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Sonntagspredigten

An der Weihnachtsfront

Liebe Leserinnen und Leser,

die Heilige Nacht rückt unaufhaltsam näher. Hier, behütet in meinem Othmarscher Zuhause, kann ich mir und meiner Umgebung Frieden wünschen. Für die Ukraine und für Gaza, wo ich nicht zu kämpfen brauche, wünsche ich mir und den Menschen dort keinen Frieden.

‚Unschuldige Opfer‘ – wer ist damit gemeint? Die von Russland überfallenen und massakrierten Bewohner von Butscha? – Vermutlich. Obwohl der Kreml behauptet, die Leichen seien nach dem Abzug seiner heldenhaften Soldaten ‚ausgelegt‘ worden. Die NATO habe solche Bilder bestellt. Außenminister Lawrow spricht von ‚Fake‘. Militärexperten sagen, Massaker seien schon immer ein wesentlicher Bestandteil der regulären russischen Militärstrategie gewesen. In diesem Fall hätten die Gräueltaten dazu dienen sollen, die Bevölkerung der Ukraine gezielt zu demoralisieren. Ist schiefgegangen, und wer nicht direkt beteiligt ist, der kann jetzt das glauben, was am problemlosesten in sein Weltbild passt.

Unschuldige Opfer. Die Deutschen, die in den Dreißigerjahren Hitler zugejubelt haben? Als Warschau und Paris fielen, haben sie erst recht gejubelt und dann überall in Europa und an der ‚Heimatfront‘ diesen verbrecherischen Krieg bis zum bitteren Ende weitergeführt. Die Briten haben die deutschen Städte bombardiert. Vorher hatten schon die Deutschen in England ihre Bomben abgeworfen. – Schade um das barocke Dresden, aber die Frauen und Kinder? – ‚Selber schuld‘, klingt nicht freundlich. Und ich weiß, der Einzelne kann sich nicht wehren. Nicht, wenn es zu spät ist. Auch die Briten wollten damals mit ihren Bombardierungen die deutsche Bevölkerung demoralisieren, damit sie aufhörte, Hitler zu unterstützen. – Hat nicht geklappt. Die Italiener haben es selbst geschafft, sich vom Faschismus zu befreien, die Deutschen waren so stur, da mussten das erst die Amerikaner und die Russen zu Fuß übernehmen. Bomben hatten versagt, waren aber einen Versuch wert gewesen.

Die Japaner? – Sie haben die USA ohne Vorwarnung angegriffen und mit Kamikaze-Fliegern Terror verbreitet. Nachzugeben war in ihrem Weltbild nicht vorgesehen. Die Kämpfe wären mit hohen Verlusten immer weitergegangen. Die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki? – Hat geklappt. Der Krieg war zu Ende.

Die Ukrainer? Sind die wirklich so westlich? – Sie sind es geworden. Genauso wie die Russen antiwestlich geworden sind. Korruption gab es hier wie dort. Für die Republikaner in den USA ist die Grenzsicherung nach Mexiko wichtiger als irgendein unterentwickeltes Land, da hinten in Europa. Und für uns Deutsche liegt ja zumindest Polen dazwischen, jetzt sogar wieder mit einem zugänglicheren Regierungschef. Dass unsere Sicherheit in Afghanistan verteidigt würde, hielt ich damals für übertrieben, als Verteidigungsminister Struck es medienwirksam formulierte. In Kiew glaube ich daran. Wir müssen uns fragen, für welche Werte wir überhaupt noch bereit sind, einzustehen. Wenn ich jetzt ‚Gendern‘ und ‚Diversität‘ nenne, klingt das nach einem abgestandenen Witz. Aber was sind uns Meinungsfreiheit und Freizügigkeit wert, wenn es plötzlich wirklich mal drauf ankommt? – Jaja, ich habe gut schreiben! Ich werde in keinen Krieg mehr ziehen müssen: zu alt. Aber wenn wir dem Zerfall der Ukraine nichts entgegensetzen, dann hat ja Putin recht. Wir seien dekadent und verkommen, findet er. Olaf Scholz’ Ängstlichkeit und die Gleichgültigkeit vieler Bürger könnten aber ärgerlich werden. Wenn die Ukraine in einem Diktatfrieden zerbricht, kommen Hunderttausende von Flüchtlingen auf uns zu. Putin hat schon über die russische Minderheit in Lettland gesagt, sie werde ‚schweinisch‘ behandelt. Wenn Putin dort also als Nächstes einmarschieren lässt, dann ist die NATO herausgefordert. Nachgeben um des – keineswegs lieben – Friedens willen? Greift dann China Taiwan an, bricht die Chip-Produktion zusammen und das gesamte digitale System von Wirtschaft und Versorgung? Im Allgemeinen kommt es ja nicht so schlimm, wie man es sich ausmalen kann. In den vergangenen Jahren kam es allerdings ein paarmal schlimmer. Putin thront zufrieden an seinem langen Tisch. Er braucht nur abzuwarten. Die Zeit und seine Menge an Kanonenfutter arbeiten für ihn. „Der Frieden kommt dann, wenn wir unsere Ziele erreicht haben.“ Diese Putin-Aussage aus seiner Jahrespressekonferenz könnte auch von Netanjahu stammen.

