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DIE ELF  —   5. Kapitel: DREIUNDDREISSIG

#5.3 | Ereignislosigkeit als Ziel?

Im November 1975 lernte ich bei Karajan-Aufnahmen in der Berliner Philharmonie Roland kennen, allerdings nicht im Konzertsaal, sondern anschließend im Clublokal: ‚Gay‘ – ein recht aussagekräftiger Name. Ohne Roland zu leben, das ging nicht, also zog er Ende Januar zu mir nach Hamburg. Dort traf er auf meine Eltern, Harald, Silke und Esther. Meine Eltern waren schon im Dezember klug genug gewesen, sich bei seinem Weihnachtsbesuch ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Ein Jahr später boten sie ihm sogar das Du an.

Foto: Privatarchiv H. R.

Harald hatte wie seine Eltern Volkswirtschaft studiert und seinen Schreibtisch inzwischen bei der Hamburgischen Landesbank. Wie seit dem Abitur verbrachten wir nach wie vor die Wochenenden und die Ferien gemeinsam, zwischen Erstaufführungskino und Mittelmeerküste. Hans-Dieter war entschwunden. Dafür waren Silke und Esther hinzugekommen. Ihr Elternhaus lag gleich neben Haralds, aber kennengelernt hatten wir sie durch meinen Beruf. Silke war das gelungen, was ich nicht schaffte: Sie hatte bei Artist Promotion Klassik begonnen und war zu den Pop-Interpreten gewechselt. Ihre jüngere Schwester studierte Mode. Wir bildeten eine winzige Elbvorortsclique. Da war Roland aus Berlin-Gesundbrunnen schon sehr anders. Fiel aber nicht gleich auf. Er war in Stuttgart aufs humanistische Gymnasium gegangen und konnte auch sonst mit Messer und Gabel essen. Bei uns zu Hause lieferten wir beide uns häufig Wortgefechte, die in Handgreiflichkeiten mündeten, unter fremden Leuten waren wir immer passend angezogen.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Ich war Produzent bedeutender Künstler. Roland studierte Jura. Mit Harald, Silke und Esther gab es am 19. Juni Cocktails und Fisch aus dem Ofen. Mein Geburtstag: ein Heimspiel. Am Klavier war ich nur Durchschnitt, doch bei Drinks und Speisenfolgen war ich unschlagbar.

Video (Ausschnitt aus ‚Quellental‘): Privatarchiv H. R.

Was in der Welt los war, blieb uns nicht verborgen. Aber wer Business-Class fliegt, sieht die Dinge ja mehr von oben herab, und was mich betraf: Wenn die Menschheit auf meine Lieder verzichtete, konnte sie ja wohl nicht erwarten, von mir gerettet zu werden. Wir fühlten uns jung und kosmopolitisch. Wir wären genauso gern Engländer, Franzosen oder Amerikaner gewesen. Wir fanden uns nicht verantwortlich für die Taten oder Tatenlosigkeit unserer Eltern, wir genossen unsere Privilegien und wir wollten die Welt bereisen, nicht verändern.

Im April 1979 hatte Ajatollah Chomeini die Islamische Republik Iran ausgerufen. Im Mai war Margaret Thatcher zur britischen Premierministerin ernannt worden. Am Tag vor meinem 33. Geburtstag hatten Leonid Breschnew und US-Präsident Jimmy Carter die Verträge zur Begrenzung der Nuklear-Waffensysteme unterschrieben. Der US-Senat wird später die Ratifizierung verweigern. Die Angst vor einem Atomkrieg fand ich immer hysterisch. Angst hatte ich nur davor, etwas zu versäumen. Im September würde ich mit Roland und Harald auf Mykonos sein – Tag und Nacht zu allem bereit. Im Dezember würde ich im Hotel ‚Vier Jahreszeiten‘ den Medien Bernsteins ‚Beethoven-Zyklus für das neue Jahrzehnt‘ anpreisen. Er selbst und Roland hörten auch zu.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Zwischendurch war ich zum ersten Mal seit meiner Entbindung im Krankenhaus gewesen. Mit einem Hals wie ein Nilpferd und hohem Fieber. Sicher ein Andenken an die Mykonos-Nächte in meinem Blut. Keiner wusste, was es war. Aber Morphium half. Von da an rätselte ich immer, was ich denn versäumt hätte, wenn ich damals gestorben wäre. Lange Zeit dachte ich: nicht viel. Was noch kommen würde, würde schön, schrecklich und bedeutsam werden, aber doch nur eine Weiterentwicklung dessen, was 1979 schon angelegt gewesen war.

