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Sonntagspredigten

Früher? – Nein, danke!

Liebe Leserinnen und Leser,

alten Zeiten nachzutrauern, habe ich mir abgewöhnt. Langsamer war es damals ja – das schon, aber gemütlicher? – Selten. Pferdefuhrwerke kenne ich fast nur noch aus Filmen. Von Strängen habe ich deshalb nie eine andere Funktion erlebt, außer der, über sie zu schlagen. Und das habe ich immer mal wieder getan. Früher. Damals hatte ich keine Gewissensbisse, heute mache ich mir keine Vorwürfe, dass es zu selten war. ‚Mit sich im Reinen sein‘, das ist eine Floskel, die mich an Nazi-Richter und Besserwisser erinnert. Da bin ich doch lieber mit mir im Dreckigen.

Glaubt mir das etwa jemand? Manchmal denke ich, keiner versteht mich, aber das ist nur fair: Ich verstehe ja auch niemanden, denke ich manchmal. Ist das schlimm? Es ist wahrscheinlich wichtig, sein eigenes Leben nicht so schrecklich wichtig zu finden, und das klappt im Krieg, im Kloster, im Nachdenken – zum Beispiel, oder wenn es ganz schlimm kommt, nirgendwo. Um das zu vermeiden oder gar zu verstärken, stellen die einzelnen Exemplare der höchstentwickelten Spezies, der Mensch, alles nur Mögliche an. Ob bei solchen Verrichtungen die Gene oder die Umwelt den Ausschlag geben für das, was er (manchmal sogar sie) verkehrt macht, das ist noch nicht vollständig geklärt, aber angeblich folgen wir, wie alles andere auch, nur einem Algorithmus. Strafrechtlich ist das bemerkenswert. Ansonsten kann ich mit dieser Information wenig anfangen. Ob ich nun tue, was ich will oder was ich muss – wenn ich den Unterschied nicht merke, kann es ja nicht so wichtig sein. Also mache ich einfach weiter.

Silvester denkt man ja gemeinhin, man müsse sich amüsieren. – Schwer. Die Welt kriegt es zurzeit einfach nicht hin, mir Spaß zu machen. Totalversagen. Am liebsten würde ich sie abwählen. Dass ich das nicht darf, erschüttert meinen Glauben in die Demokratie. Aber zumindest kann ich meine Wünsche noch öffentlich verkünden, jedenfalls, solange sie nicht zum Systemsturz aufrufen, und das tut ja nicht mal Sahra Wagenknecht. Vor allem wünsche ich mir: nicht nachlassende Neugier. – Ein vermessener Wunsch. Vieles interessiert mich einfach nicht mehr. Einen Ausweg gibt es: den Glauben daran, dass die Wiederholung des ewig Gleichen glücklich macht, egal ob es sich dabei um Pornobilder, Rosenkränze oder Psycho-Ratgeber handelt. Wenn das klappt, dann geht es auch ohne Neugier. Erfüllbare Wünsche sind sowieso nur etwas für Amazon. Zum Neujahr muss es etwas Großes, Nichtkaufbares sein.

Ich möchte in einem Land leben, in dem ich die Bibel, den Koran und ‚Mein Kampf‘ sowohl lesen als auch verbrennen darf. Ich lebe in so einem Land? Na, dann wünsche ich mir, dass es so bleibt und dass meine Algorithmen das Richtige mit mir machen.

Ihnen wünsche ich auch erfreuliche Algorithmen und Tage. Im Blog wird es jetzt unerfreulich, aber das müssen Sie sich ja nicht zu Herzen nehmen.

Haben Sie ein Jahr, das es lohnt, gelebt zu werden!

Wieder mehr mit der üblichen Herzlichkeit,
Hanno Rinke



Cover mit Material von Shutterstock: Morphart Creation (Gehirn), MoreVector (Hand mit Glas) und aus Privatarchiv H. R. (7)

43 Kommentare zu “Früher? – Nein, danke!

  1. Es mag einfach so sein, dass sich die Menschen grundsätzlich gar nicht verstehen können. Oft kommt es mir so vor. Einen (oder ein paar) Menschen zu finden, mit denen man es trotzdem aushält reicht als Lebensziel schon aus.

    1. Gute Kommunikation ist auf alle Fälle immer eine Herausforderung. Wir sind schließlich verschiedener als es immer heißt.

      1. ‚Smalltalk‘ ist die gesellschaftlich akzeptierte Lösung dieses Problems, die darauf verzichten, gesellschaftliche Probleme zu lösen.

    1. Ich mache gerade eine Pause von meinen Vorbereitungen für heute Abend. Zwischenzeitlich auch von mir alles gute für 2024. Guten Rutsch!