Die Bewohner von Gaza? – Sie haben sich nicht gegen die Hamas gewehrt, ihre acht Kinder bekommen (polemisch) und sich bestenfalls gleichgültig verhalten. Das reicht aber manchmal eben nicht aus, um am Leben zu bleiben. Würden sich die Hamas-Anführer selbstbewusst stellen, statt sich feige hinter und unter der Bevölkerung zu verstecken, dann wäre der Krieg am selben Tag zu Ende. Stattdessen gefallen sie sich in der Opferrolle, und im ‚dekadenten‘ Westen fallen genügend Schuldbewusste darauf rein, weil ja schon ihre Vorfahren die Völker da unten so schlecht behandelt haben. Die Schwarzen haben selbst ihre Stammesfeinde als Sklaven an die Weißen verkauft, und dass nach wie vor kaum ein afrikanischer Staat in die Puschen kommt, das kann nicht bis in alle Ewigkeit den Engländern und Franzosen angelastet werden, die auch den Fortschritt und die Medizin im Gepäck hatten, nicht bloß die Knute.

Die Palästinenser hatten zweitausend Jahre lang Zeit, aus der Gegend was zu machen. Passiert ist nichts. Gar nichts. Die Juden haben nach der Gründung Israels aus der Wüste eine fruchtbare Agrarlandschaft gemacht und Wissenschaftler von Weltrang ausgebildet. Nun sind sie die Kolonialisten und die Palästinenser die armen Unterdrückten. Mit den Milliarden, die in den Gazastreifen geflossen sind, ist kein Paradies am Mittelmeer aufgebaut worden, mit Jachten, Tourismus und meinetwegen Steuervergünstigungen, wie das in solchen Kleinststaaten üblich ist, nein, mit dem Geld wurden die Tunnel und Waffen der Hamas finanziert. Israel lebt unter ständigem Beschuss. Natürlich sind die ultraorthodoxen Juden keineswegs besser als die Hamas. Am liebsten würde ich sie gemeinsam in der Wüste aussetzen und auf dem Gebiet zwischen Mittelmeer und Totem Meer einen laizistischen Staat schaffen, in dem alle die gleichen Bürgerrechte haben. Nur Religionen sind verboten. Aber auf mich hört ja keiner. Die Palästinenser, die in ihrer Geschichte nie was zustande gebracht haben, werden von Ägypten und den anderen arabischen Staaten aus vollmundig mit Lippenbekenntnissen versorgt – aber sich diese unberechenbaren und unbrauchbaren Habenichtse ins eigene Land zu holen? Oh nee, bloß nicht! Muss ja auch nicht sein. Opfer zu beklagen, fühlt sich nobel genug an. Da lassen sich auch in London und New York gut Resolutionen unterzeichnen, über die sich alle Feinde des Westens freuen können. Uneinigkeit bei seinen Gegnern macht jedem Spaß.

