Wir sitzen auf der Terrasse.
––Der Sommerabend ertrinkt in einem Blau, das wie Betäubung über dem Garten liegt. Die Gegenstände scheinen ihre eigenen Schatten. Auf dem Tisch schimmern unsere Gläser, aus denen der Duft von Bowle steigt. Die Kerze flackert kaum. Es ist windstill.
––Brigitte spielt mit dem Henkel der Karaffe. „Hattest du zu viel getrunken?“
––„Wovon redest du?“
––„Ich verstehe nicht, wie du in nüchternem Zustand gegen eine Laterne fahren konntest.“
––„Nun fang doch nicht schon wieder damit an! Ich war in Gedanken. Ich habe nicht aufgepasst. Ich weiß, dass es unvorsichtig von mir war, aber ich habe immerhin noch gebremst und den Stoß dadurch abgefangen. Es war nur ein ganz leichter Unfall. Kein Mensch hat etwas gemerkt. Übermorgen hole ich den Wagen schon wieder ab.“
––„Glaubst du, dass es teuer wird?“
––„Ich weiß nicht! Komm, lass uns von etwas anderem reden!“
––„Vorgestern Abend ist ein Mädchen auf der Landstraße überfahren worden.“
––„Wie schrecklich! Ist es – schwer verletzt?“
––„Sie war sofort tot.“
––„Mein Gott! Hast du sie gekannt?“
––„Flüchtig. Nur vom Sehen. Vielleicht hast du sie sogar unterwegs getroffen! Du warst doch vorgestern hier.“
––„Möglich. Aber mir ist nichts aufgefallen.“
––„Da siehst du, wie schnell so etwas geht: Dienstag Morgen lebte das Mädchen noch. Gestern Morgen war dein Auto noch heil.“
––„Ein sehr geschmackvoller Vergleich!“
––„Entschuldige! Ich wollte damit sagen: Das Leben besteht aus so vielen willkürlichen Ereignissen, die man nicht vorhersehen kann. Aber das ist natürlich auch keine neue Erkenntnis.“
––„Nein. Aber du hast ganz recht. Wenn man selbst ganz plötzlich etwas Sinnloses, aber Einschneidendes tut, dann kommt man doch dem Schicksal zuvor! Man kämpft mit den gleichen Waffen.“
––„Woher weißt du denn, dass solch ein Eingreifen nicht auch vorausgeplant ist?“
––„Dann ist es aber nur noch meine Willkür, nicht die des Schicksals! Nicht das Schicksal schlägt unvorhergesehen zu, sondern ich. Das ist ein Unterschied. Man wird nicht völlig zum Werkzeug erniedrigt.“
––„Glaubst du an Vorherbestimmung?“
––„Nein! Nicht wenn man es nicht will!“
––„Das ist unlogisch. Entweder – oder.“
––„Jeder kann sich doch ungefähr ausrechnen, wie sein Leben verlaufen wird. Sicher weiß er nicht, wann er die nächste Grippe bekommt oder wo er in vier Jahren Urlaub machen wird. Aber in groben Zügen kann man seine Aussichten abschätzen. Es sei denn, man tut plötzlich etwas völlig Verrücktes, etwas, das alle Pläne zunichtemacht. Man springt von einem Zug auf einen anderen, der in entgegengesetzter Richtung fährt.“
––„Warum sollte man das tun?“
––„Um seine Kräfte zu erproben! Um zu sehen, was man schafft, wenn man in eine ganz neue Situation gestellt ist, innerlich und äußerlich, ob man durchhält, ob man zerbricht. Um nicht in seinem gemachten Nest zu verfaulen – vielleicht auch, um zu entkommen.“
––„Manchmal zweifle ich wirklich an deinem Verstand! Du bist dermaßen selbstherrlich!“
––„Aber nein! Ich billige doch allen das gleiche Recht zu. Jeder kann plötzlich einen Eimer Wasser in die Drogerie schütten.“
––„Warum ausgerechnet …?“
––„Das ist doch nur ein Beispiel! Jeder könnte etwas ganz Verrücktes tun, nur niemand nutzt diese Möglichkeit.“
„Ich glaube, die Bowle steigt dir zu Kopf. Jetzt entwickelst du dich schon zum Anarchisten. Man muss sich entweder der bestehenden Ordnung beugen oder eine neue schaffen. Alles andere ist doch unausgegorene Spintisiererei!“
––„Die meisten fürchten nur die Strafe, das Gesetz.“
––„Nein, das glaube ich nicht. Sie wissen ganz genau, dass im menschlichen Zusammenleben gewisse Formen gewahrt werden müssen, und sie richten sich danach.“
––„Wahrscheinlich hast du recht. Ich bin wirklich etwas wirr im Kopf! Das macht die Beleuchtung. Sie hat so einen seltsamen Einfluss auf mich. Dann kann ich nicht mehr klar denken. Dieses uferlose Blau, in dem alles verschwimmt! Ich sehe keine Grenzen mehr. Ich verliere die Beherrschung.“
––„Jetzt ist es fast Nacht. Schade, dass wir Neumond haben.“
––„Komm, lass uns noch ein Stück gehen! Oder frierst du?“
––„Nein, überhaupt nicht!“ Sie schmiegte sich an mich, und ich spürte stolz und schmerzlich die Verantwortung, die zu tragen ich bereit war.

