Ein schlimmer Geburtstag. Roland hatte Aids. Wir saßen zu viert in der Loggia bei meinen Eltern. Hinten im Garten mähte noch der Gärtner. Prosecco und Prosciutto. Ein provisorisches Glück: Notbehelf mit Melone. Und dann Hummer. Feierlich. Etwas gewollt, aber der gute Wille zählt. Was hilft, ist erlaubt. Dazu ist Geld doch da! Roland ist mehr abwesend als vorhanden, aber er wird von einer Nadel in die Wirklichkeit zurückgepiekt. Sie war im neuen Gartenstuhlbezug stecken geblieben. „Ausgerechnet ich muss mich da reinsetzen. Typisch!“, sagt er. Es ist komisch makaber. Erst seit ein paar Tagen war er zurück aus dem Krankenhaus. Zum wievielten Mal? Schmerzen, Ausschläge, Atemnot, Fieber, abwechselnd oder gleichzeitig. Gerade ist Ruhe, und dann diese Nadel! Genau an seinem Platz, in seiner dünnen Haut. Ich zwinge mich und die anderen, es drollig zu finden. Als wichtigstes Geburtstagsgeschenk bekomme ich eine große Portion Realitätsverlust, und meine Eltern überspielten das Elend wie immer gekonnt.
Video (Ausschnitt aus ‚Quellental‘): Privatarchiv H. R.
Ich bin gerade zurück aus London, übermorgen werde ich nach Paris fliegen. In zehn Tagen nach Venedig. Roland ist dann stabil, ich kann mich trauen, mit Irene ein paar Tage an den Lido zu fahren: der sechzigste Geburtstag meines engen Freundes Pali. Klingt glamourös, oder? Dabei ist es eine Mischung aus Pflichterfüllung und Flucht. Die Schauplätze machen es leichter, aber der Stachel bleibt, auch wenn ich ihn jetzt, dreiunddreißig Jahre später, nur noch weiß, nicht mehr spüre. Sich nachträglich zu zwingen, etwas genossen zu haben, klappt nun mal nicht, führt höchstens zu Gewissensbissen oder Selbstmitleid, sollte also tunlichst vermieden werden.
Video (Ausschnitt aus ‚Die Welt ’80/’90‘): Privatarchiv H. R.
Silke ist in Holland verheiratet, Esther in Frankfurt. Harald meldet sich nicht mehr. – Alles hat seine Zeit. Aber diese Erkenntnis kommt immer erst im Nachhinein. Die mühsam bekämpfte Ahnung von Verlust bestimmt mein Leben. Um der Zeit noch das Letztmögliche abzutrotzen, werde ich mit Roland über die nun offene DDR-Grenze nach Weimar fahren. Goethe war mal mein Vorbild – wahrscheinlich ein Missverständnis. Und eine letzte Reise nach Bayreuth. Ich mag an Wagner-Opern ausschließlich die Vorspiele, aber Bayreuth war immer Rolands Traum. Jetzt ist die Zeit, ihn zu erfüllen. Ich habe Beziehungen, berufliche, bis ins Festspielhaus. Was einem nicht in die Wiege gelegt wurde, muss man sich erarbeiten. Hab’ ich versucht. Ich werde in diesem Jahr geschäftlich noch in Salzburg, Dubrovnik, New York, Miami und knapp vor Weihnachten in Madrid sein. Unter anderem. Ablenkungen lenken ab. Ohne sie wäre es schlimmer. Wahrscheinlich. An Medikamenten und für die Pflege haben wir alles mobilisiert, was möglich ist: Beziehungen, weltweit. Worte, Taten. Ironie des Chic-Saals. Anarbeiten gegen die Hilflosigkeit. Mehr geht nicht.
Fotos (2): Privatarchiv H. R. | Titelbild mit Material von Shutterstock: vidimages (Spritze), Yoko Design (Big Ben) und Privatarchiv H. R. (3)
Vor Rolands Geburtstag am 29. September fragte ich den Arzt, ob eine Feier mit Freunden zu viel für ihn sei. „Machen Sie, was er will“, sagte der Arzt, „es wird ja sein letzter.“ Ich war schockiert. Wirklich? Nur weil man etwas weiß, heißt das ja noch nicht, dass man es aushalten kann. Im vergangenen Dezember war ich mit Roland zeitgeist-ergriffen durchs Brandenburger Tor gelaufen. Die Vereinigung von DDR und Bundesrepublik am 3. Oktober hat er vom Bett aus im Fernsehen miterlebt. Am 15. Januar war er tot.