Die Israelis werden sich davon hoffentlich nicht beeindrucken lassen. Ein paar Aufschreie mehr oder weniger machen den Humanismus auch nicht fetter. Weitermachen, bis die Hamas erledigt ist, egal wie viele zivile Opfer durch Schuld dieser Terrororganisation noch zu beklagen sein werden! Deren Destruktivität, die keine positive Entwicklung zulässt, muss ausgeschaltet werden! Mein Traum: Nach ihrem Sieg behandeln die Israelis die Palästinenser so, wie ab 1946 die Amerikaner die Deutschen behandelt haben. Aber das wird wohl auch nach Netanjahu nicht passieren. So ziehe ich mich wieder zurück von der Weltbühne und genieße, dass ich hier in meinem Othmarscher Häuschen eine Meinung haben darf, ohne für sie leiden zu müssen.

Die Zeit, zu der wir jetzt im Blog kommen, hielten viele Menschen damals für brandgefährlich. Ich nicht. Ich habe mir meinen Pessimismus für jetzt aufgespart.

Alles Gute kann ich Ihnen natürlich trotzdem wünschen. Manchmal klappt’s ja.
Hanno Rinke



Cover mit Material von Shutterstock: Morphart Creation (Gehirn), MoreVector (Hand mit Glas) und aus Privatarchiv H. R. (7)

39 Kommentare zu “An der Weihnachtsfront

  1. „Der Frieden kommt dann, wenn wir unsere Ziele erreicht haben.“ Deshalb wünschen Sie den Menschen dort keinen Frieden?

      1. Das scheint mir auch so. Es gibt ja immer wieder Stimmen, die der Ukraine einreden wollen, dass sie unbedingt an den Verhandlungstisch mit Russland sollen. Aber über was soll man da verhandeln? Wieviel % des eigenen Gebietes man bereit ist abzutreten? Solche Vorschläge sind doch absurd.

      2. Rein militärisch wird Zelenskyi aber auch nicht gegen Putin ankommen. Das finde ich kein realistisches Ergebnis. Man muss doch sehen, wie man diesen Krieg mit möglichst wenig verlorenen Menschenleben beenden kann. Nicht einfach weiter und weiter kämpfen bis keiner mehr steht.

  2. Hmm, das ist ja die große Frage, wie sehr eine Nation für ihre Regierung verantwortlich oder zumindest damit gleichzusetzen ist. Man könnte natürlich sagen, die Israelis haben ihre Netanjahu-Regierung selbst gewählt. Allerdings sind die Mehrheiten dort so gering, das so eine Einschätzung auch nicht richtig trifft. Klar 64 von 120 Mandanten waren ein deutlicher Sieg von Likud. Das sagt aber im selben Satz, dass die Hälfte der Bevölkerung nicht von Netanjahu regiert werden wollte.

    1. Für die Hamas-Angriffe spielten die Wahlen in Israel keine Rolle. Aber in den Palästinensern die Ausgebeuteten zu sehen und in den Israelis die Besatzer – so kleinmütig ist ein Teil des Westens geworden. Und der andere Teil säuft nach rechts ab.

      1. Israel macht es sich aber auch selbst schwer. Die IDF nimmt so viele getötete Zivilisten in Kauf, dass dieses Bild vom Besatzer zwangsläufig Thema wird.

      2. Ich fand den Angriff der Hamas auf Israel erstmal sehr viel erschreckender als Israels Reaktion. Mich verunsichert langsam nur, dass Israel tatsächlich wieder von einer langfristigen Besatzung bzw. Kontrolle des Gazastreifens spricht.

      3. Es braucht endlich einen Waffenstillstand. Die humanitäre Lage ist doch wirklich unerträglich!

      4. So ein Waffenstillstand würde allerdings hauptsächlich der Hamas zugute kommen. So sehr ich die humanitäre Situation in Gaza bedenklich finde, ein kompletter Waffenstillstand muss nicht unbedingt die beste Lösung sein.

      5. Diese furchtbaren Fragen: Was ist ein Leben wert, und was ist es wert, dafür zu sterben? Die Regime aller Zeitalter hatten darauf ihre jeweilige Antwort.

  3. Oh Herr Rinke, dieses Mal ists wirklich kein optimistischer Text zum Sonntagsfrühstück. Aber das ist wohl die Zeit, in der wir Leben. Ich halte diese Konflikte auch für immens gefährlich, nicht nur für die Ukraine und Gaza, sondern auch für uns.

