Diese Strecke war ich erst ein Mal im Leben aus Wien heraus- und dann wieder nach Wien zurückgefahren: mit Hanns und Franz. Die Nacht war fast schlaflos gewesen, in den Privaträumen des Opernintendanten Egon Seefehlner, in einer Abstellkammer, in die ich mich mit jemandem zurückgezogen hatte, auf den ich unmöglich hatte verzichten können. Hanns und Franz holten mich um elf im ‚Imperial‘ ab und fuhren mit mir ins Weinviertel. Noch jetzt schmecke ich die Ausgelassenheit auf der Haut, die mich beflügelte. 1979. Es war genauso warm gewesen wie heute, das Weinlaub lichtgrün, die Mauern ockergelb, der Hanns war so fesch und der Franz so liab, beide längst tot, Aids.
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Zum ‚König von Ungarn‘ in Wien fand unser Navi problemlos, trotz Fußgängerzone; es gab, nicht gerade umsonst, einen Service, der unsere entpackten Autos abholte. Mein Zimmer in üblicher Fahrstuhlnähe war schön altmodisch mit langen Vorhängen und begehbarem Kleiderschrank, was vor allem für Rafał sehr praktisch war. Komfort ist nichts, wofür ich ins Hotel ausweichen müsste. Von Rafał bekomme ich auch Zuhause täglich neue Handtücher und neue Stoffservietten, frische Unterwäsche noch obendrein und rasiert werde ich, wann immer der Bart unmanierlich wächst. Kochen tut Rafał besser als die meisten Küchenchefs, wäre da nicht der Reiz des Neuen und der Reiz des Uralten, ich bräuchte gar nicht mehr vor die Tür. Nur: Würde ich mir solche Gelüste durchgehen lassen, dann wäre bald Dornröschen gegen mich ein Discofeger. Bett und Bad, das wär’s. Alle anderen Räume könnte ich vermieten. So aber fingerte mir Rafał den zum Schuhwerk passenden Gürtel in die Hose, eine der Verrichtungen, die ich eigentlich selber schaffe, doch ich habe es mir mühsam abgewöhnt, mich nicht bedienen zu lassen. Ich bin jetzt jemand, für den ich früher in der vollen S-Bahn aufgestanden wäre. Rafał ging in sein Zimmer, ich ins Leben – in den ‚König von Ungarn‘.
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Von der Galerie der Diele aus konnte man hinabblicken in den Raum, der gleichzeitig Halle und Bar war, und dort Silke schon frisch und umgezogen sitzen sehen. Bisher kannte ich nur das Restaurant des Hotels, und es war über die ganzen Jahre, in denen ich dauernd in Wien Aufnahmen gehabt hatte, gut und gediegen gewesen. Das war es immer noch, mit alten Gemälden, viel Samt und Großelternbesteck. Giuseppe hatte aufgehört, Vorspeisen zu bestellen, weil er wusste, er konnte sich gut von Silkes und meiner Hinterlassenschaft ernähren. Der Oberkellner kam mir etwas slawischer vor als ganz Tschechien, was man im K.-u.-k.-Bereich wohl hinzunehmen hat, auch wenn mir etwas weniger Kosovo und etwas mehr Wiener Schmäh als österreichischer Auftakt sympathischer gewesen wären. Einem ‚TripAdvisor‘-Kunden war beizupflichten, wenn er anmerkte: ‚Der Chefkellner war noch O.K., die restlichen 2 Mitarbeiter wussten nie, was sie machen sollten und irrten planlos herum.‘ Trotzdem mochte ich nicht auf einen Nachtisch verzichten, zumal ‚Topfenpalatschinken‘ auf der Karte stand. Den bekam ich allerdings kalt und auf meine Missfallensäußerung hin die Erklärung: „Heiß kommt nur aus Mikrowelle. Von Küche bis hier sonst immer kalt.“ Wie beginnt ein anderer ‚TripAdvisor‘ seinen Bericht? ‚Unverschämt arrogante Kellner, geschmackloses und liebloses angerichtetes Essen zu überteuerten Preisen.‘ Der Gast verdient in Grammatik eine 5, aber in der Sache 2 bis 3.
