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DIE ELF  —   7. Kapitel: FÜNFUNDFÜNFZIG

#7.2 | Wie das Leben weitergeht

Schon im Jahr nach Rolands Tod sah ich keinen Sinn mehr darin, mit meinen Musikkenntnissen Geld zu verdienen und kündigte. Was genau ich mir damals mit Mitte vierzig vorstellte, dessen bin ich mir nicht sicher. Schreiben, Leben, Berühmt-Werden. Eins davon oder alles zusammen. Ein Umzug nach Berlin oder nach Florenz stand zeitweise zur Diskussion bei meinen vielen inneren Brainstormings. Zumindest bekam ich durch bestehende Seilschaften die Gelegenheit, zwei Filme zu konzipieren und zu realisieren. Für Arte und ARD. Archivmaterial, Studioaufnahmen, Landschaften, Dokumentationen. Es ging um Musik. Zur Freude meiner Weltläufigkeit boten Herkommen und Auftritte der Interpreten die Möglichkeit, Schauplätze wie Istanbul, New York, Tel Aviv und Moskau einzubeziehen. Überall zu Hause, überall ein bisschen fremd. So kam ich mir vor.

Foto: Privatarchiv H. R.

Mein Wechsel von Super-8 zum regulären Fernsehen verlief problemlos. Aber dann war Schluss. Ich schrieb einen Roman und digitalisierte weiter meine früheren Hervorbringungen. Das Geld reichte. Ich hatte mich wohnlich eingerichtet im Unglücklichsein. Im Sommer 1999 zogen nach langem Umbau meine Eltern ins Parterre meines Kutscherhauses. Ende 2000 wurde mein Vater in ein Heim mit Rundumpflege transportiert. Seither lebte meine Mutter unten, ich oben. Ihre zunehmende Demenz steckte ich weg wie zuvor Rolands Aids: mit einer Kombination aus Galgenhumor, Gleichgültigkeit und Verzweiflung. Zu meinem Geburtstag geschah nichts Erwähnenswertes. Ich weiß nicht mal, was. Ich hatte einen ganz ordentlichen Kreis guter ‚Freunde‘ (damals waren die vielen weiblichen in solch einer Bezeichnung noch mitgemeint). Wir werden wohl irgendetwas Wohlschmeckendes gegessen haben.

Die Ärzte sagten, mein Vater litte nicht. Er sei gleichmütig gestellt. Es tat gut, ihnen zu glauben, damals. Heute mache ich mir gelinde Vorwürfe, ihn nicht bei uns behalten zu haben. Irene konnte es nicht mehr bewältigen. Er zeterte den ganzen Tag lang, und ich wechselte seinen Blasenkatheter im Bewusstsein, etwas Nützliches zu tun. Aber ohne ihn war es dann doch gemütlicher, besonders in der Gewissheit, dass es für ihn das Beste sei.

Foto: Privatarchiv H. R.

Im Juli fuhr ich Irene zu unserem Haus in Meran, anschließend brachte uns mein italienischer Freund Giuseppe nach Venedig. Silke kam dazu. Sie lebte inzwischen in Wiesbaden. Esther hatte drei Kinder in Frankfurt. Harald verbrachte die Zeit frühpensioniert in seiner Anderthalbzimmerwohnung. Pöseldorf, immerhin. Seine Teeküche diente der Aufbewahrung von Wodka, ansonsten speiste er im Block House um die Ecke, wurde mir berichtet. Macht täglich Steak zufrieden? Eine zweite Annäherung zwischen Harald und mir nach Rolands Tod hatte sich nicht ergeben. Die absurde Nonsens-Sprache, die wir Ende der Sechzigerjahre entwickelt hatten, wurde nicht mehr gesprochen. Stattdessen schrieb ich praktisch täglich ungefragt E-Mails an ausgewählte Adressaten, aus Angst, ich könnte andernfalls meine Skurrilität einbüßen. 2001 war ich kein Pop-Experte mehr, aber modern genug fürs Internet.

