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DIE ELF  —   8. Kapitel: SECHSUNDSECHZIG

#8.2 | Glück gehabt. Angeblich!

Früher saß ich mit Block und Filzstift vor einem Café oder Schreibtisch und schrieb mit lockerer Hand Seite um Seite. Meine Handschrift fehlt mir. Ich dachte immer, ich folge den Worten, die ich da lese, und so entsteht ein Text. Geschäftsbriefe habe ich stundenlang diktiert, aber für Persönlicheres traute ich mir das nicht zu. Dabei war es höchst lästig, alles, was ich vervielfältigen wollte, erst mal abzutippen. Jetzt arbeite ich mit Schalttafel und Bildschirm, und weil es nicht anders geht, geht es auch so. Fürs Smartphone sind meine Finger zu breit, aber meine Gedanken, die ich ja wie jeder Mensch in Worte fassen muss, um sie zu begreifen, die kann ich dank Tastatur nach wie vor aufschreiben. Mit der Orthografie habe ich Schwierigkeiten. Manchmal verdrehe ich Buchstaben oder ich weiß nicht mehr, wie ein Wort geschrieben wird, aber das lässt sich mit dem Korrekturprogramm leicht beheben. Ein paar Millimeter weiter im Hirn, und mein Sprachzentrum wäre voll betroffen gewesen, sagten die Ärzte. Das hätte einigen meiner Widersacher natürlich gefallen, jedenfalls früher. Auch mir wurde nahegelegt, froh zu sein: Ich hätte doch noch Glück gehabt. Fast wie damals meine nicht überfahrene Mutter in München, wenn auch leider etwas weniger folgenlos.

Andere hat es zweifellos noch einschneidender getroffen, nämlich tödlich. Mein Vater starb 2002 im ‚Senioren-Residenz‘ genannten Altersheim. Während seiner letzten Jahre war er kreuzunglücklich gewesen, weil er nicht mehr so laufen konnte wie früher. Noch mit neunzig war er beweglicher gewesen, als ich es jetzt bin. Doch sein Niedergang war dann in der Tat deprimierend. Harald wurde im Februar 2004 von der Polizei tot in seiner Wohnung gefunden, eine Woche nach seinem sechzigsten Geburtstag. Was war passiert? Ja, was?

Foto: Privatarchiv H. R.

Meine Mutter starb vor drei Monaten, im März. Wie mein Vater wurde sie 92. Lange hatte ich mich davor gegrault, wie sehr mich der Tod meiner Mutter mitnehmen würde. Aber dann traf mich die Nachricht erschreckend schmerzlos. Sehen wollte ich die Leiche nicht. Dass andere sich solch einen Anblick zum ‚Abschiednehmen‘ antun, verstehe ich kaum. Ich habe ihr Bild im Film und im Bewusstsein. Ihre Demenz war ein langer Abschied gewesen, lange genug, um das Ende willig hinzunehmen. Meinen Schlaganfall hat sie nicht bemerkt. Sie kannte mich ja nicht mehr.

Foto: Privatarchiv H. R.

Für diese und einige weitere Tote habe ich die Grabrede gehalten. Nekrologe konnte ich inzwischen so gut wie früher Spagettisoßen. Gräber von Menschen, die ich gekannt hatte, besuche ich nicht. Einmal habe ich Freunden aus Berlin auf deren Wunsch Rolands Grab gezeigt. Danach habe ich hysterisch geheult und mir vorgenommen: nie wieder!

Manchmal schrieb ich noch ein Gedicht. Erinnerung an frühere Poesie-Versuche und an frühere Zeiten. Solange es noch Menschen gab, die ich mich traute, mit meinen Hervorbringungen zu belästigen …

DIE NACHT VOR DREISSIG JAHREN

Es ist schon länger her,
als man noch wissen sollte,
wahrscheinlich gibt es dich nicht mehr.
Ist es das, was ich wollte?

Ich habe nicht mit dir gesprochen,
ich habe dich bloß angesehn,
ich habe dich mit meinem Blut gerochen,
und ich wollte nicht ohne dich gehn.

