Teilen:

0501
DIE ELF  —   7. Kapitel: FÜNFUNDFÜNFZIG

#7.1 | Trinken macht nicht durstig

Spätestens seit ich elf war, kannte ich die meistgehörten Schlager des Jahres und war schon längst vor dem Abitur mit allen internationalen Top-Hits vertraut. Mit Harald gemeinsam hatte ich in den Sechziger- und Siebzigerjahren das jeweilige Musikangebot abgekostet: toll – unerheblich – grässlich. Meinen Lebenslauf in Pop-Musik zu schreiben lag nahe, und ich tat das auch, pünktlich zum neuen Jahrtausend: drei CDs Musik, zwar mit Verzicht auf eigene Werke, aber mit 110 DIN-A4-Seiten eigenem Text. Etwas unkommentiert zu lassen, geht gar nicht. Irgendetwas muss ich immer dazugeben, und sei es ein Stängel Dill auf dem Räucherlachs. Zu Deutschlands Lieblingsthema ‚unterbelichteter Osten – überheblicher Westen‘ hatte ich natürlich auch gleich ein leicht umgetextetes Musikstück parat gehabt. Ich biete es hier an. So kann jeder hören, wie ich tickte und taktete.

‚HONECKER-POLKA‘ – aus CD ‚Sehr!‘

Text/Komposition/Interpretation: Hanno Rinke

Woran merkt man, dass man nicht so alt ist, wie man sich fühlt (dummes Gewäsch sowieso), sondern dass etwas passiert ist, das nichts mit Falten zu tun hat? Als ich mir jetzt die erfolgreichsten Hits von 2001 ergoogelte, stellte ich fest, dass ich keinen von ihnen kannte. Musik hörte ich nur noch im Auto. Ich hatte begonnen, meine Jahresfilme zu digitalisieren, professionell nachzuschneiden und neu zu vertonen. Die Kommentare blieben dabei weitgehend erhalten, das Repertoire auch: Das waren zum einen die für mich wichtigsten Pop-Titel des jeweiligen Jahres und zum anderen aus dem gesamten Klassik-Bereich das, was ich schon beim Original-Schnitt als passend ausgewählt hatte. Musik nur noch als Begleiterscheinung, nicht mehr als Lebensinhalt. Wenn ich jetzt, mit 77, manchmal Musik aus dem Internet abrufe, freue ich mich, die Werke wiederzuerkennen: in ihrem Aufbau, in ihrem Klang. Aber nur bei den Pop-Titeln von damals treten mir Tränen in die Augen. Und dann weine ich über das, was ich erlebt und was ich versäumt habe.

Foto: Privatarchiv H. R.

So wie sich in der Zeit um 1800 kein Mensch die ständige Verfügbarkeit von Kunstwerken vorstellen konnte, so kann sich heute kaum noch jemand vorstellen, dass er die Reproduktion eines Bildes, die Aufnahme eines Musikstücks, die Kopie eines halbwegs bekannten Films nicht mühelos im Internet finden würde, und sei es gegen Bezahlung. Dieses Bewusstsein gab es bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts noch nicht. Es gab zwar Bücher, Schallplatten, Filme, aber der ständige Zugang zu allem ist etwas Neues. Eigentlich ist das wunderbar. Ich genieße es sehr. Aber für die, die es nicht anders kennen, hat es natürlich nicht den gleichen Zauber, genauso wenig wie Erdbeeren im Dezember. Eher sind wir empört, wenn wir die Früchte nicht im Regal finden, obwohl wir sie uns als Dekoration für den Silvester-Nachtisch gerade in den Kopf gesetzt hatten. (Winterliche Blattsalate haben übrigens eine schlechtere Ökobilanz als Erdbeeren aus Israel. Wer sich konsequent saisonal ernähren möchte, der/die muss wie unsere Vorfahren ab November mit Wurst und Sauerkraut vorliebnehmen. Mahlzeit!)