Und wieder sinkt da Blau herab. Eine stille, unentrinnbare Macht. Ich sitze am Fenster und beobachte den Himmel. Warum ist es immer ruhig um diese Zeit? Warum weht nie ein Wind, wenn es so weit ist? An tristen, nebeligen Tagen lärmen die Straßen auch während der Dämmerung, und der Wind flackert durch die Äste. Dieser unermesslich blaue Friedhof! Diese Vereinsamung!

Gibt es einzelne Ereignisse, die tiefe Eindrücke in uns hinterlassen, oder ist es die Vielzahl der Dinge, die uns prägt und formt?
––Männer erzählen von ihren Kriegserlebnissen, lächelnd, so, wie man den Inhalt eines Schauerromans wiedergibt. Du gehst über die Straße. Ein Auto schießt um die Ecke. Im letzten Augenblick springst du zur Seite. Dein Herz klopft. Am Abend erzählst du es einem Freund. Morgen sagst du beim Zahnarzt: „Der Verkehr wird immer schlimmer!“, und in der nächsten Woche hast du es fast vergessen.
––Was keine äußerlichen Narben hinterlässt oder dir Entbehrungen auferlegt, geht unter. Es versinkt auf dem Grund des Meeres, in das du nie hinabtauchst. Ein Fotoalbum der Negative.
––Sicher tat mir das Mädchen leid, auch ihre Eltern. Aber es war doch das Mitleid der Barmherzigkeit – so merkwürdig das in diesem Zusammenhang klingen muss. Es war nicht das Mitleid der Schuld, das sich mit Vorwürfen quält.
––Wenn ich einen Bettler am Straßenrand sehe, fühle ich jenes Unbehagen, das Mitleid heißt. Ich gebe ihm etwas oder gebe ihm nichts, es ist ohnehin nie genug. Aber genauso wenig, wie ich dafür kann, dass es mir gut geht, sehe ich einmal von meinen Leistungen ab, die dafür nicht allein entscheidend sind, genauso wenig kann ich dafür, dass es ihm schlecht geht. Ich kenne ihn nicht. Mein Mitleid ist also nicht darauf zurückzuführen, dass ich in meiner Umgebung kein Elend dulden will. Dieses Mitleid ist unpersönlich, losgelöst – rein. Arglos, ohne versteckten Egoismus.
––Doch wieso bringe ich dem Mädchen, das ich mutwillig und grundlos getötet habe, genau dasselbe Gefühl entgegen? Hier bin ich doch beteiligt! Warum schmerzt mich ihr Tod nicht mehr als andere Unfälle, warum zehrt er nicht an mir? Bin ich durch und durch schlecht? Kann man schlecht sein, wenn man keine Schuld fühlt? Diese Frage ist es, die in mir bohrt. Ich fürchte ernsthaft um meinen Verstand. Warum fühle ich keine Schuld? Ich bin doch schuldig! Vielleicht liegt es daran, dass ich eine Kurzschlusshandlung begangen habe, ich war nicht Herr meiner Sinne. Darum bin ich schuldlos.
––Wäre der Mord kaltblütig geplant und in die Tat umgesetzt gewesen, plante ich einen Mord kaltblütig und setzte ihn in die Tat um, dann müsste mich Schuld treffen. Hatte ich mich jemals in meinem Leben schuldig gefühlt? Hatte ich je etwas bereut, weil ich ‚die Last der Sünde‘ gespürt hatte? Was ist das für ein Mensch, den seine Verbrechen nicht quälen, der nicht im Innersten verwundet ist von der Einsicht seiner Schuld?
––Ich bin doch befleckt! Warum fühle ich den Schmutz nicht, der an mir klebt? Habe ich gar kein Empfinden für Moral? Kann es das geben? Nein, das ist unmöglich! Ich werde die Last, die mir gebührt, auf mich nehmen!