Ich werde nie vergessen,
was ich nicht für dich war–
so bleibe ich besessen
von der Gefahr.

Mein Leben in dir zu ertränken–
ich hätte entsetzt triumphiert.
Konntest du mir etwas schenken?
Seither ist nichts mehr passiert.

Solange es noch Menschen gab, die ich mich traute, mit meinen Hervorbringungen zu belästigen, textete ich sie weiterhin zügellos an. Solange es noch nicht hieß: ‚Empfänger verstorben‘, rechnete ich mir Aufmerksamkeitschancen aus. Danach wäre dann Schluss – dachte ich. Aber dann besuchte mich der Weltgeist und erklärte mir sein Internet. Seither muss ich mich abmühen, damit ich durch meinen Blog mittels Followern zum Influencer werde. Wird ja auch Zeit! Aber da ich keine Beauty-Tipps anzupreisen habe, sondern nur mich selbst, muss ich bedachtsam vorgehen.

Nicht sagen zu können, was man denkt? – Geht nicht. Was man denkt, das kann man auch aussprechen. Alle Gedanken lassen sich in Worte fassen. Sonst sind es keine Gedanken, sondern diffuse Gefühle. Wenn man seine Gedanken dann allerdings tatsächlich ausspricht und jemand hört sogar hin, dann kann man dafür anschließend geehrt, geköpft oder ausgelacht werden. Unbeachtet zu bleiben ist noch das Harmloseste. Aufschreiben gilt als ungefährlicher. Aber wer so dumm oder klug ist wie ich, seine Worte dem Internet anzuvertrauen, der sollte sich dessen bewusst sein, dass sich Wörter im Netz länger aufbewahren lassen als im Kopf von Zuhörern. Ewig nämlich. Bei Bildern ist es noch viel schlimmer: Kaum jemand liest, alle sehen. Dass trotzdem so viele weltbekannte und so viele der Welt bis dahin völlig unbekannte Menschen so viele belanglose Bilder im Netz verbreiten, das zeigt der Welt ganz deutlich: „Unbemerkt bleiben – also, das will ich nicht!“ Ganz Ausgebuffte behaupten allerdings, bei ihren Texten und Bildern ginge es nicht darum, Aufmerksamkeit zu erregen, sondern: (Typ A) „eine Freude zu machen“; (Typ B) „aufzuklären“; (Typ C) „Verzweifelte vom Selbstmord abzuhalten“. Zutreffendes bitte streichen!

Nicht sagen zu können, was man fühlt? Das kann von Euphorie bis Verzweiflung sämtliche Bewusstseinszustände aufmischen. Manche Ausdruckswilligen knobeln an ihren tief empfundenen Gefühlen tagelang, bevor der zugehörige Satz steht. Und es sind nicht die schlechtesten Schriftsteller, denen nur nach langem Grübeln ein Werk gelingt. (Frauen eingeschlossen, wie man heute ja extra erwähnen muss.) Mir fällt das Schreiben leicht. Ich wünsche mir verständlicherweise, dass das nicht auf die Qualität drückt. Denn besser wird’s nicht mehr …

In meinem Alter weiß man, wenn die nächste Ernte eingefahren wird, bin ich dran. Die Generation vor mir liegt bereits in der Scheune. Aber Aids hat mich den Tod schon ähnlich früh gelehrt wie der Zweite Weltkrieg unsere Väter. Immer schon war das Leid den Menschen ein treuerer Begleiter als das Glück. Um von weiteren Gemeinplätzen und mir selbst abzusehen: Im Mai waren Donna Summer und Dietrich Fischer-Dieskau gestorben. Pop und Klassik im Kummer vereint.

Silke, die ich 1971 in der Klassik kennengelernt hatte, war ja 1972 in den Pop-Bereich gewechselt. Hätte ich auch gern gemacht, aber da hatte ich kein Alleinstellungsmerkmal. Darum ist mir diese Richtungsänderung verwehrt worden. Gott sei Dank! Pop wurde in Hamburg aufgelöst, ich reiste klassisch durch die Welt. Silke zog es nach zehnjähriger Ehe in Holland wieder nach Deutschland. Sie lebte und arbeitete in Wiesbaden, aber Mitte des vorigen Jahrzehnts kam sie zurück nach Hamburg und kümmert sich seither um meine Stiftung und mich. Nur als mich – vermutlich infolge meines ‚Lebenswandels‘ – der Schlaganfall erwischte, da war sie gerade noch einmal in Wiesbaden. Und mein ‚Leben‘, das hat sich dann richtig ‚gewandelt‘. Von einem Tag auf den anderen.

