Liebe Leserinnen und Leser,
ich weiß noch: Dauernd habe ich mich geschämt. Früher. Eigentlich hätte ich damit schon anfangen können, als ich im Bauch meiner unverheirateten Mutter heranwuchs. Aber zur Scham gehört Bewusstsein, und das haben Babys und Mafia-Mörder nicht.
Als mein Vater und meine Mutter mich zur Erholung vom Keuchhusten in einem Kinderheim an der Nordsee ablieferten, war ich gerade fünf geworden und unglücklich. Es war eine gut gemeinte Maßnahme meiner Eltern, aber ich ertrug ihre Abwesenheit nicht. Jede Nacht machte ich ins Bett. Durch Lakenreiben versuchte ich, meine Schande zu kaschieren – klappte nicht. Vorwürfe bekam ich keine. Schämen tat ich mich trotzdem. Ich heulte meinen Eltern ins Telefon – dafür schämte ich mich komischerweise nicht, trotz der Vorwürfe der Heimleiterin, dass ich nicht solch ein Gewese machen solle, wo ich doch bevorzugt behandelt würde und es gut hätte. Meine Eltern ließen mich milderweise schon nach drei statt nach den geplanten vier Wochen abholen, und auf der nächtlichen Rückfahrt im leeren Bus nach Berlin machte ich mir das letzte Mal in meinem Leben ungewollt in die Hose, damals schon aus Leder.
Als ich zehn Jahre später als Zehntklässler eines Jungen-Gymnasiums zu der Vermutung kam, dass mich womöglich Männer sexuell – ausschließlich sexuell, aber immerhin! – mehr reizen könnten als die Insassinnen der nahen Mädchenschule, und sowieso auch mehr theoretisch, ohne dass ich derb-dreist einem meiner Lehrer oder gar Klassenkameraden an die Wäsche gegangen wäre, da schämte ich mich erst recht, zunächst mal nur vor Gott als wichtigster Instanz, fast gleichzeitig aber schon vor meinen ahnungslosen Eltern und dem völlig unvorbereiteten Rest der Welt; doch dann beschloss ich tapfer, mein furchtbares Geheimnis mit ins Grab zu nehmen. Da sollten sie dereinst alle auf dem Friedhof stehen und sich wundern über meine rätselhafte (verblichene) Existenz. Es regnete dabei, glaube ich, und jemand filmte für großes Kino. Das hielt ich immerhin durch, bis ich zweiundzwanzig war. Dann kippte die Stimmung. Ich nahm es Gott übel, dass er mich so geschaffen hatte, aber noch im selben Jahr gewährte meine Gerichtsbarkeit ihm einen Freispruch: wegen erwiesener Inexistenz.
Anschließend begann die Phase, in der ich mich nicht mehr eigener Unzulänglichkeiten zu schämen brauchte, sondern mich eingliedern konnte in die aufrührerische Scham über meine ‚Klasse‘ und meine ‚Rasse‘. Derer beider Existenz zu bestreiten, ist wesentlicher Bestandteil des Diskurses, was belegt, dass diese Begriffe, wenn nicht im realen Leben, dann aber zumindest im Bewusstsein der Änderungswilligen und der Änderungsunwilligen vorhanden sind.
Von da an durfte ich mich zunächst mal dafür schämen, nicht gegen den Einsatz der Amerikaner im vom Norden begonnenen Vietnamkrieg protestiert zu haben. Weil allerdings der von allen deutschen Linken bejubelte Sieg der nordvietnamesischen Kommunisten dann doch nicht so glorreich war, durfte ich mich im weiteren Verlauf dafür schämen, dass die Bundesrepublik nicht ausreichend viele der dem Schrecken entronnenen Boatpeople aufnahm. (Ursula von der Leyens CDU-Vater setzte dann aber 1978 doch ein Kontingent durch.)
Ich durfte mich dafür schämen, mir in Berlin die Nofretete angeguckt zu haben, ohne darauf zu dringen, sie so bald wie möglich nach Ägypten zurückzubefördern, damit sie dort nach einem islamistischen Umsturz als Symbol überwundener Vergangenheit feierlich zerstört werden könnte, und dafür, dass dieser Satz zutiefst polemisch ist.