Inzwischen braucht es ja nicht mal mehr CDs und DVDs; Bücher auch nicht, aber Kinder, die nur am Computer lesen, schneiden bei Tests schlechter ab als Kinder, die noch umblättern, statt zu scrollen. – Freut mich. Etwas zum Anfassen ist halt nicht nur befriedigender, sondern offenbar auch einprägsamer. Bei Pornos ist es etwas anderes. Da ist das Künstliche dem Realen überlegen! Stinkt vorher nicht im Schritt, bleibt nachher nicht taktlos im Bett liegen und kann zwischendurch nicht vergewaltigt werden oder es zumindest anschließend behaupten. Sogar der Bildschirm bleibt sauber. Im Allgemeinen. Dass Pornografie angeblich erst auf den Geschmack bringt, statt abzureagieren, glaube ich nicht. Trinken macht nicht durstig.

Mehr beschäftigt mich die Frage: Was macht das Original wertvoller als die Kopie? Was ist gegen eine überzeugende Fälschung einzuwenden? – Für mich: nichts. Schummeln war schon immer meine Lieblingsbeschäftigung. Damit habe ich Prüfungen bestanden, Gäste hinters Licht geführt und eine Menge Geld gespart. Meine Eltern waren genauso. Vor allem meine Mutter. Von der habe ich dieses Talent wohl. Sie trug C&A-Kleider, als wären sie von CHANEL. Ich nahm die Hühnerbrühe von Knorr, statt einen Fond aus echter Henne einzukochen. Warum Menschen für Originale so viel Geld ausgeben, verstehe ich nicht. Der Wert bestimmt den Preis, mag sein. Aber die meisten können den Unterschied gar nicht erkennen, weder beim Champagner noch beim Rembrandt. Wo ich ihn allerdings bemerke, bei Kaviar oder Seide, da werde auch ich zimperlich. Verwöhnt? Na ja, gebildet. Mein Metier, die Schallplatte/CD, lebt(e) von der Vervielfältigung. Wenn Spotify die Tonträger so überflüssig macht wie KI das Denken, dann erwischt mich diese Entwicklung nicht unvorbereitet.

37 Kommentare zu “#7.1 | Trinken macht nicht durstig

  1. So alt wie man sich fühlt… ach was. Man ist so alt, wie man ist. Wie man zu einem bestimmten Alter zu sein hat… wer bestimmt das eigentlich? Ich habe das noch nie verstanden.

      1. Wenn ich mir die Bebilderung des Blogs anschaue (siehe 20cm weiter oben), dann glaube ich daran noch nicht so ganz 😉

  2. Man könnte ja am Computer durchaus genauso lesen, wie mit einem Buch in der Hand. Ich glaube nur warum das nicht funktioniert ist, weil online durch die Menge an Informationen das Einzelne weniger wichtig erscheint und dann auch nicht im Kopf bleibt. Da muss eine Sache schon besonders herausstechen.

    1. Ein Buch in der Hand ist einfach etwas ganz anderes als am Bildschirm zu lesen. Den Computer benutze ich eher zur Recherche oder bei der Arbeit. Wenn es um Romane geht, finde ich das fast obszön.

  3. Wie die KI unsere Welt wirklich verändern wird, muss sich erst noch zeigen. Momentan denke ich, dass sie das Denken hauptsächlich bei denen ersetzt, die eh nicht viel oder weit denken. Die anderen nutzen die KI um ihre Gedanken und Projekte noch größer werden zu lassen. Sie ist da bestimmt eher Werkzeug als Ersatz.

    1. Es gibt genügend Leute, die die Künstliche Intelligenz missbrauchen werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es damit anders läuft als mit anderen Dingen, mit denen Geld zu machen ist.

      1. Nur, dass das Ausmaß des Schadens gar nicht abzuschätzen ist, jedenfalls nicht von menschlicher Intelligenz.

      2. Ich glaube, dass die Politik da klare Regeln setzen muss. Es muss schon Grenzen geben, wofür KI genutzt werden darf und wofür nicht. Es geht ja nicht nur um Jobs, die wegfallen. Wenn es tatsächlich nicht mehr nötig wäre, dass Menschen arbeiten, dann muss man eben doch nochmal über ein Grundeinkommen reden. Aber es geht ja auch um Kriegsführung etc.