Es war nicht bloß Trotz. Das Geburtstagsfest zu meinem Sechsundsechzigsten im Jahr 2012 sollte mir und allen anderen beweisen: Ich bin noch da – oder wieder! Wie in alten Zeiten hielt ich eine lange, launige Rede und hatte mit Silkes Hilfe ein beziehungsreiches Menü nebst durchdachter Tischordnung zusammengestellt. Drinks im Garten, Braten im Ofen, Überschwang im Herzen – so kenne ich meine Geburtstage. Jubel ist wünschenswert, aber es funktioniert notfalls auch zu zweit.

Foto: Privatarchiv H. R. | Titelbild mit Material von Shutterstock: Alexander_P (Hände mit Gläsern), Bodor Tivadar (Fleischkeulen) sowie aus dem Privatarchiv H. R. (2)

44 Kommentare zu “#8.2 | Glück gehabt. Angeblich!

  1. Ich frage mich oft wieviel Einfluss so ein Influencer eigentlich hat. Die meisten davon scheinen mir hauptsächlich denselben Trends nachzulaufen, wie alle anderen. Nur eben mit ein paar Schritten Vorsprung. Wirklich neue Anstösse gibt es da meines Erachtens selten zu sehen.

      1. Meistens schäme ich mich ein wenig fremd wenn ich sehe, wie auf Instagram versucht wird mich mit Dingen zu beeinflussen, von denen der Beeinflusser selbst keine große Ahnung zu haben scheint.

  2. Dieser Kommentar, dass man doch nochmal Glück gehabt hätte, ist ähnlich doof wie das „Warum?“ von neulich. Finden Sie nicht auch?

    1. Schlimmer kann es ja (fast) immer kommen. Das sollte aber eigentlich noch kein Grund sein sich mit allem zufrieden zu geben. Das wäre ja eine ziemlich niedrige Messlatte.

      1. Ich sage dazu ja : „Wenn man gerade im Meer ertrinkt, kann einem noch in der letzten Sekunde eine Möwe ins Gesicht scheißen.“ Schlimmer geht immer.

  3. Dass das handschriftliche Schreiben fehlt, kann ich mir gut vorstellen. Es ist ja viel unmittelbarer, wenn man Erlebtes gleich aufschreiben kann. Und mit einem Notizblock im Café ist man wahrscheinlich auch leichter inspiriert, als wenn man zuhause am Computer tippen muss.

  4. Ich „brauche“ Friedhöfe auch nicht, um mich an die Verstorbenen zu erinnern. Sie bringen, wenn überhaupt, Schmerz. Ähnlich wie sie es beim Besuch von Rolands Grab beschreiben. Aber ich kenne auch Freunde, denen es ein Trost ist Sonntags die Gräber ihrer Lieben zu besuchen. Es tickt wohl jeder anders.

    1. Mir kommt es komisch vor, ein Grab zu brauchen, um sich an jemanden zu erinnern. Pietät oder Mangel an Fantasie?

      1. Vielleicht eher das Zweite. Oder man nimmt den Ort um in der Trauer eine Beschäftigung zu haben.

  5. Überschwang im Herzen – das ist wohl das allerwichtigste und schönste wenn es um Geburtstage geht. Viele Freunde und ein schönes Fest helfen dabei sicherlich. Aber es gibt ja viele Wege zum Überschwang.

      1. Im Alter ist der Geburtstag ja oft mühevoll überspielter Anlass zum ‚Unterschwang‘. Ausgelassen ist der Mensch in der Jugend und der Speck in der Pfanne.

