein. Wobei, naja, es kommt vielleicht auf den Geschäftspartner an.

  9. „Acht Kostbarkeiten“ klang als Gericht immer furchtbar aufregend. Heute würde so ein Name gar nicht mehr auffallen zwischen „Buddha Bowl“ und „Bai Dinh’s Segen“.

    1. Deswegen gibt es wohl den Sushirrito. Man muss ja dennoch versuchen Neues zu finden und die Leute zumindest kurzfristig neugierig zu machen.

      1. Ich denke ja auch nicht ständig daran, aber ich weiß doch: Die einen warten auf eine Schüssel Reis in Banglasch oder ein Brot in Gaza, die anderen müssen mit Erlebnisessen geködert werden, um den Konsum zu steigern. Welche Schlussfolgerungen jede(r) daraus zieht, bleibt ihm/ihr überlassen. Wird ‚der Westen‘ überleben?

      2. Ich glaube schon, dass der Westen robust genug ist. Das westliche System soll doch schon seit Jahren untergehen. Das ist wie mit den Vorhersagen von Q. Es verschiebt sich immer wieder auf einen neuen ‚Termin‘ und dann passiert doch nichts.

      3. Wenn in 200 Jahren alles doppelt so anders sein wird wie vor 200 Jahren – ich kann es kaum glauben oder mir vorstellen.

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