In einem entfernten Stadtteil, wo es ruhig ist, muss es geschehen. Vielleicht in einem Park. Irgendein Mensch. Aber an einer bestimmten Stelle, zu einer bestimmten Zeit. Regnen soll es und dunkel sein. Nicht dieses Blau, das einem den Verstand raubt. Ich will meine Sinne ganz in der Gewalt haben. Nur für das, was ich bewusst tue, bin ich verantwortlich. Wenigstens einen Hut hätte ich aufsetzen können! Die Haare hängen mir ins Gesicht. Aus jeder Strähne rinnt ein feiner Strom Wasser. Ich hocke zwischen Stacheln und Gestrüpp. Meine Sohlen sind im Schlamm versunken. Das Laub verwest in den Pfützen.
––Kein Mensch betritt zu dieser Zeit und bei solchem Wetter den Park. Es ist auch besser so. Ich hätte es ohnehin nicht fertiggebracht. Spricht das nicht schon für mein Gewissen?
––Entfernte Schritte.
––In mir krümmt sich etwas zusammen, windet sich und versteinert. Ich sehe Beine, ganz nahe. Ich packe sie, klimme an ihnen empor. Arme, die nach mir greifen. Ein Gesicht, eine Fläche. Warum geschieht nichts? Was tun wir miteinander? Sie hält mich, nein, ich halte sie. Etwas in ihrer Hand. Ich will es ihr entreißen. Wegnehmen. Warum? Nur weil sie es nicht hergeben will. Nur deshalb. Kratzer in meinem Gesicht. Das Gestrüpp? Ihre Fingernägel? Ich werde wütend. Warum schieße ich nicht?
––Eine Stimme! Ein Mann! Weg hier!
––Ich renne davon. Ich stolpere. Schmutz an meinen Händen.
––Er kommt auf mich zu.
––Ich muss aufstehen, stütze mich. Was ist mit meinen Beinen? Hölzern, gelähmt. Ein Traum, ja ein Traum.
––Er schnauft, immer näher.
––Eisen zwischen meinen Fingern.
––Er wendet sich nach dem Schrei und bricht zusammen.
––Ich schleppe mich vorwärts, verkrieche mich unter Blättern, Stöcken, Stämmen. Nichts dringt zu mir. Ich friere. Ich lebe. „Mein Bett“, denke ich, „Wärme, Geborgenheit. Also los!“ Mein Kopf taucht auf. Die Beine unter mir taumeln vorwärts. Ich fasse. Greife nach Ästen. Blut, Splitter. Ein Weg. Ich keuche, laufe. Das Tor, die Straße.
––Mein Wagen will wieder nicht anspringen. „Geduld! Es wird schon klappen!“
––Der Motor heult auf. Ich fahre. Verschwommen erkenne ich Lichter. Blei liegt auf der Scheibe, feucht, grau. Ich wische mit der Hand, das ist angenehm kühl. Vom Glas rinnt es schmutzig rot. Die Scheibe ist beschmiert und beschlägt schon wieder. Neue Lichter. Sirenen. Ich biege links ab. Irgendwie werde ich den Weg finden. Dann werde ich baden und mich ins Bett legen.
––Alles ist ein Traum. Auch wenn man schläft, kann man müde sein.