Die meisten Religionen wollen kein Immer-mehr. Einfach nur ‚weiter‘, das reicht ihnen. Also kein ‚weiter‘ im Sinne von ‚darüber hinaus‘, sondern ein schlichtes Vorwärtsschreiten, immer geradeaus, ohne erlebbaren Fortschritt. Religionen sind konservativ, sie bewahren. Ans Wachstum glaubt vor allem der Kapitalismus, sonst krepiert er. Der Kapitalismus braucht immer mehr. Das nehmen ihm alle Linken übel. Trotzdem ist deren Weltbild inzwischen fundamentaler gescheitert als das der skeptischen Marktbefürworter. 1979 ist das Buch ‚Die Grenzen des Wachstums‘ sieben Jahre alt. Wer ’s glaubt, wird alles andere als selig, doch zunächst mal geschieht – nichts! Haben die Religionen recht, wenn sie den Sinn nicht im ‚Schneller, höher, weiter‘ sehen, sondern in der Wiederholung, beim ewig gleichen Gebet: im katholischen Rosenkranz, in den Suren des Korans? Meditation im Buddhismus. Läuft Ereignislosigkeit auf irgendein Ziel hinaus? Stillstand ist Tod, glaubte ich. Kann Wiederholung Leben bedeuten? Grenzenlos wollte ich sein, und ich machte mir vor, dass ich es war – das ganze folgende Jahrzehnt hindurch.

Foto oben: Rob Bogaerts/Anefo/Wikimedia Commons, CC0 1.0 DEED | Foto unten: Privatarchiv H. R. | Titelbild mit Material von Shutterstock: Bodor Tivadar (Schallplatte), YummyBuum (Martini), Bill Fitz-Patrick/Wikimedia Commons, gemeinfrei (Vertragsunterzeichnung USA – UdSSR), sowie aus Privatarchiv H. R.

40 Kommentare zu “#5.3 | Ereignislosigkeit als Ziel?

  1. Hahaha, Herr Rinke, genau wegen solcher Sätze feier ich den Blog:
    Bei uns zu Hause lieferten wir beide uns häufig Wortgefechte, die in Handgreiflichkeiten mündeten, unter fremden Leuten waren wir immer passend angezogen.

    1. Außerdem finde ich es eine wirkliche Ausnahme, dass ein Autor so aktiv über seine Texte und Themen mitdiskutiert. Das gibt ohne Frage nochmal einen ganz anderen Anreiz zum Lesen. Schließlich ist der Austausch über einen anregenden Text oft genauso interessant, wie der Text an sich.

      1. Bei den Texten brauche ich ja bloß zu schreiben. Für die Kommentare muss ich richtig nachdenken.

  2. Die Angst vor einem Atomkrieg war genauso übertrieben wie die Angst davor, dass der dritte Weltkrieg kurz bevor steht. Trotzdem verfolge ich mach wie vor gleichermaßen erstaunt wie interessiert, wie stark die Spannungen momentan allerorts sind. Das scheint mir lange nicht da gewesen zu sein.

    1. Wenn Putin seine ‚Stärke‘ mit dem Wurf einer Atombombe beweisen wollte, würde er wohl nicht lange genug leben um das wirklich als Erfolg über den Westen zu feiern.

      1. Es würde ihm ja nichts anderes übrig bleiben. Ich würde mich Andreas Rohrbach aber anschließen. Ich glaube auch nicht, dass es Putin so weit kommen lassen würde.

      2. Im russischen Fernsehen wird damit gedroht, Kiew auszuradieren oder ganze Länder der Nato mit Atombomben einzuäschern, bis dann die überfällige «Entnazifizierung» Berlins ansteht.
        «Wir müssen bis zu natürlichen Grenzen vorstossen», bis zum Atlantik, sagte Kreml-Chefpropagandisten Wladimir Solowjow. Als Teil des Russischen Reiches hätten die Portugiesen ein wunderbares Leben.
        Noch Fragen?

  3. Die sich ewig wiederholende Meditation im Buddhismus hat ja sehr wohl ein Ziel, man will ja schließlich das Nirvana erreichen.

    1. Der Gedanke, dass Religionen von Natur aus konservativ sind, würde ich trotzdem unterstreichen. Schließlich muss sich die jeweilige Religion ja recht strenge Grenzen setzen um auf Dauer nicht beliebig und letztendlich sinnlos zu werden.

    2. Man könnte das Nirwana nonchalant als Ereignislosigkeit bezeichnen. Ich bin aber nicht der Meinung, dass dieses Ideal damit zutreffend beschrieben wäre.

      1. „Requiem aeternam“ – „ewige Ruhe“: Die katholische Liturgie trifft es doch ganz gut.

  4. Kann Wiederholung Leben bedeuten? Ich glaube, das kommt ganz darauf an, wie man das meint. Wiederholung bzw. Routine gibt vielen Stabilität im Leben. Oder Entspannung, wie bei der Meditation oben. Man will ja auch gar nicht alle paar Sekunden neue Eindrücke verarbeiten. Zumindest wenn es darum geht eine Tätigkeit auszuüben, auf der Arbeit oder beim Autofahren. Wenn Wiederholung aber Eintönigkeit, Langeweile und Leere bedeutet, dann ist nicht viel Leben da.