#5.3 | Ereignislosigkeit als Ziel?#7.1 | Trinken macht nicht durstig
Diese Aids-Epidemie in den 80er Jahren war wirklich ungeheuerlich. Das schmerzt auch nach 40 Jahren noch. Keine Worte.
Auch ich kann dieses Mal wenig zu den Kommentaren beitragen. Was ich sagen konnte, habe ich im Beitrag gesagt.
Ich finde es verdient schon gehörigen Respekt, dass das Thema überhaupt so öffentlich abgehandelt wird.
Man kann sich das als jüngerer Mensch ja gar nicht richtig vorstellen. Klar, es gab vor kurzem COVID. Man wusste zu Beginn nicht was es war, wie schwer man erkranken würde, etc. Aber wenn man nicht zu den Verschwörungstheoretikern und Impfskeptikern übergelaufen ist, dann war ja klar, dass es keine allzu großes Gesundheitsrisiko gibt. Dass durch Aids auf einmal reiheweise Menschen starben, das muss ein Schock gewesen sein.
Es gibt mittlerweile so viele Filme, aber diese Tragödien bleiben für mich ähnlich abstrakt wie die fernen Kriege. Ich bin entsetzt und fassungslos, aber greifen kann ich es trotzdem kaum.
Wenn man sich alles Leid der Welt zu Herzen nehmen würde,
könnte man kaum leben. Wenn einen gar nichts berührte, wäre es auch kaum auszuhalten.
Da ist sicher etwas dran. Unser Körper, unser Gehirn besser, filtert das schon ganz gut aus um uns nicht zu überlasten. Schließlich leiden die wenigsten Menschen unter Hypersensibilität.
Tränen ist ein passender Titel für dieses Kapitel. Damit hatte ich nicht gerechnet. Bei allem was Sie erlebt haben, hätte man auf diese schlimme Krankheit sicher am ehesten verzichten wollen. Dass es Ihren Lebenspartner (und damit auch Sie) so getroffen hat, tut mir außerordentlich leid.
Wie bitte? Der Kommentar des Arztes ist ja unmöglich! Da wäre ich zum letzten Mal gewesen 😡
An der Stelle musste ich auch schlucken. Man könnte wirklich etwas mehr Mitgefühl von einem Arzt erwarten.
Erwarten und verlangen. So redet man doch nicht mit jemandem, der dabei ist einen geliebten Menschen zu verlieren!
Ich versuchte, dem Arzt einfach nicht zu glauben. Nachträglich bin ich fast dankbar für seine Art Vorbereitung. Allerdings: genutzt hat es eigentlich nicht.
Es kommt sicher darauf an, in welchem Ton diese Antwort kam. Grundsätzlich bin ich der Ansicht, dass ein Arzt auch die Verantwortung hat, die Wahrheit über den Zustand des Patienten zu sagen. Auch wenn diese schmerzlich ist. Falsche Hoffnungen können manchmal schlimmer sein, als den Tatsachen ins Auge blicken zu müssen.
Beethovens Klaviersonate No. 25. Eine gelungene Wahl für diesen melancholischen Videoausschnitt.
In einem akademischen Beethoven-Buch las ich schon während meiner Schulzeit, diese G-Dur-Sonate sei sein unerheblichstes Klavierstück, fast peinlich. Die Ecksätze sind vielleicht wirklich nicht ganz so inspiriert, aber die Barkarole habe ich immer gemocht. Ich habe ja die – inzwischen nicht mehr für wissenswert erachtete – europäische Musikgeschichte im Kopf. Diese überflüssigen Kenntnisse kann ich zumindest noch als Soundtrack für den Schnitt meiner Filme ausschlachten …
Das klingt wirklich nach einem schlimmen Geburtstag und nach einer schlimmen Zeit generell. Die Details waren mir bisher nicht bewusst.
Wirklich schrecklich. Bei all der Leichtigkeit Ihrer Texte vergisst man manchmal die schweren Schläge, die Sie ja genau wie jeder andere auch erleben mussten. Der erste Moment im Leben, wo man merkt, wie präsent Verlust in unserer Existenz ist, bleibt immer in Erinnerung.