  4. Dass Russland und die Ukraine andere Meinungen über das Geschehen haben, ist ja selbstverständlich. Deshalb schickt man ja bestenfalls unabhängige Beobachter in so ein Gebiet. Diktator Putin glaube ich jedenfalls nicht.

    1. Ich finde es ist völlig gleich ob die Ukrainer westlich sind oder nicht. Die Tatsache, dass ein Land in ein anderes eindringt um sich das Gebiet unter den Nagel zu reißen, verdient unser aller Gegenwehr.

      1. Ehrlich gesagt glaube ich auch nicht, dass Putin klein beigeben wird, nur weil der Westen in in die Ecke drängt. Falls etwas an den Gerüchten dran ist, dass er schwer krank ist, möglicherweise Krebs hat, dann hat er doch nichts zu verlieren. Er wird diesen Krieg durchziehen bis ans bittere Ende. Egal was das für unsere Weltgemeinschaft bedeutet.

      2. Der Mann ist ohne Frage größenwahnsinnig. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass er in naher Zukunft Polen oder einen sonstigen NATO-Staat angreifen würde.

      3. Dass Putin die Ukraine angreifen würde, konnte ich mir auch nicht vorstellen und fand die Bedenken gegen Nordstream II damals unbegründet.

  5. Weitermachen, bis die Hamas erledigt ist. Und dann wird Gaza für ein paar Jahre kontrolliert und dann gibt es ähnlich wie damals mit ISIS in Afghanistan eine neue Terrororganisation, die sich für die vergangenen Jahre revanchieren möchte. Super.

    1. Und was ist die Alternative? Israel hätte Gaza gar nicht abtreten sollen. Ich war in Gaza, vorher. Alles lief prima…

      1. Ich bin nicht sicher, ob die Palästinenser die Situation als prima eingestuft hätten. Die Hamas sorgt aber mit ohne Frage dafür, dass nichts mehr läuft.

      2. Meine Aussage war ja auch leicht ironisch. Nur: noch schlechter als jetzt kann es gar nicht laufen.

  6. Die Republikaner bzw. die republikanische Wählerbasis sagt ungefähr: „Warum soll für die Ukraine so viel Geld ausgegeben werden, wenn hier bei uns im schönen Amerika doch so viel zu tun wäre“. Man mag kaum einen Kommentar dazu abgeben.

    1. Auf den ersten Blick ist das logisch. Rechnet man dann aber ein, dass es auch um Investitionen in die nationale Sicherheit geht, dann wird die Unterstützung der Ukraine auf einmal genauso wichtig wie die mexikanische Grenze.

      1. Wenn die Weltwirtschaft zusammenbricht, fallen sehr viele amerikanischen Arbeitsplätze weg und das Leben wird karg. Wer nur Verantwortung tragen will für seine eigene Farm, der kann weiter seine Burger essen.

      2. So weit denken viele scheinbar nicht. Man sah es doch vor ein paar Jahren als Donal Trump mit dem NATO-Austritt drohte.

      1. Deutschland hat sich viel zu sehr auf seine Partner verlassen. Ich bin überhaupt kein Fan von diesem ganzen Nationalismus, aber man muss schon auch dafür sorgen, dass man im Notfall gut aufgestellt ist. Scholz muss da wirklich nachziehen. Wenn Trump nochmal gewinnt, wird kein Verlass mehr auf die USA sein.

      2. Wir waren so lange stolz darauf, Lämmer zu sein, dass wir glaubten, die Wölfe seinen ausgestorben.

      3. In Zeiten, in denen es gut läuft, arbeiten alle brav zusammen, in Zeiten, in denen es schlechter geht, da ist jeder auf sich allein gestellt. Das sieht man leider immer wieder.

  7. Gerade lese ich übrigens, dass Homosexuelle Paare in Zukunft von katholischen Geistlichen gesegnet werden dürfen. Sex außerhalb der Ehe bleibt selbstverständlich nach wie vor verboten und heiraten dürfen gleichgeschlechtliche Paare nicht. Also alles beim Alten? Ein Thema für eine kommende Sonntagspredigt?

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