Der Kellner brachte seinen Aperitif.
––Er dankte und trank.
––Es schmeckte bitter, süß und eisig. Ein Getränk kann eine Weltanschauung sein. Das Glas war glatt und hart zwischen seinen Lippen.
––Er ging zum Angriff über: „Gehören Sie auch zu den Frauen, denen es unangenehm ist, wenn man sie anspricht?“
––Sie sah kurz von ihrer Zeitung auf. „Nein, nur lästig!“
––Die Attacke schien für sie nicht unerwartet gekommen zu sein.
––Er war mit ihrer Antwort zufrieden. Wenn sie freundlicher reagiert hätte, wäre er nach kurzem Gespräch aufgestanden und gegangen. „Sind Sie noch nie jemandem begegnet, den Sie nur deshalb nicht kennenlernen konnten, weil Sie keine Ansatzpunkte fanden, ihn anzusprechen, obwohl Sie es sich gewünscht hätten?“
––Das Entscheidende war, ob sie jetzt antworten würde.
––Einen Augenblick lang blieb es still, auch der Lärm der Wagen und Menschen schien auszusetzen, dann senkte sie die Zeitung ein wenig und sagte in einem Tonfall, der die verscheuchende Handbewegung nach einer Fliege auf Klang übertrug: „Ich interessiere mich erst für Menschen, nachdem ich mit Ihnen gesprochen habe!“
––„Warum fangen Sie dann überhaupt an, mit ihnen zu sprechen?“
––Die Spur eines Lächelns, weniger über seine Frage als über ihre eigene Antwort: „Aus Höflichkeit! Weil sie mir vorgestellt wurden.“
––„Sie sind also ein sehr verbindlicher Mensch!“, stellte er fest. „Nur wundert es mich, dass Sie noch nie mit jemandem Kontakt aufnehmen wollten, weil Sie sein Aussehen angesprochen hat.“
––Sie zuckte die Achseln. „Ich bin eben nicht so oberflächlich.“
––Ein gutes Zeichen! Sie begann schon, sich über sich selbst lustig zu machen.
––„Im Gegenteil!“, sagte er. „Ich halte das für sehr oberflächlich. Im Aussehen eines Menschen spiegelt sich viel von seinem Charakter wider. Wenn Sie nicht Gesichtsausdruck, Haltung und Bewegungen fesseln, was interessiert Sie dann überhaupt an einem Menschen?“
––„Bevor ich mich eingehend mit jemandem beschäftige, überzeuge ich mich durch ein Gespräch mit ihm davon, dass sich die Mühe lohnt“, antwortete sie.
––„Wie langweilig!“, sagte er. „Sie geben gar nichts auf das Äußere, sondern messen einen Menschen am Grad seiner Bildung, seiner Umgangsformen. Da entgehen Ihnen aber die aufregendsten Erlebnisse!“
––Sie lächelte. Immerhin. „Ich habe gar nicht die Absicht, mich aufzuregen. Wahrscheinlich würde es mir nicht einmal gelingen.“
––„Ausgeglichen sind Sie also auch noch!“ In seiner Stimme schwang ehrliches Erstaunen. „Langsam fange ich an, Sie zu bedauern: Sie lassen sich nicht aus dem Gleis werfen. Nichts kann Sie in Aufregung stürzen. Ihr Leben muss ja schrecklich eintönig sein! Sehen Sie mich an! Ich kann plötzlich von einem Menschen so betrunken sein, dass ich unfähig bin, etwas anderes zu tun als ihm zu folgen. Es müssen nicht Frauen sein. Es hat mit Sex nichts zu tun, jedenfalls bin ich mir dessen nicht bewusst. Die Möglichkeit zu beeinflussen und beeinflusst zu werden, ist für mich unwiderstehlich. Sicher, wenn man unbedingt will, kann man ein festes Konzept haben, aber dann muss es doch wenigstens undurchführbar sein.“ Er konnte nur deshalb so agieren, weil er aussah, wie er aussah. Sein Kapital.
––„Nein“, sagte sie, „dabei würde ich mich nicht wohlfühlen. Ich brauche feste Regeln.“
––„Natürlich braucht man feste Regeln. Was sollte man sonst übertreten?“
––Sie schüttelte den Kopf. „Nein, der schwankende Boden der Ungewissheit ist nichts für mich. Ich mache Pläne und versuche, sie zu verwirklichen. So komme ich weiter, Schritt für Schritt. Ich habe keine plötzlichen Eingebungen oder jähen Gefühlsausbrüche. Deshalb überlasse ich mich nicht irgendeiner Situation. Das liegt mir nicht. Es gibt Menschen, die sich mit geschlossenen Augen treiben lassen und doch ans Ziel kommen. Aber ich kann das nicht.“
––„Schade“, sagte er, „wenn Sie nichts erschüttert, müssten Sie gute Erfolge damit erzielen.“