Ich soll mich dafür schämen, dass ich Nichtweiße und Frauen mein ganzes Leben lang unterdrückt habe, und wenn nicht ich selbst das war, dann zumindest meinesgleichen, was genauso schlimm ist. Meine väterlichen Verwandten haben nicht verhindert, dass meine mütterlichen im Zweiten Weltkrieg abgeschlachtet wurden, was mich in die geile Lage versetzt, so richtig faustisch die Täter- und die Opferrolle ganz narzisstisch allein mit mir auszumachen. Ergebnis: Ich bin alt und ich schäme mich nicht mehr. Ich finde wie die Menschen aller anderen Länder, bis auf die wieder mal ideologisierten Deutschen, Atomstrom herrlich und schere mich nicht um die Entsorgung der mehr als zehntausend Jahre strahlenden Brennstäbe. Ich esse mit Genuss das wenige, beim Schlachter meines Vertrauens gekaufte Fleisch und wünsche mir, so friedlich sterben zu dürfen, wie ich mir erhoffe, dass es dem Rind auf meinem Teller gelungen ist. Ich bin zu alt und zu bescheiden, um zu glauben, ich könne die Welt retten. Ich traue ihr zu, dass sie es auch ohne mich schafft, und ich weiß, dass ich mich für diese Indolenz schämen sollte. Aber ich tu’s nicht. Zumindest habe ich ja keine CO2 verursachenden, also umweltschädlichen Kinder in die Welt gesetzt. Das ist mein Beitrag. Außerdem dusche ich so wenig wie möglich. Sparen ist das Gebot der Stunde: Strom und Wasser! Für meinen nicht besonders beißenden Geruch schäme ich mich also erst recht nicht. Lieber trinke ich ein, zwei Glas Wein mehr. Danach schämt man sich ja dann sowieso kaum noch. Erst mal.
Auch für das manchen vielleicht zu skeptische Ende meiner augenblicklichen Berlin-Beschreibung im Blog und den vielleicht zu enthusiastischen Beginn der nächsten Reise mag ich mich nicht rechtfertigen oder gar schämen.
Ich tu’s einfach nicht!
Hanno Rinke
Cover mit Material von: Marcus Lenk/Unsplash (Häuser, hinten mittig und links), C Dustin/Unsplash (Wolke) und Shutterstock: ANDRIY B (Buch), Jan Martin Will (Baum), Wondervisuals (Haus, hinten links), Anibal Trejo (Fernsehturm), gomolach (Kerzenflamme), Marti Bug Catcher (Brandenburger Tor)
Es ist doch eigentlich schlimm wie viel Scham man schon als junger Mensch empfinden kann…
Oder noch. Später verliert man vieles doch.
Aber es kommt neue Scham hinzu.
Das ist doch eigentlich schlimm, nicht? Warum muss man sich mit so etwas im Alter noch rumärgern?
Weil die Moral ja nicht nachlässt wie der Haarwuchs.
„Ich tu’s einfach nicht“ ist ja ein gutes Motto. Sollen die anderen sich ärgern und sorgen. Man muss ja nicht mitmachen.
Setzt große Unabhängigkeit voraus: im Denken und im Materiellen.
Außerdem braucht es da zumindest eine Tendenz zur Schamlosigkeit. Um den Bezug zum vorigen Kommentar zu behalten. Oder man muss die Scham, die damit einhergehen kann, akzeptieren und aushalten können.
Man braucht sich doch nicht schämen, nur weil man seine eigene Meinung hat?!
Kommt auf die Meinung an. Aber die mit den absurdesten Meinungen schämen sich naturgemäß am wenigsten. Wenn mir meine Meinung peinlich ist, wechsle ich sie. Das ist mit Hautfarbe oder sexueller Orientierung nicht so leicht.
Das mit dem Wechseln ist ein guter Punkt. Wenn man von seiner Meinung überzeugt ist, schämt man sich ja auch nicht.
Man kann sich Scham ja nicht so einfach einreden lassen. Entweder man denkt selbst schon tendenziell so, oder man muss die Meinung der anderen ignorieren.