      2. Ich feiere meinen Geburtstag gar nicht so gerne in einer großen Gruppe. Das wird mir schnell zu viel.

      3. Manche Menschen wollen sich oder den anderen etwas beweisen. Manche Menschen sind einfach gern unter vielen. Mir sind Bierzelte und Ballermänner auch nicht geheuer. Wenn alle wie ich wären, müssten die Stadien dicht machen.

      4. Mir ist es hauptsächlich unangenehm so im Mittelpunkt zu stehen. Obwohl ich meine Freunde selbstredend sehr mag. Aber ich feiere meistens eher im kleinen Kreis und treffe die einzelnen Personen, Paare, oder kleinere Gruppen separat. Da ist dann auch die Erwartungshaltung nicht so groß, dass das vorbereitete Fest mit allen Mitteln fantastisch werden muss.

      5. Man kann sich auf wenige einfach besser einstellen. Zu Weihnachten hatte ich zweimal Essen mit acht unterschiedichen Personen. Ab sechs fällt es fast immer auseinander in zwei Gruppen.

  6. Dieses Gefühl – nicht sagen zu können, was man fühlt – kennen wir glaube ich alle besser als man erstmal denken würde. Es ist doch selten, dass man sich wirklich verstanden fühlt. Zumindest sind das meistens nicht viele Leute, selbst im eigenen Freundeskreis, die man in diese Kategorie stecken würde.

    1. Ob man selbst glaubt, seine Gefühle nicht ausdrücken zu können, oder ob man sich mit dem, was man sagt, nicht verstanden fühlt – das ist schon ein großer Unterschied.

      1. Das hätte ich in dem Kommentar fast überlesen. Aber das stimmt natürlich. Der Unterschied ist recht entscheidend.

  7. Aus Trotz allein kann man ja auch kaum leben. Wobei wenn man darin Sinn und Ansporn findet … vielleicht reicht das für eine Weile sogar. Aber langfristig braucht es wohl trotzdem noch etwas anderes.

    1. Ich finde es gibt weitaus schönere Gründe zu leben. Ich verstehe schon, dass man z.B. einer bedrohlichen Krankheit trotzen will. Mir kommt gleich Krebs in den Sinn. Aber dann ist das meistens nicht der einzige Grund, der einen zu (über)leben treibt.

      1. Trotz, Wut, Rache. Wie sehr diese Gefühle im Augenblick die Weltpolitik beherrschen! Erschreckend.

  8. Es ist schon erstaunlich was das Internet alles verändert hat. Ich vergesse ab und zu, dass die Jugendlichen heute gar nicht wissen, wie es vorher aussah. Dabei fühle ich mich selbst noch gar nicht so alt. Ob es uns mit der AI in zehn Jahren ähnlich ergehen wird?

      1. 9 Millionen Dollar im Jahr für gute Zwecke ist beachtlich. Wenn das stimmt, verdient er mehr Respekt als ich dachte.

      2. Es macht ja Sinn, dass er die künstliche Intelligenz positiv sieht. Ich persönlich bin noch nicht so sicher, ob wir in ein paar Jahren genauso denken werden.

      3. Es bleibt die Frage was dieses Mal die neuen Jobs sein werden bzw. ob es über kurz oder lang doch auf ein Grundeinkommen herauslaufen muss.

      4. Nicht mal Eisenbahn und Auto wurden am Anfang ernst genommen. Inzwischen ahnen wir, wie unwahrscheinlich schnell Neues wahrscheinlich wird. Und wie immer – zuletzt etwa bei Kernenergie, Gentechnik und Drohne – bekommt die Menschheit mit dem Segen den Fluch gleich mitgeliefert.

      5. Ich bin auch ehrlich gesagt überrascht wie schnell die KI auf einmal in aller Munde und auf vielen Laptops zu finden ist. Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich das erste Mal von Chat GPT gehört habe.

      6. Am Anfang habe ich mich ja – auch in einem Sonntagsbrief – über Chat GPT lustig gemacht. Aber gestern habe ich gerade wieder sehr gute Antworten bekommen, die mir Google nicht hätte liefern können. Allerdings muss man erst mal präzises Fragen erlernen, um profitieren zu können.

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