      3. Das schaffen ja nicht mal die deutschen Parteien. Länderübergreifend mache ich mir da erstmal keine Hoffnungen.

      1. Ich habe allerdings noch nie ein gutes Sauerkraut gegessen, in dem kein Fleisch mitgekocht wurde. Dabei bin ich gar kein ständiger Fleischesser.

  4. Also 110 DIN-A4-Seiten Text sind ja selbst für 3 CDs ziemlich viel. Aber wirklich erstaunt kann mal wohl nicht mehr sein, wenn man dem Blog eine Weile folgt.

  5. Ich bin und war immer ein Musik-Nerd. Heute ist das zugegebenermaßen alles einfacher. Früher musste man bisweilen von Plattenladen zu Plattenladen laufen um eine bestimmte Aufnahme zu finden. Jetzt streamt man ja fast alles. Wenn dich mal was fehlt, kann man es bestellen und innerhalb weniger Tage liefern lassen. Aber Sie haben vielleicht recht. Die Platten, an denen ich wirklich hänge, diejenigen, die mich berühren, sind die, die ich damals mit viel Aufwand zusammengesucht habe.

  6. Hey Baby, nimm’s cool. Haha! Die Honecker-Polka hätte mal einer der punkigen deutschen Stars von damals aufnehmen sollen.

  7. Eigentlich braucht es keine DVDs oder BluRays mehr. Höchstens wenn man viel wert auf die Extras legt, die oft Bestandteil sind. Es wird ja alles gestreamt. Was mich allerdings wundert, ist dass die Streamingdienste nun alle zurück zur Werbung gehen. Als ob es die Abkehr vom Kabelfernsehen nie gegeben hätte.

    1. Was mich wundert, ist, dass es zu funktionieren scheint. Ich kriege bei Werbung einen Groll und kaufe das angepriesene Zeug nicht. Aber bei anderen scheint’s zu klappen, sonst würde es ja wohl nicht gemacht.

      1. Mich wundert auch gar nicht, dass die Streamingdienste auf Werbung zur Finanzierung ihres Angebots zurückgreifen. Mich wundert eher, dass sich auf einmal herausstellt, dass sich durch diese Revolution (von Kabel zu Netflix) gar nichts geändert hat.

  8. Ich finde Schummeln völlig legitim wenn es schneller zum Ziel führt oder die Arbeit vereinfacht. Also natürlich nur, wenn niemand anders Schaden nimmt. Betrügen ist da unsympathischer.

    1. Ist das nicht nur Wortspielerei? Die Begriffe schummeln und betrügen sind meiner Meinung nach schon recht austauschbar.

      1. Wenn ich A) vom Nachbarn abschreibe, schummle ich. Wenn ich B) Wahlversprechen nicht einhalte, betrüge ich. Wenn ich bei A) erwischt werde, bekomme ich eine 6. Wenn ich bei B) erwischt werde, sage ich: „Es liegt am Koalitionspartner.“

  9. Eine reife Avocado im tiefen Winter wird mitunter eher akzeptiert als das Sauerkraut mit Kassler vom Bauern nebenan. Die Logik entzieht sich mir zwar, aber da muss ich wohl mit leben.

  10. Ich bin auch immer erstaunt wie wenige der Top10-Hits ich kenne. Dabei höre ich relativ viel aktuelle Musik. Anscheinend nur nicht das, was die Masse begeistert. Ich dachte nie, dass ich so nerdig bin.

    1. Ich bin nerdig, aber nicht neidisch. Sollen die Massen doch Prada von Cassö hören! Ich lausche derweil Schuberts C-Dur-Quintett.

      1. Jetzt musste ich glatt googeln ob das ein echter Song ist. Ich stelle fest, dass „Prada“ auf der Single „Ferrari Horses“ des Trap-Duos D-Block Europe in Zusammenarbeit mit der britischen Sängerin RAYE basiert und dass ich ziemlich alt geworden bin.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

12 − 8 =