      1. Reinrutschen, ohne auszurutschen – möge das kommende Jahr genügend Gleitcreme bereithalten!

      2. Tja, oder rutscht man an Silvester schon aus damit es für das Jahr dann nur noch bergauf geht? Zu viel Vorsicht bremst ja auch.

      1. Das wäre schon mal ein guter Vorsatz für 2024. Mehr Sport machen, weniger Rauchen … das klappt ja eh selten. Aber vielleicht strengen wir uns alle ein wenig an, die Welt zu einem angenehmeren Ort zu machen. Es muss ja nicht gleich die Klimarettung auf Teufel komm raus sein. Ich meine eher die unscheinbaren Gesten im Alltag.

      2. Mit unscheinbaren Gesten ist es für die ‚letzte Generation‘ genauso wenig getan wie 1980 für die Atomkraftgegner in Brokdorf. Wer sich am Pflaser festklebt erreicht mehr: Stillstand und Widerwillen.

    1. Ich finde ja, dass die Zeiten, wo jeder sein privates Feuerwerk abschießt langsam vorbei sein sollten. Früher als Kind mochte ich das immer, klar. Das war aber auch in einer Kleinstadt. Da haben dann 5 Nachbarn in der Straße ein paar Feuerwerkskörper abgeschossen. Seitdem ich in der Stadt wohne, habe ich meine Meinung deutlich geändert.

    2. Ich zeige ab 18 Uhr einen vier-einhalb-Stunden-Film. In den Pausen gibt es teures Essen. Das Mitternachts-Feuerwerk sendet das ZDF vom Brandenburger Tor auf meine ziemlich große Leinwand.

      1. So ähnlich wird es bei mir auch aussehen. Nur, dass der Film wohl etwas kürzer und das Dinner höchstwahrscheinlich minimal preisweiter ausfallen wird. Ich wünsche Ihnen viel Freude und einen guten Übergang!

      2. ‚Teuer‘ war ja auch geprahlt und ist nur im Gegensatz zu Karfreitag zu verstehen.

  2. Die Welt kriegt es nicht so richtig hin, nein. Ich versuche mich solange über die kleinen Dinge zu freuen. Das Rinke Blog Comeback gehört auf alle Fälle dazu. Guten Rutsch und dann Frohes Neues!

    1. Wieder mal ein Kommentar, bei dem man sich ohne lange Nachzudenken anschließen kann. Ich danke ebenfalls sehr für das Lesefutter und wünsche ein gesundes, spannendes und produktives kommendes Jahr 2024.

  3. Ich wünsche Ihnen zum Jahresausklang noch einmal alles Gute. Vielen Dank für die bereichernden Texte. Auf ein interessantes aber nicht zu aufregendes 2024.

  4. In Berlin wird schon seit einiger Zeit geknallt…
    Es ist also Zeit einen guten Rutsch zu wünschen. Alles Gute für das kommende Jahr 2024!

    1. Denen, die jetzt allein sind, wünsche ich, dass sie genau das wollen, und wenn sie es eigentlich nicht wollen, wünsche ich ihnen Trost. Ob meine unorthodoxen Texte Trost spenden können, weiß ich nicht. Bei mir zumindest klappt’s.

    2. Trotz erneuter Angriffe auf Polizei und Feuerwehr (warum???) und teils „dramatischen Amputationsverletzungen“ (UKB) scheint es in Berlin dieses Mal nicht so wild geworden zu sein, wie man befürchtet hatte. Das ist ja kein schlechter Start für dieses Jahr.
      Alleine war ich beim Jahreswechsel zwar nicht, aber für über die Texte freue ich mich trotzdem. Gutes Neues!

      1. Da liegt die Messlatte aber auch tief. Ich las heute Morgen, dass sich ein Mann im Berliner Umland beim Versuch eine Signalrakete zu zünden die komplette Hand weggesprengt hat. Na dann…

    1. Es scheint sogar ein wenig die Sonne heute Morgen … In diesem Sonne hoffe ich auf und wünsche ich ein friedliches und schönes Jahr 2024.

  5. ich finde alten Zeiten nachzutrauern wirklich unnütz. Selbst wenn die Zeiten tatsächlich mal besser waren, man kann ja nicht zeitreisen. Entweder es gibt da etwas, das man beeinflussen kann, dann muss man sich da eben bemühen, oder man lässt gut sein, freut sich über die schöne vergangene Zeit und macht das Beste aus dem Jetzt.

    1. Manchmal sieht man im Schmerz um das Verlorene die Perspektive für das Neue nicht. Aber im Grunde haben Sie natürlich vollkommen recht. Sentimentalität nützt nicht viel. Man muss das Leben schon leben.

      1. Sein Leben leben: Kloster, Kirmes oder Knast. Gut, wenn vorher bedenkt, worauf man sich einlässt.

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