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„Was in Berlin, Dresden und Prag das Fahrradtaxi ist, das muss in Wien der Fiaker sein“, hatte ich mir gedacht, und Silke hatte vorgesorgt. Martin stand mit Kamera auf Stativ bereit, als die Kutsche um 11 Uhr eintraf und wir vier uns in den Pferdewagen setzten. Ich schwankte, ob ich mir jetzt voll professionell oder besonders touristendämlich vorkommen wollte, und dann ging es im Sitzen durch Wien.
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Mein Wien war das eher nicht. Mein Wien habe ich, immer in Eile, manchmal nur von mir selbst gehetzt, im Sturmschritt durchlaufen. Vom ‚Sacher‘ zu ‚Dehmel‘, vom Konzerthaus zum Musikverein, von der Oper zur Burg. Und dann wieder saß ich stundenlang im Kaffeehaus, im Tonstudio, im Schneideraum. Zeitweise hatte ich engere Freunde in Wien als in Hamburg, so schien es mir. Im ‚Beisl‘, im ‚Bristol‘, immer war da so eine Atmosphäre von Aufgeschlossenheit, Freizügigkeit, Anteilnahme. Die meisten meiner Wiener Freundschaften hatte ich im Zusammenhang mit Leonard Bernstein geschlossen; so wie ich in seinem Umfeld in Israel nie Deutschenfeinde getroffen hatte, so gab es hier in Wien in seinem Umfeld keine Nationalisten. Alles war wie für mich bestimmt gewesen: die Konzerte, die Essen, die Bälle (spätestens nach dem vierten Glas Champagner), die Gespräche, bei denen ich zuhörte, die Reden, die ich hielt, all die Geborgenheit, die Vertrautheit, mit Susan im ‚Scampi‘ bei Austern und Räucherlachs, mit Jobst im ‚Seoul‘ bei Bulgogi, sogar mit Irene, im ‚Palais Schwarzenberg‘, fürstlich, mit Krystian im ‚weißen Rauchfangkehrer‘ beim Kavalierspitz, mit Martha, Gidon, Mischa, Pali, Harry, mit allen, allen – und alles wollen, alles können, jeden mögen, jeden kriegen, und dann wieder ganz allein am Tisch mit ‚Grünem Veltliner‘ und Schreibblock, den gezückten Stift kampfbereit, um es mit jeder Clownerei, mit jeder Partitur aufzunehmen; die Zeit festhalten, aufschreiben, blockieren zu ewigem Stillstand in der einen einzigen Sekunde, in der der Kellner das Schnitzel hinstellt – und jetzt? Nein, mein Wien war das eher nicht, durch das wir da kutschierten; die Gebäude erkannte ich: Natürlich waren mir die Hofburg und der Stadtpark geläufige Kulisse meiner Aktionen, aber jetzt, ohne eingreifen zu können, an den Schauplätzen meiner Lebendigkeit vorbeisitzen zu müssen, hatte auch etwas Beklemmendes. Die brennende Hitze dagegen, sie hatte eher etwas Tröstliches – sie war ganz wirklich! Und um sie aushalten zu können, musste ich sie so bewusst wahrnehmen, dass für saumselige Rückbetrachtungen kein Raum mehr blieb. Jetzt beim Schreiben aber doch: Da denke ich an alle, mit denen ich hier je zusammen war – also auch an Irene mit ihren damals achtundsechzig (in Gestalt der wahnsinnigen Lucia di Lammermoor). Und weil wir in Wien nun mal im ‚König von Ungarn‘ nächtigen, schicke ich ein bisschen Ausflug nach Ungarn voraus, von 1988, ein Jahr, bevor die Magyaren ihre Grenzen zum Westen öffneten.
Der Weg zum Prater war davon eh unbelastet und darum eh unerquicklich. Eine vielbefahrene Schnellstraße, Beton mit Fensterlöchern zu beiden Seiten. Die zwei Pferde taten mir leid, mehr als die Rikscha-Menschen in Deutschland und Prag. Die Gäule hatten keine Wahl. Anachronistisch klapperten sie mit uns über die Franzensbrücke, während der Verkehr an uns vorbeigaloppierte. – Aber dann, im Prater, war es ganz still. Die Kastanien fingen schon an, Herbst zu spielen, oder waren krank: Welke Blätter, bräunliches Gras, und selbst das Riesenrad bewegte sich lautlos.
