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Sprünge von Türmen  —   2. Kapitel: DER TÄTER

DER TÄTER – Blaue Stunde | #1

Jedes Mal, wenn ich sehe, wie das tintige Blau des Spätnachmittags von der hereinbrechenden Nacht aufgesogen wird, horche ich für ein, zwei Minuten reglos in die Dämmerung. Dann scheint es mir, als müsse alles Leben ersticken, Aschenregen begraben den sinkenden Tag und konservieren seine Mumie für Stunden, für Tage, für immer. Der Meeresgrund, der eben im verebbenden Licht noch greifbar war, rückt fern, die Schlingpflanzen werden wieder zu Bäumen, schattenhaft, tot.
––Aber ich lausche umsonst. Meine Furcht ist unbegründet. Kein plötzlicher Lärm schreckt die Stille auf, nie mehr, nie wieder. Ich warte darauf, überrumpelt zu werden, doch die Verwandlung geschieht allmählich. Die erstarrte Dämmerung schmilzt in den Abend, der seine Gesetze kennt und seine Macht nutzt. Lichter bohren sich in die Finsternis, und das Leben rinnt achtlos über die Schwelle der Nacht.
––Ich liebe die verregneten Nachmittage, die frühen Vorboten des Schlafes. Wenn der Wind ihr fahles Grau in mein Zimmer schwemmt, dann weiß ich, dass das grässliche Geräusch ausbleiben wird. Die Blätter, die wie Strandgut am Fenster vorbeitreiben, zeigen mir, wie nutzlos alles Leben auch ohne menschliches Zutun wird, und ich bin beruhigt. Dann wieder, wenn der Tag mild war und sonnig, bricht unversehens das tiefe Blau über mich herein. Ich selbst bin die Mumie, die am Meeresgrund lauert, und ich stoße den Schrei aus, nach dem ich mich sehne. Aber nie dauert dieser Zustand lange. Schon mit dem dünnen Licht der ersten Sterne gewinne ich meine Ruhe zurück, und mir wird bewusst, wie töricht es war, das Geheimnis preiszugeben.
––Bis zum Morgen bin ich erlöst.

Ich habe mir abgewöhnt, chronologisch zu denken. Die Zeit ist für mich kein Maßstab mehr. Aber die Dimensionen meines Denkens zu erklären, wäre nicht nur umständlich, sondern auch sinnlos. Mir liegt lediglich daran, die Schwierigkeiten aufzuzeigen, die es mir macht, alle Ereignisse in zeitlich richtiger Reihenfolge darzustellen. Denn ich fühle, dass die Gesetze von Ursache und Wirkung, Anlass, Entschluss, Verstrickung, Vertiefung, Ausbruch und Ausführung für Sie ein langwieriger Prozess sein müssen. Was ich als Einheit sehe, erscheint anderen als allmähliche Entwicklung. Für mich beginnt meine Geschichte dort, wo die meisten ihr Ende annehmen.
––Aller Anfang ist die Katastrophe, der verheerende Ausbruch von Vernichtung, der im Zentrum liegt und die Verwüstung nach allen Richtungen hin vorwärtstreibt. Jede Welle erfasst einen weiteren Umkreis. Doch während die Größe des Gebietes, das in das Unheil einbezogen wird, ständig wächst, schrumpft das Ausmaß der Zerstörung, die jede Welle anrichtet, mehr und mehr, bis ihre Wirkung im Unendlichen erlischt. Je weiter sich das Übel ausbreitet, desto mehr büßt es von seiner Kraft ein.
––Endlich wird ein neuer Stoß notwendig. Ein neuer Ausbruch, eine neue Katastrophe, eine neue Verbreitung. Ich denke in Kreisen, in Strudeln, Wirbeln. Mein Bezugsort ist ein Punkt. Von diesem Punkt geht eine Spirale aus, auf der ich alles einordnen kann, was mich beschäftigt.
––Hat der lineare Verlauf der Zeit einem so grandiosen System etwas entgegenzusetzen? – Nichts als einen langen, platten Strich. Primitivität. Doch ich hatte versprochen, Sie nicht mit der Technik meines Denkens zu langweilen. Ich weiß, Langeweile ist eine tückische Folter und sie zu erzeugen ein wirkliches Verbrechen. Man kann sich mit vielem abfinden: Mit schlechtem Essen, geringem Einkommen, mit der eigenen Unzulänglichkeit, dem Unverständnis der anderen, aber nie mit der Langeweile, und sicher würde ich eher alle Schrecken eines vom Wahnsinn geängstigten Lebens ertragen als die bezuglose Leere, dieses langsame Absterben aller Sinne, das die Langeweile mit sich bringt.
––Es gibt Menschen, die sich nie langweilen, nicht einmal beim Zähneputzen, andere langweilen sich hin und wieder, etwa beim Friseur oder in der Straßenbahn. Aber ich meine eine andere Art von Langeweile, die nicht von ermüdenden Beschäftigungen oder einem kurzfristigen Mangel an Beschäftigung herrührt. Ich denke vielmehr an Windstille. Eine endlose, sandige Ebene ohne Wolke, ohne Zeichen, ohne Regung. Nirgendwo das fruchtbare Gewitter der Ungeduld. Aus diesem Zustand gibt es kein allmähliches Entrinnen, keine mühselige Befreiung. Nur ein brutaler Schlag, die Ausführung eines nie gefassten Entschlusses kann da noch helfen. So wie man sich ein Pflaster mit einem einzigen schmerzhaften Ruck vom Arm reißt, muss man sich selbst emporheben und aus dieser Wüste herauskatapultieren.

