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Rundbriefe

Betrifft: Weg mit Weimar!

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

‚Faust‘ soll an Gymnasien nicht mehr Pflichtlektüre sein. Fuck ju Göhte! Na schön. Ich habe diesen alten Knacker (durch Hexentrunk optisch verjüngt), diesen Lustgreis Doktor Faustus, der eine sehr, sehr Minderjährige schwängert, nie ausstehen können. Schon längst vor #Metoo fand ich ihn cringe. Heinrich, mir graut‘s vor dir. Sicher, Zeilen wie ,So tauml‘ ich von Begierde zu Genuss, und im Genuss verschmacht‘ ich nach Begierde.‘, haben immer noch oder gerade jetzt Gültigkeit. Natürlich würde man es heute anders sagen, aber den Sinn versteht man durchaus. Und so frage ich mich leicht betreten: Was in unseren Gedächtnissen werden wir in Zukunft noch so gemeinsam haben, dass wir uns darüber austauschen können?

Als ich jung war, hatten alle am Abend dasselbe Fernsehprogramm gesehen. Das reichte dann als Gesprächsstoff am nächsten Tag vom Small Talk bei der Kontaktaufnahme bis zur Analyse mit vertrauten Menschen, die sich für intellektuell hielten. Auch Redewendungen brauchte man nicht zu erklären: hier ein bisschen Latein, da ein bisschen Lessing. Die Sprüche und Bilder waren jederzeit abrufbar. In ‚unseren Kreisen‘ oder Gemeingut? Vielleicht gibt es das mit neuen Chiffren auch jetzt noch, fern meiner eigenen Gedankenwelt. Ich fürchte allerdings, es handelt sich eher um eine Fragmentierung. Lauter abgegrenzte digitale Welten nebeneinander. Auch wir hatten in unserer kleinen Clique eine eigene Sprechweise entwickelt, um uns untereinander zu verständigen, aber auch, um uns von allen anderen abzugrenzen. Sie sollten uns gar nicht verstehen. Daneben beherrschen wir aber durchaus die Sprache unserer Großeltern und deren Bildungskanon. Und heute? Wenn ich mit Zwanzigjährigen spreche: Die Kultfilme meiner Generation kennen sie gar nicht mehr, während wir uns die wichtigsten Filme aus der Zeit vor unserer eigenen Kinoreife später sehr wohl angeeignet haben. Das tun unsere Nachgeborenen nicht mehr. Verständlich. Man kommt ja auch gar nicht mehr an gegen diese Flut von Informationen: Die Anzahl der klugen und der hirnrissigen Verlautbarungen ist einfach zu groß. So werden wir alle zu Experten auf unseren jeweiligen Gebieten, sei es Klatsch, Sport, Pop oder Philosophie. Universalgenies wie weiland Leonardo da Vinci drohte heute die Verzettelung.
Es heißt, die Gesellschaft sei gespalten. Das heißt es wahrscheinlich, seit man die Gesellschaft als soziologisches Phänomen wahrgenommen hat; aber die völlig unterschiedliche Nutzung der Medien und die völlig unterschiedliche Meinung darüber, was man noch sagen darf und was man noch lernen soll – das trägt dazu bei, dass wir einander nicht mehr verständigen können, weil wir uns nicht mehr verstehen.

,O tempora, o mores!‘, möchte ich mit Cicero ausrufen, und natürlich versteht mich dann wieder kein Schwein. Im Blog hoffentlich doch: Es geht dabei um Betrug, Opernschwachsinn und Unwetter. Das Übliche also. Aber wer nicht dabei war, sondern bloß darüber liest, für den, und für die, bleibt das Leben weiterhin so gemütlich, wie es eben ist.

Nehmt es hin oder verändert es!
Hanno Rinke



Cover mit Material von: Marcus Lenk/Unsplash (Häuser, hinten mittig und links), C Dustin/Unsplash (Wolke) und Shutterstock: ANDRIY B (Buch), Jan Martin Will (Baum), Wondervisuals (Haus, hinten links), Anibal Trejo (Fernsehturm), gomolach (Kerzenflamme), Marti Bug Catcher (Brandenburger Tor)

16 Kommentare zu “Betrifft: Weg mit Weimar!

    1. Solange ist es auch wieder nicht her, dass ich in der Schule war. Aber bei uns wurde so irrsinnig viel gelesen. Im Deutschunterricht und später dann im Literatur-Grundkurs. Seltsam, dass das nicht mehr als wichtig angesehen wird.

      1. Wir hatten in der Oberstufe abends freiwilligen Literatur-Kurs. Keiner traute sich, nicht zu kommen. Aber die Lese-‚Vorschläge‘ meiner Mutter waren noch sehr viel umfangreicher. Kinder aus bildungsfernen Familien können das kaum nachholen. Meine Mutter war so ein Kind.

  1. Oft ist es ja sogar viel amüsanter nicht dabei zu sein, sondern im Nachhinein darüber zu lesen. Z.B. neulich durchnässt beim Opernbesuch…

      1. Ein guter Punkt. Das würde höchstens bei einer Romanze oder Komödie gelten.

  2. Diesen Generationenkonflikt, den Sie da beschreiben, den gab es doch früher auch; bei meiner Generation aus den 50ern und genauso sehe ich das bei den Nachfolgenden. Hat sich was an der Ignoranz der Jugend geändert, sich mit der vorherigen Generation auseinanderzusetzen? Nein, ich denke nicht. Die Lustlosigkeit war diesbezüglich doch immer schon gleich. Ausnahme galt hier aber immer schon die gehobene Bildungsschicht. Wer es sich leisten kann, der bildet sich.

    1. Die Jugend ist nicht ignorant. Ich empfinde das zumindest in keinster Weise so. Gerade dann, wenn die Jugend gegen die Prinzipien der Vorgängergeneration aufbegehrt, heisst das ja, dass sie sich sehr wohl auseinandersetzt. Sie kommt eben nur zu neuen Schlussfolgerungen. Richtig so.

  3. Ich glaube diese Redewendungen und Chiffren sind heute auch noch allgemeingültig. Nur bleiben diese eben unter den jungen Leuten. Das ist ja ein Phänomen, dass sich von Generation zu Generation wiederholt.

    1. Das scheint mir auch so. Eine Kluft gibt es ja eher zwischen Progressiven und Konservativen Ideen, nicht so sehr zwischen jung und alt.

      1. Die Generation, die mit der Digitalisierung aufgewachsen ist, hat schon einen anderen Alltag als ihre Großeltern ihn haben.
        Deren Alltag unterschied sich nicht im gleichen Umfang von dem ihrer Großeltern.

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