––„Ich verstand Sie so, dass gerade der Reiz Ihrer Methode darin besteht, sich irritieren zu lassen und dann über die eigene Reaktion zu staunen.“
––„Ja“, sagte er, „das ist richtig. Aber eine gewisse Kaltblütigkeit kann nicht schaden. Wer schon bei der ersten Hürde Beruhigungspillen braucht, wird kaum das Ziel erreichen.“
––„Sie haben also ein Ziel!“
––„Sicher!“, sagte er, „aber es ist beweglich und verschiebbar. Mal klapp ich es zusammen und zieh es hinter mir her, mal baue ich es vor mir auf.“
––„Vielleicht bin ich nur so sicher, weil ich mich nie auf Abenteuer einlassen würde. Unsicherheit entsteht vor allem aus der Furcht vor der eigenen Entscheidung. Ich weiß immer, wie ich mich entscheiden werde, also brauche ich mich vor nichts zu fürchten.“ Sie machte eine kurze Pause, ehe sie weitersprach. „Wahrscheinlich haben Sie recht. Ich bin langweilig. Also reden Sie nicht länger mit mir.“ Sie las weiter. Es wirkte aufgesetzt.
––„Und was empfinden Sie für Menschen, mit denen Sie sprechen?“, fragte er. „Nachdem sie Ihnen vorgestellt wurden – nicht vorher.“
––Ja. Jetzt ließ sie die Zeitung doch wieder sinken. Ihre Figur war, jedenfalls bis zum Tischansatz, hervorragend: ausgeprägt, aber nicht übertrieben.
––Sie trank einen kleinen Schluck. Langsam stellte sie das Glas zurück auf den Untersatz. „Verständnis!“, sagte sie.
––„Und reicht das für Sie aus, um jemanden gern zu haben?“, fragte er.
––„Es reicht.“ Und auf ihn bezogen wiederholte sie unfreundlich: „Es reicht!“
––Er nickte. „Für Menschen, die wir verstehen, empfinden wir wohl eine gewisse Zuneigung. Denn es schmeichelt unserem Stolz, sie zu begreifen. Und Menschen, von denen wir uns verstanden glauben, lieben wir – wenn es sie gibt.
Je klarer einem wird, wie schwer solch ein Mensch zu finden ist, desto mehr nimmt man sich vor, ihn zu lieben.“
––Sie antwortete nicht, sondern sah teilnahmslos auf die Straße.
––„Sie brauchen das, was ich sage, nicht ernst zu nehmen“, erklärte er. „Vieles sage ich nur, weil ich finde, dass es schön klingt. Vielleicht ist es wirklich meine Meinung, vielleicht nicht. Ich prüfe das nicht nach, wenn es mir nur gefällt.“
––Sie sah immer noch auf die Straße, auf das warme Hin und Her bunter Menschen. „Was wollen sie eigentlich von mir?“, fragte sie.
––„Ich will Sie verführen“, antwortete er bestimmt.
––Sie sah ihn an. „Erstaunlich ist nur, dass Sie das gleich zugeben“, sagte sie. Überrascht klang sie nicht.
––„Das ist die Voraussetzung“, erklärte er.
––„Haben Sie das nun nur gesagt, weil Sie finden, dass es schön klingt?“
––„Nein, es ist mein Ernst. Ich will Sie ja nicht übertölpeln. Ich will Sie nicht wehrlos oder gefügig machen. Ich will Ihr Gewissen nicht einschläfern, sondern schärfen. Sie sollen genau wissen, was Sie tun – und dann sollen Sie es tun!“
––Sie lachte, und in ihrem Lachen lag eine Spur von Verwirrung und Erstaunen über die Verwirrung. „Und Sie glauben tatsächlich, dass ausgerechnet ich mich darauf einlassen würde?“
––„Wenn Sie ein ‚leichtes Mädchen‘ wären, würde sich die Mühe wohl nicht lohnen“, antwortete er mit dem nachsichtigen Ton, mit dem man Schwachsinnigen etwas Selbstverständliches erklärt. Doch dann sagte er ohne Übergang: „Sie haben die ganze Zeit so angeregt im Feuilleton gelesen. Interessieren Sie sich für Kunst?“
––Sie sah nach unten auf ihre Zeitung. Die oberste Seite zeigte das Foto einer Skulptur, die ein Museum der Stadt neu erworben hatte. „Wenn ich mit ‚ja‘ oder ‚nein‘ antworte, gibt es Ihnen die Gelegenheit, boshafte Bemerkungen über kunstinteressierte oder desinteressierte Laien zu machen, die dumm reden und nichts verstehen. Aber die Dummheit liegt in Ihrer Frage. Man interessiert sich nicht für Kunst, sondern für das Werk bestimmter Menschen und die Einstellung und Wesensart, die sie damit zum Ausdruck bringen.“
––Er lächelte zufrieden. Solch ein Wortschwall!