Leichtigkeit. Der berühmte Regisseur Fritz Korter fuhr während der Theaterprobe eine Schauspielerin an, als die auf der Bühne Tränen vergoss: „Nicht Sie sollen weinen, sondern das Publikum!“ Eins zu eins ist fast schlimmer als fake.
„Provisorisches Glück“ passt wohl ganz gut zum Leben allgemein.
😰
Etwas, das vorübergehend ist, ist nicht unbedingt provisorisch, sondern kann während seiner Dauer ewig sein – wenn ich das schulmeistern darf. ‚Vorübergehend‘ kann Flügel haben. ‚Provisorisch‘ hat Krücken.
Ah das ist keine schlechte Schulmeisterei. Das ist ja ein entscheidender Unterschied. Gefühlt wie gelesen.
Das ist ein überaus trauriger Einstieg ins neue Jahr. Aber auch das gehört natürlich zum Leben dazu.
Ich hatte in meiner Silvester-Predigt vorgewarnt.
In der Tat. Jetzt versteht man die Warnung auch.
Viel mehr als das Elend zu überspielen (Video 1) kann man fast nicht tun. Etwas Normalität, Ablenkung, Freude, auch wenn sie vorgespielt ist…
Ich kenne das aus eigener Erfahrung. So schmerzhaft ein Abschied auch ist, man kann nicht 24 Stunden am Tag über den Tod nachdenken. Trauer muss man zulassen, das ist keine Frage. Aber wie alles andere ist das alles keine schwarz-weiss Sache.
Der Geiger Gidon Kremer sagte mir mal, ihm sei die ehrliche Brummigkeit im Ostblock lieber als die – seiner Meinung nach verlogene – Freundlichkeit der Amerikaner. Erwiesen ist: Wer sich bemüht, nett zu sein, bekommt nicht nur mehr Trinkgeld, sondern fühlt sich auch selbst wohler als eine mürrische Person, egal welchen Geschlechts.
So ähnlich geht es mir im Vergleich zwischen Berlin und Köln. Die Rheinländer sind mir zu gespielt freundlich, die Berliner finde ich ehrlicher. Aber ich empfinde sie auch nicht als mürrisch. Nur eben weniger aufdringlich.
Ich war letztes Jahr beruflich in den Staaten und vorab ziemlich voreingenommen gegenüber dieser angelernten Freundlichkeit. Im Nachhinein muss ich sagen, dass mir der Aufenthalt überaus gut gefallen hat. Es ist nämlich genau wie Sie in Ihrem Kommentar schreiben – wenn man sich bemüht im Alltag freundlich zu sein, fühlt man sich wohler. Das gilt meiner Meinung nach für beide Seiten.
Das muss wirklich ein schlimmer Geburtstag und eine schlimme Zeit gewesen sein. Was kann man dazu sagen? Wie Sie selbst schon schreiben ist eigentlich alles gesagt. Außer vielleicht noch mein Beileid über diesen Verlust. Auch wenn es erst 33 Jahre später ist.
Da stimme ich zu und schließe mich an.
Man feiert das Leben und akzeptiert gleichzeitig den Tod. Das Leben ist so voller Widersprüche!
Es gibt das eine nicht ohne das andere. Es ist nur immer schrecklich, wenn das durch solch persönliche Schicksalsschläge deutlich wird.
Alles hat seine Zeit. Mit dieser Erkenntnis muss man erstmal klarkommen. Aber richtig ists. Schon klar.
Am Anfang ist da die Furcht, dass die Zeit das Erlebte unwichtig macht. Später ist man dankbar, dass die Zeit das Erlebte einordnet.
Man denkt ja auch immer, dass die eigenen Erlebnisse klein und unwichtig werden, wenn man rauszoomt und das große Ganze betrachtet. Egal ob das die Zeit ist oder ein größerer Zusammenhang. Aber ich finde, dass so eine Betrachtung nicht fair ist. Was einen persönlich schmerzt und prägt, das hat einen wichtigen Platz im eigenen Leben.
Trotzdem lohnt es sich doch immer den Blick aufs Ganze nicht zu verlieren. Vielleicht macht das mitten in so einem tragischen Moment keinen Sinn, aber dann wenigstens mit etwas Abstand. Sonst verliert man sich nachher schnell.
Es ist merkwürdig: Menschen, die sich selbst nicht wichtig nehmen, nehmen ihre Mitmenschen oft auch nicht wichtig.
Im Film schmerzlich schön geschildert, und nun im Blog. Danke, lieber Hanno.