In den Neunzigerjahren war der Glaube verbreitet gewesen, die Welt könne nach dem Untergang des Ostblocks ihrer Zukunft in demokratischen Verhältnissen gelassen entgegenleben. Doch dann: Ab März 2000 war der Neue Markt eingebrochen, aus der DDR waren nur zum Teil blühende Landschaften geworden, und am 11. September würde die Hoffnung auf dauerhaften Frieden in Schutt und Asche versinken.

Mein 60. Geburtstag passt nicht in unser Elfer-Schema, darum erwähne ich ihn nicht. Aber wortlos ein paar Bilder zu zeigen – das ist doch heute nicht nur erlaubt, sondern ein ‚Social Must‘!

Video (Ausschnitt aus ‚Quellental‘): Privatarchiv H. R. | Titelbild mit Material aus dem Privatarchiv H. R. (3) sowie von Freepik (Illustration Teller/Französische Küche)

47 Kommentare zu “#7.2 | Wie das Leben weitergeht

  1. Oh! Dass Sie nach dem Verlust Ihres Lebenspartners die Stelle bei der Grammophon aufgegeben haben, war mir gar nicht klar gewesen. Dass muss auch nochmal ein großer Schritt gewesen sein. Aber es kommt mir logisch vor, dass man nach so einem Einschnitt sein Leben nochmal neu ausrichten will.

      1. Tja, wie das Leben eben weitergeht. Manches kann man gut selbst beeinflussen. Vieles aber eben nicht. Man kann nur versuchen seinen Weg nicht komplett zu verlieren oder sich so gut es geht anzupassen und neu auszurichten. Gegen das, was einem das Leben vor die Füße wirft, angehen kann man nicht.

  2. Diese Entscheidungen bezüglich der Pflege der Eltern kenne ich auch nur zu gut. Es ist wahrlich unglaublich schwer es für alle richtig zu machen. Was wollen die Pflegebedürftigen? Was will ich? Was kann ich mir überhaupt zumuten? Mit all dem muss man erst mal umgehen können.

    1. Ein guter Freund war sein Leben lang der Überzeugung gewesen, dass er seine Eltern auf gar keine Fälle in ein Heim geben würde. Als sein Vater irgendwann nicht mehr ohne Pflege auskam, nahm er ihn zu sich nach Hause und merkte schnell wie sehr er die Situation unterschätzt hatte. Sich um jemanden zu kümmern, der nonstop Beobachtung und Hilfe braucht ist ein Knochenjob. Wer parallel dazu arbeiten geht, kann das fast nicht stemmen.

      1. Guter Wille reicht nicht. Talent und Fachwissen sind nötig, sonst hört der Wille irgendwann auf, gut zu sein.

      2. Und dazu kommt der Zeitaufwand. Pflege ist ja mitunter ein Vollzeitjob. Even je nach Bedürftigkeit des Patienten.

      3. Man kann sich noch so oft sagen, dass dieser Zeitaufwand ja sinnvoll und lohnend ist – irgendwann hören die meisten Menschen auf, sich zu glauben.

      1. Kostproben sind in der Rubrik ‚Kinosaal‘ zu finden, ganz oben, direkt unter meinem Namen.

      2. Stimmt. Ich vergesse bei allem Neuen manchmal was der Blog alles zu bieten hat. Danke für den Reminder.

    1. ARD und Arte … oh wow, das verdient nochmal zusätzlichen Respekt. Ihren Roman „Fast am Ziel“ habe ich letztes Jahr mit Freude gelesen. Dass es filmisch ebenfalls so viel zu entdecken gibt, habe ich wohl größtenteils übersehen.

  3. Was hat sie denn letztendlich dazu bewegt doch nicht umzuziehen und in Hamburg zu bleiben? War die Entscheidung schon durch das Altern ihrer Eltern bestimmt? Nach ihren zahlreichen durch Ihren Job bedingten Reisen, wäre ein Umzug (Berlin, Florenz, wer weiss wohin noch…) gar nicht überraschend gewesen.

    1. Ich kam nach dem Fall der Mauer überall so schnell hin: mit dem Flugzeug, mit der Bahn, mit dem Auto. Da wollte ich nicht meine ganzen Bücher, Videos, CDs auch noch mitschleppen müssen. Bequemlichkeit und Verantwortungsgefühl hielen sich die Waage.