Titelillustration mit Material von Shutterstock: Quality Stock Arts (Uhr), Just Dance (Mann), arturnichiporenko (Fahrradfahrerin), Mcky Stocker (Hände)

32 Kommentare zu “Blaue Stunde | #3

    1. In der Realität sieht es meistens düsterer aus als in Träumen. Jedenfalls geht mir das so. Von daher würde ich sagen ihr Wunsch wird sehr wahrscheinlich nicht wahr sein.

      1. Als ich diesen Text schrieb, war Bowie 20 und im Gegensatz zu mir (noch) nicht in Berlin. Inzwischen riecht er wohl – mehr als vier Jahre nach der Beerdigung – ziemlich neutral.

  1. Menschen ohne Schuld und ohne Moral, für viele von uns ist das schwer vorstellbar, aber ich bin mir sehr sicher, dass es so etwas gibt. Mr. Trump ist doch gerade ein ziemlich bekanntes Beispiel dafür.

      1. Den Angsthasen und den Psychopathen als Gegenspieler erkennen und dann noch eine Schweinswurst mit Schimmel wiederbeleben. Chapeau!

    1. Ich glaube auch nicht, dass so jemand überhaupt über Begriffe wie Schuld oder Moral nachdenken würde. Entweder man trägt diese Dinge in sich, oder man kann damit erst gar nichts anfangen.

      1. Moral ist eine seltsame Sache. Mafia-Bosse, die skrupellos morden lassen, gehen jeden Sonntag in die Kirche, und die Folterer der Inquisition waren sehr fromm.

      2. Die Abtreibungsgegner in den USA lassen ja auch lieber reihenweise Frauen vergewaltigen, als dass sie über ein ungeborenes Leben entscheiden. Moral ist wohl, wie vieles andere auch, sehr subjektiv.

    1. Nee, da stimme ich auch nicht überein. Aus meiner Erfahrung werden Lebenspläne eh immer wieder durchkreuzt. Man muss sich selbst natürlich eine Richtung setzen, aber wer nicht flexibel ist, der kommt nicht weit.

      1. Umgestürzte Pläne sind besser als gar keine. Planlos geht vielleicht mal eine Woche lang auf den Seychellen, falls man keinen Tauchkurs gebucht hat. Für täglich ist das schwer vorstellbar, wobei der Vorsatz: „Heute lasse ich einfach mal alles auf mich zukommen!“ auch ein guter Plan ist.

      2. Planlosigkeit führt genau wie Sturheit meistens zu nicht allzu viel. Manchmal braucht es doch den langweiligen Mittelweg.

    1. Das finde ich auch einen spannenden Aspekt. Nicht ganz einfach seine eigene Meinung klar zu definieren, wenn man merkt, dass auch solch ein Mörder menschliche Seiten hat.

      1. Die schlimmsten Täter sind enttäuschte Idealisten, die ihr Menschenbild nicht ändern wollen: Robespierre, Ulrike Meinhof. Wer unbedingt über sich hinauswachsen will, ist aber auch unheimlich.

    2. Die Frage bleibt, ob es da überhaupt etwas nachzuvollziehen und zu verstehen gibt. Oder ob solch ein Mensch einfach außerhalb jeder Vorstellungskraft bleiben muss.

      1. Wer da als Otto Normalbürger abschaltet, dem kann man beileibe keinen Vorwurf machen. Trotzdem bewundere ich Leute, wie eben Niels Birbaumer aus obigem Zeit-Artikel, die sich mit diem Phänomen des Bösen auseinandersetzen und Dinge verbessern wollen.

  2. Die Diskussion über das Schicksal finde ich ebenso unlogisch wie die junge Frau. Entweder es gibt so etwas wie Vorherbestimmung, dann bringt auch das scheinbar sinnlose Tun des Täters nichts, oder man ist doch komplett für den Ablauf der Geschichte verantwortlich und muss entsprechend verantwortungsvoll agieren.

    1. Ich bin ja sehr dafür, dass wir alle für unser Leben und dafür, wie wie andere Leben behandeln, voll verantwortlich sind. Alles andere macht es uns viel zu einfach.

      1. Ich würde behaupten, dass nach wie vor viele Menschen sehr gerne in ihrem Käfig (oder in ihrer Blase 😉) leben.

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