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Mit Carlos war ich zum ersten Mal in Wien gewesen. In Rom hatte ich ihn kennengelernt; er war mir nach Venedig und Hamburg gefolgt, und er hatte mich mitgenommen nach Wien. 1975. Er hatte mir alles gezeigt, was in den drei Tagen möglich war, mein schlechtes Benehmen beim Heurigen hatte er ausgelassen mitgemacht, ich dachte an Schubert, er an mich, und er wollte mich zu Weihnachten mitnehmen nach Kapstadt, wo seine portugiesische Familie lebte, seit sie aus Mosambik vertrieben worden war, aber dann, im November hatte ich Roland kennengelernt …
Fotos (3): H. R./Privatarchiv
Topfenpalatschinken ist ein Muss. Topfenstrudel auch.
Das Wichtigste am „Muss“ ist, dass das „Muss“ gut sein muss. Gaststätten mit aufgewärmten Spezalitäten aus der Tiefkültruhe sind ein „No-go“. Daran ändert sich auch für uns Mitteleuropäer nichts, wenn wir wissen, dass in der Sahelzone ein Topf Hirse zum Glück reicht; in Sebastian Kurzens Österreich spielt das eh keine Rolle.
Wie war das noch? Kein Mensch muss müssen.
Wien hat einen ziemlich besonderen Stellenwert in meinem Reiseherzen. So eine perfekte Mischung aus Schönheit und Morbidität.
Eine wunderbare Stadt. Außer dem Prater. Soviel Beton macht dann auch wieder keinen Spaß.
Jepp. Den fand ich bei meinen Besuchen auch immer eher deprimierend als erheiternd.
Aaaaaah Österreich! Da denke ich gleich immer an Bernard, Jelinek und Haneke und schwärme…
Fast jeder mag es wohl, bewundert zu werden, aber diese Drei würden sich, soweit noch lebendig, über den Ausdruck „Schwärmen“ vielleicht wundern. Grinzing und Sachertorte sind das gewohnter.
Irgendwie denkt man aber auch immer an Fritzl, nicht? Aber das haben die Österreicher natürlich nicht verdient.
Will der Österreicher an sich nicht mehr als jeder andere bewundert werden? oder ist auch die Idee nur aus irgendeinem Roman entstanden?
Heiß kommt nur aus Mikrowelle. Von Küche bis hier sonst immer kalt. Hahahaha. Tripadvisor kann einem immerhin ziemlich unterhaltsam die Zeit vertreiben 😉
Ja, aber diesen Ausspruch habe ich eben nicht aus dem Netz, er wurde mir erstaunte Gesicht gesagt.
Gibt es übrigens keine Meinung zu den Videos?
Die Ausschnitte lassen jeden Amateurfilmer erblassen. Wahrscheinlich ist die Bloggemeinde zu eingeschüchtert von Detailreichtum und Anspruch dieser „Urlaubsvideos“.
Unverzichtbares in Abstellkammern klingt so sehr nach Jugend! Ach nochmal jung sein!
Dass Katastrophen unterhaltsam sind, ist zwar abstoßend aber durchaus wahr. Warum sonst starrt man auf der Autobahn auf den schrecklichen Unfall, waum sonst amüsiert man sich über Trumps ekelhafte Ausfälle so sehr…
Ich dachte früher immer ich ziehe mich im Alter wie Marlene zurück. Heute zieht mich der ‚Reiz des Neuen‘ doch weiter vor die Tür. Die Menschen müssen mich noch eine Weile aushalten.
Wien im Fiaker klingt nun wirklich sehr nach Touristenklischee. Aber wenn’s das beschwerliche Laufen ein bischen vereinfacht… Schaden kann’s auch wieder nicht.
Um Hotelkomfort zuhause beneide ich Sie ein wenig. Jedesmal wenn ich von einer Geschäftsreise zurück komme, fällt mir auf, dass ich unbedingt mal sauber machen müsste 😉
Ihre Frau Mutter zu Lucia di Lammermoor durch Wien schreiten zu sehen, großes Kino!
Ich fand die Dame mit Kopftuch und kiloschwerer „Homecam“ auch ziemlich gut. Gotsseidank gibt’s zwanzig Jahre später Smartphones 😉
Wie tot eine Stadt doch ist, wenn man sich nicht in ihr bewegt, sondern nur an ihren Sehenswürdigkeiten vorbeizieht.
Ich fürchte, nicht die Stadt ist toter, sondern man selbst!
Sind es nicht beide? Leben braucht halt immer Interaktion.