    1. Das muss man wohl so sagen. Es gab ja nicht wirklich mal eine Zeit wo es nirgendwo auf der Welt Kriege gegeben hätte. Und es sieht wirklich nicht so aus als ob wir uns in Richtung friedlicherer Zeiten begäben.

      1. Frieden gibt es nur unter einer Weltherrschaft mit genmanipulieren Untertanen.

      2. Killer-Roboter sind ja eine Aussicht, die der Bezeichnung ‚Letzte Generation‘ eine neue Berechtigung gibt.

      3. Da die KI, zumindest in der Theorie, nicht emotional sondern nur nach logischen Zusammenhängen entscheidet, sollte ein KI-geführter Atomkrieg erstmal nicht in Frage kommen.

  4. Man kann sich ja fast glücklich schätzen, dass Sie sich nach der Karriere bei der Deutschen Grammophon mehr auf das Schreiben konzentriert haben. Sonst würde es diesen Blog wohl auch nicht geben.

    1. Ich finde es eh immer spannend, wenn sich ein talentiertes Leben nicht nur auf eine Karriere beschränkt. Und klar, für die Blogleser ist es natürlich eine Freude.

      1. Viel ist noch auf Lager, und in der Gegenwart geht der Stoff auch nicht aus.

  5. Dement zu werden gehört zu meinen größten Ängsten. Ich habe zwar nicht bei meinen eigenen Eltern, aber bei meinen Schwiegereltern sehen müssen, wie schlimm das sein kann.

    1. Ich hoffe, wenn man sehr dement ist, merkt man es nicht mehr. Bewusstseinsnarkose. Ob das stimmt, werde ich dann wohl nicht mehr sagen können.

      1. Wahrscheinlich wird das ab einem bestimmten Zeitpunkt so sein. Aber bis es soweit ist… Man kann nur hoffen, dass es der Wissenschaft irgendwann gelingen wird ein Mittel gegen diese schlimme Krankheit zu finden, oder zumindest etwas, dass den Verlust der kognitiven Fähigkeiten etwas verzögern kann.

      2. Je älter die Menschen werden, desto mehr solcher Verschleißerscheinung wird es gelten zu bekämpfen

      3. Da ist was dran. Manchmal fragt man sich ob es wirklich das Ziel sein kann 100 Jahre alt zu werden.

  6. „Irene konnte es nicht mehr bewältigen.“ ist der Satz, der einen am traurigsten macht. Da lebt man ein ganzes eben lang zusammen mit einem geliebten Menschen und dann kommt irgendwann der Tag, an dem man sich eingestehen muss, dass es einfach nicht mehr geht. Mir graust es sehr vor so einem Moment.

    1. Durch Rolands Dahinsiechen hatte ich dieses Erlebnis schon mit Mitte Vierzig. Danach bin ich keine feste Verbindung mehr eingegangen.

      1. Das ist überaus traurig zu lesen. Ich verstehe Sie andererseits nur zu gut. Wenn man einmal solch einen Schmerz ertragen musste, dann verändert sich alles. Ich musste das aus nächster Nähe miterleben, als die Tochter einer guten Freundin nach schwerer Krankheit verstarb. Das Leben ist nicht mehr dasselbe. Bestimmt liebt man auch weniger, weil man einen ähnlichen Verlust nicht ertragen könnte. Es sollte ja eigentlich tröstend sein, dass kaum ein Mensch durch sein Leben kommt ohne einen großen Verlust verschmerzen zu müssen. Aber es macht mir hauptsächlich Angst.

      2. Das sind alles fürchterliche Schicksale! Das Leben kann unglaublich grausam sein.

      3. Das Leben geschieht einfach. Wir sind es, die es mal herrlich, mal grausam, mal eintönig finden. Solange wir das Geschehen selbst noch beeinflussen können, gibt es Hoffung.

      4. Es ist wohl auch das Einzige, das man tun kann. Sein Leben so gut es geht zu lenken und mit allem was rund um einen herum passiert so umzugehen, dass man morgens mit gutem Gewissen in den Spiegel blicken kann.

      5. Gewissen und Spiegel haben ein ambivalentes Verhältnis zueinanden. Manchmal dauert es Jahre, bis ein Bild entsteht, das beide in Einklang bringt.

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