Titelillustration mit Material von Shutterstock: Nejron Photo (Porträt Mann), Pressmaster (Geschenk), Antonio Guillem (Zeitung)

32 Kommentare zu “Boulevard | #2

  1. Das kann ich so vollkommen unterschreiben: Wenn man nicht vonGesichtsausdruck, Haltung und Bewegungen gefesselt ist, was interessiert einen dann überhaupt an einem Menschen?

      1. Manchmal verdrängt man den ersten Eindruck, gewöhnt sich an einen Menschen und landet nach kürzerer oder längerer Zeit mit seinen Gefühlen doch wieder bei dem, was der erste Eindruck vermittelt hatte.

      2. Ohne diesen ersten äußerlichen Eindruck wären wir wahrscheinlich ziemlich verloren. Andererseits stimmt ich zu, ich habe mich schon einige Male in Menschen geirrt. Im Guten wie im Schlechten.

      3. Gesichtsausdruck, Haltung, Bewegungen … das erzählt einem doch schon einiges über das Innere. Das ist doch gerade das Spannende.

  2. Natürlich interessiert man sich nicht für jedes je gemalte Bild oder jede gefertigte Skulptur wenn man sagt, dass man sich für Kunst interessiert. Aber trotzdem gibt es doch Menschen, die sich ganz grundsätzlich für Kunst interessieren und solche, die das eben nicht tun!

    1. Ich bin nicht sicher ob das stimmt. Wir alle mögen doch bestimmte Musik, verschiedene Filme, vielleicht eine Zeichnung oder ein Mural, der nächste dann zeitgenössische Installationen, wieder ein anderer digitale Sachen. Was man da genau Kunst nennt, oder ob das nicht alles nur verschiedene Schattierungen der selben Sache sind, wer weiss es.

      1. Nicht jeder Film ist Kunst. So einfach kann man es sich nicht machen.

      2. Was Kunst, was Kitsch ist, was banal und was tiefsinnig, das unterliegt subjektiver Beurteilung. Außerdem: Ich kann etwas als Kunst anerkennen und verabscheuen. Ich kann etwas Kitsch nennen und lieben. Noftetete und die Mondscheinsonate werden aber wohl jedem als Kunstwerke einleuchten.

      3. Man muss da auch klar entscheiden was man ausdrücken will: Kann Kunst für jeden interessant sein? Klar. Wenn man die Menschen mit dem für sie richtigen Kunstwerk erwischt, stimmt das bestimmt. Aber kann man die Menschen deshalb von Natur aus als kunstinteressiert bezeichnen? Wohl eher nicht.

      4. In der Regel ist es ja schon mal ein gutes Zeichen wenn jemand von anderen als Künstler gesehen wird und sich nicht nur selbst so sieht.

  3. Mich nervt es ja meistens auch eher, wenn mich jemand so aus dem Nichts anspricht. Andererseits sind solche Versuche auch selten so interessant oder charmant wie bei unserem Verführer.

  4. Sich verführen lassen, die Besetzungscouch gezielt ausnutzen, oder vergewaltigt werden (siehe Newsletter) sind doch sehr verschiedene Dinge. Ich glaube nicht, dass man das durcheinanderwerfen oder vermischen kann.

    1. Richtig, man s o l l t e es nicht vermischen. Aber der Vergewaltiger behauptet gern, es sei in gegenseitigem Einvernehmen geschehen, das berechnende Couchopfer kann sich nachträglich einreden, vergewaltigt worden zu sein.

      1. Das ist so ein sensibles Thema. Ausgenutzt wird doch jedes Thema und jede Situation. Das ist hier aber meiner Meinung oder meinem Empfinden nach wirklich nicht die Regel.

      2. Tricky! Ich würde grundsätzlich erstmal dem Opfer glauben. Aber es gibt natürlich auch Fälle, wo Falschaussagen vorliegen.

      3. Ausnahmen bestätigen die Regel, aber sie bleiben eben trotzdem immer: Ausnahmen!

      4. Disclosure „Enthüllung“ hatte schlechte Kritiken in Deutschland. Da ist der Mann mal das Opfer. Ich fand den Film sehr unterhaltsam und eine gute Studie über inhumane Firmenpolitik.

      1. Ich hab auch das Gefühl gerade bei DIESEM Verführer wird möglicherweise anders verführt oder mit anderem Ziel als man erstmal meint.

  5. Für Menschen, die wir verstehen, empfinden wir wohl eine gewisse Zuneigung. Und anders herum nimmt die Zuneigung manchmal ab weil wie Menschen auf einmal nicht mehr verstehen.

    1. Naja, ich kann die Beweggründe eines Menschen verstehen, ohne sie zu billigen und ihn zu mögen. Ich kann mich dagegen zu jemandem hingezogen fühlen, der für mich nicht ganz durchschaubar ist.

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