Wagt man den Sprung über seinen eigenen Schatten in die Freiheit, so erscheint plötzlich alles fesselnd, bezogen, was vorher öde lag. Alles ist wert, es zu erforschen, es zu erkämpfen. Doch nur wenige springen. Die meisten zweifeln daran, dass sich die Mühe lohnen würde. Außerdem reichen ihre Fähigkeiten nicht aus.
––Ich beobachte sie täglich auf ihren Spaziergängen, bei ihren Spielen. Ich beobachte sie, wenn sie sich entschlusslos im Sand rekeln und erblindend in die Sonne starren, jene Kugel, um die unsere runde Welt kreist, während sie sich gleichzeitig um sich selbst dreht. Und nirgendwo gibt es einen Anfang, nirgendwo ein Ende. Alles ist bezogen zu unauflöslicher Verkettung, rastloses Karussell, von dem abzuspringen tödlich wäre.

Reglos kauerte ich auf dem Fensterbrett und genoss das Blau. Wie eine wohltätige Salbe drang es in meine Poren, ich sog es ein, ich badete es. Was diese halbe Stunde zwischen Tag und Nacht für mich so ergreifend machte, war die Erkenntnis, dass mein innerer Zustand hier fast vollkommen in Natur übertragen war. Empfindung übersetzt in gegenständliche Anordnung, Zustand in Form.
––Dieser kurze Zeitabschnitt hat immer etwas Endgültiges, Ruhendes, Lebloses und ist doch nur ein Übergang, der bedächtige Schritt zwischen Licht und Dunkel. Jede Sekunde bringt Veränderung, gleicht sie auch äußerlich der vorigen wie ein Stern dem anderen, unterschieden nur durch ein matteres Leuchten, das vielleicht auf Täuschung beruht, ein Flimmern der Luft, ein Blinzeln. Doch mir erscheint dieser Zeitraum immer entrückt, jenseits aller Gesetze, die uns lenken. Verwunschen, verzaubert.
––Warum tut man gewisse Dinge nicht? Weil es sich nicht gehört? Weil man die Folgen fürchtet? Weil es ein Chaos gäbe, wenn andere auch so handelten und man sich keine größeren Rechte zubilligt als ihnen? Sind es also Feigheit und Bequemlichkeit, die uns lähmen? Oder fühlen wir, fühlen alle von uns oder doch einige eine moralische Verantwortung, legen sie sich Pflichten auf aus ethischen Gründen, bejahen sie ihren Verzicht, ihre Entbehrung, die Eintönigkeit ihres Daseins, ihrer gradlinigen Entwicklung, ohne dem Versäumten nachzutrauern? Diese Frage lässt sich für den, der sie sich stellt, nur beantworten durch ein eigenmächtiges Ausbrechen aus dem vorgezeichneten, eingeplanten Leben. Ein mitleidloses Zerschlagen aller Werte, Aussichten, Hoffnungen. Eine Wende um eine ungewisse Anzahl von Graden, die uns zwingt, neu zu beginnen und neu zu ordnen.
––Unser Leben zerstören, damit wir es begreifen statt zu verbrauchen, prüfen, was es ist, das immer wieder neu entsteht aus den Trümmern.
––Das war auch der Grund, warum ich immer wieder zustieß mit diesem lächerlichen Messer, hinein in die entsetzten Schreie und schon erfüllt von dem sanften Ärger, nicht Herr meiner Sinne zu sein. Das Nachgeben, das Erlöschen reizten mich zu neuen Hieben, die ich – weiß der Himmel warum – als ungerechtfertigt empfand. Natürlich ekelte mich das Gestellte der Situation, das Konstruierte, Erfundene. Aber auf der anderen Seite berauschte es mich auch. Diese Wirklichkeit war meine Erfindung. Sie war nicht eingeplant gewesen, sie war völlig sinnlos und bedeutete doch einen tiefen Einschnitt, den ich geschaffen hatte, mein Werk. Eine Entscheidung, ein Bekenntnis.
––Mich ergriff ein Taumel, dessen ich mich schämte, weil er mein Experiment auf das Niveau einer Bluttat herabwürdigte.
Aber auch das schien im Grunde belanglos. Nicht das Motiv war entscheidend, sondern die eigenmächtige Handlung und ihre Folgen auf mein Wesen. Niveau? Irgendeine fließende Linie erfundener Werte! Und um mich her Blau.