    1. Genau wie konservieren auch nicht immer gleich Stillstand heißen muss. Möchte man z.B. an bestimmten Werten festhalten, die einem besonders wichtig sind, dann meint das nicht unbedingt auch, dass sich die Welt gar nicht mehr weiterbewegen darf.

      1. Ja, das ist ein guter Punkt. Und auf manches, das man über Jahre behalten hat, schaut man irgendwann und entscheidet sich, sich doch davon zu trennen.

  5. Was in der Welt los ist sieht man doch nur dann aus der Entfernung, solange es einen nicht persönlich betrifft. Die Perspektive kann sich schnell verschieben, wenn sich die Situation etwas ändert.

      1. Zum Beispiel, wenn einem die Flugbegleiterin* Tomatensaft über die Bluse* kippt.
        *geschlechtsneutral

  6. Nach dem was ich bisher über Ihre Eltern lesen konnte, bin ich nicht überrascht über diese entspannte Reaktion auf das Treffen mit Roland. Als meine Eltern damals meinen ersten ernsten Lebenspartner kennengelernt haben, war das ein weitaus schwieriger Prozess als es das in Ihrer Familie gewesen zu sein scheint. Immerhin haben meine Eltern nach langem Überfordertsein akzeptiert, was sie eh nicht hätten ändern können.

    1. Wenn am Ende Akzeptanz herauskommt, kann man schon sehr zufrieden sein. Ich bin immer wieder schockiert, wenn ich in den Nachrichten von Fällen lese, die weitaus weniger gut ausgehen. Dass Homosexualität im Jahr 2023 immer noch ein Thema ist, sagt viel über die Menschen.

      1. Was man nicht ändern kann, muss man akzeptieren oder meiden. Die Moralvorstellungen des Christentums haben als Herrschaftsinstrument ausgedient. Die des Islam leider noch nicht, und in keinem dieser Länder bringen es die Menschen zu Wohlstand.

      2. Ein wichtiger Schritt ist nach wie vor einen Weg zu finden mit all den Fehlinformationen umzugehen. Solange die Menschen so einfach manipuliert werden können sind Demokratien in allen Ländern in Gefahr.

      3. Ich sage ja immer: Es braucht einen Führerschein, um wählen zu dürfen. Ein Wahlergebnis kann schlimmer sein als ein Verkehrsunfall. Ob 16-Jährige Wähler in Zukunft dazu beitragen würden, die Situation zu entschärfen, kann ich nicht beurteilen.

      4. Man sollte eigentlich schon in der Schule viel mehr über die politische Landschaft und die aktuellen Themen sprechen. Bei mir fand beides nicht statt. Ich bezweifle, dass das heute anders ist.

      5. In meiner Schulzeit wurden im Fach Religion die einzelnen Religionen miteinander verglichen, zum Schluss lasen wir Kirchengeschichte auf Lateinisch (großes Latinum). Unser Klassenlehrer war Jude und Kommunist. In seinem Geschichtsunterricht kam alles zur Sprache. Zum Abitur, Jahrgang 1965, fühlte ich mich als Klassenjüngster durch Schule und Elternhaus ganz gut aufs Leben vorbereitet. Trotzdem hatte ich noch viel zu lernen.

  7. Gay ist ja mal ein Name, der es auf den Punkt bringt. Sowas wie „The Sausage Factory“ oder „Head Hunters“ finde ich aber witziger.

      1. Dass sich ein Szene-Lokal selbstbewusst ‚Schwule Sau‘ nennt, wäre unter Adenauer unwahrscheinlich gewesen. Heute heißt sogar ein Kinderbuch so, Vorname: Eberhard.

      2. Das habe ich sofort gegoogelt. „Eine Lerngeschichte für kleine und große Schweine“. Oh je, oh je, das ist ja wieder etwas, worüber sich die AfD-Wähler freudig empören können.

      3. Auch für Oberammergauer CSU-Wähler und Duisburger Sozialisten-Stammtische würde ich meine Hand oder ähnlich empfindliche Körperteile nicht ins Feuer legen.

  8. Sie waren wirklich in Ihren Dreißigern das erste Mal im Krankenhaus? Ich bin ja wirklich kein Hypochonder, aber das scheint mir fast selten…

    1. Ich musste in meinem Leben bisher auch nur 2x im Krankenhaus behandelt werden. Warum sollte man dorthin, wenn man nicht schwer erkrankt oder sich einen Bruch o.ä. zuzieht?

  9. Ein bisschen hat sich die Zeit geändert. Heute will man zwar vielleicht noch Engländer, Franzose oder Amerikaner sein, aber nicht mehr unbedingt in den jeweiligen Ländern leben. Brexit, Le Pen mit immer größeren Chancen, eine bevorstehende Trump-Wiederwahl? Zu unsicher ist das alles.

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