Titelillustration mit Material von Shutterstock: Quality Stock Arts (Uhr), Just Dance (Mann)

34 Kommentare zu “DER TÄTER – Blaue Stunde | #1

    1. Ich glaube dafür ist unser Gehirn gar nicht gemacht. Gedanken kommen und gehen doch meistens viel ungeordneter. Ordnung bringen wir dann erst selbst hinein.

      1. Bei Ereignissen, in der Erinnerung von Geschehnissen, in Politik und Geschichte und bei der Planung von Veranstaltungen und Lebensführung denke ich immer chronologisch.

      2. Hmmm, das Resultat bzw. meine Planung wären wohl auch chronologisch. Der Denkvorgang, der dorthin führt, aber eher nicht. Dazu gibt es zu viele Ideen, die organisiert und verarbeitet werden müssen.

      3. Um ehrlich zu sein habe ich noch nie darüber nachgedacht, wie ich nachdenke. Werde ich mal genauer beobachten müssen 😉

      4. Als ich zehn war, mahnte schon meine drei Jahre ältere Nachbarin: Wenn du denkst, du denkst, denkst du nur, du denkst, denn das Denken der Gedanken ist gedankenloses Denken.

  1. Langeweile, so wie sie dieser ‚Täter‘ beschreibt ist etwas wunderbares. Wenn man sich so dem Moment hingeben kann und alles um sich herum beobachtet und irgendwie genießt, diese innere Ruhe ist mir immer sehr kostbar.

    1. Na Moment, aber er braucht doch schlußendlich einen „brutalen Schlag“ um dieser Langeweile zu entkommen?! Das klingt weniger wunderbar.

    2. Langeweile, die nicht rädert, sondern guttut, heißt „Muße“ oder „Entspannung“. Was für den einen „Wellness“ ist, ist für den anderen öde Ereignislosigkeit. Mancher muss das Nichtstun erst lernen, andere wie Achenputtels Schwestern und die Pechmarie sind mit dieser Gabe schon geboren. Im Märchen wird sie allerdings nicht als gute Eigenschaft anerkannt…

      1. Oder wie die Garbo anzumerken wusste: Das Leben wäre so wunderbar, wenn wir nur etwas damit anzufangen wüssten.

  2. Warum man gewisse Dinge nicht tut? Weil man meistens weiss, dass sie entweder einem selbst oder jemand anderem schaden würden. Ich glaube das ist der Hauptgrund.

  3. Auf wen oder was der Täter da wohl einsticht? Letztendlich kann man eine Bluttat wohl eh nicht verstehen. Rational zu erklären ist so etwas sicherlich nicht.

    1. Und doch gibt es unendlich viele Versuche in Literatur, Film, allein 50 Dokumentationen auf Netflix über Serienkiller 😉 … diese Faszination ein Grauen verstehen zu wollen ist wohl tief in uns verankert.

      1. Klar, man will doch verstehen, was man eben nicht versteht. Alles andere ist doch langweilig.

  4. Was dieses blau so alles beim Täter auslöst?! Vielleicht ziehe ich deshalb die Goldene Stunde der Blauen vor 😉

      1. Hahaha die kenne ich nicht so genau. Aber warum nicht, rosa ist auch nicht schlecht.

  5. Gewalt aus Langeweile ist mir richtig unheimlich. Vor allem anderen kann man sich ja irgendwie schützen. Aber solch zufällige, planlose Gewalt … da hat man eben keine Chance.

    1. Geplante Gewalt kann natürlich ebenso gefährlich sein, aber klar, Unberechenbarkeit ist nun einmal unberechenbar.

    2. Man muss wohl noch ein paar Kapitel abwarten, bis man sich ein wirkliches Bild von diesem „Täter“ machen kann.

      1. Ja klar, sich kein Bild machen geht ja gar nicht. Aber momentan liegt alles noch etwas im Ungewissen.

    3. Gewalt aus Langeweile geht ja oft von (jugendlichen) Gruppen aus: sinnlose Zerstörung, Schläge gegen als andersartig Empfundene. Das wird politisch fast immer als „rechts“ oder „links“ eingestuft. Der einzelne aus der Mitte wird eher tiefer sitzende Gründe für Gewaltausbrüche haben.

      1. Sehr interessant! Auch wenn ich befürchte, dass sich nur wenige Turm-Leser-innen von der Versuchsreihe mit dem Lachtaubenmännchen bis zur Kombination von Trieb und Großhirnsteuerung beim Menschen durchbeißen werden.

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