„Wenn die Fronten erst geklärt sind, wenn schon feststeht, was folgen wird, ist es doch nur noch peinlich“, sagte er. „Ekel und Verachtung. Verachtung für die gekeuchten Fragen: Liebst du mich? Bist du so weit? War es schön? War ich gut? Und immer wieder: Liebst du mich? Mann lügt, und sie merkt es nie. Lieber sollte man schweigen oder sich Witze erzählen! Spray vorher, Dusche hinterher. Beim ersten Mal fürchtete ich, ich würde es als erniedrigend empfinden, aber ich empfand nichts als eine wachsame Gleichgültigkeit, eingebettet in einen Augenblick der Entspannung – oder Anspannung, ich weiß es nicht genau, ein Höhepunkt in dem schmerzlichen Bewusstsein, dass es jetzt ganz vorbei ist. Wie fern ist mir eine Frau, wenn sie unter mir stöhnt! Die vollständige Berührung löscht alles Eigenständige, Persönliche aus. Etwas ist in Bewegung gesetzt worden, läuft ab und ist am Ende. Hinterher ist sie hilflos wie eine Schildkröte ohne Panzer. Verwundbar und zufrieden. Jeder ist hilflos. Es bleibt nichts als eine stille Ehrfurcht vor den Empfindungen der Frau, ihrem genügsamen, trügerischen Glück, mich glücklich zu wissen. Wenn sie mir die Zukunft ausmalt, bin ich feige. Ich baue nicht mit an dem Luftschloss, aber ich reiße es auch nicht ein. Vorher habe ich ihr deutlich erklärt: ‚Es gibt keine Zukunft!‘, aber jetzt sage ich: ‚Ja, das wäre schön!‘, und fühle die Verantwortung, ihr noch ein paar Stunden zu lassen, die eine Nacht. Der Abschied ist schmerzlich wie der letzte Tropfen einer Flasche, mit der man sich hatte betrinken wollen. Sie geht zurück zu ihren Freunden, zurück in ihre Welt. Wahrscheinlich wird sie mich nie mehr sehen, aber auch nie mehr vergessen.“
––„Sie suchen immer noch nach einer Erfüllung“, sagte sie, „Sie haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Doch Sie gehen einen Weg, auf dem Sie sich bewusst zerstören. Sie werden versteinern.“
––„Ach was!“ Seine Stimme klang plötzlich schroff und gereizt. „Das war alles Unfug, was ich gesagt habe. Es gibt doch nichts als den physischen Kontakt. Der Sex ist das Einzige, was einem für kurze Zeit hilft.“
––„Wobei?“, fragte sie vorsichtig.
––„Nicht ‚Wobei?‘. ‚Worüber hinweg?‘, muss die Frage heißen. Aber auch darauf gibt es nur Gemeinplätze als Antwort. Es ist das einzig Greifbare, das einzige …“ Er versuchte, mit den Fingern die Worte aus der Luft zu fischen. Doch dann ließ er die Hände fallen und strahlte sie mit dem gewinnenden Lächeln an, das sie nun schon an ihm kannte. Aber statt dass sie sich daran gewöhnte hätte, verwirrte es sie jedes Mal mehr.
––„Ach, was sollen wir uns den Kopf darüber zerbrechen“, sagte er, „es gibt immer zwei Möglichkeiten, mit einem Problem fertigzuwerden: Entweder man löst es, oder man legt sich schlafen!“
––Nun lächelte sie auch. „Und Sie meinen, wir sollten gemeinsam den zweiten Lösungsweg einschlagen?“
––„Ja“, sagte er, „das wäre schön. Vorübergehend ist das die zuverlässigste Methode.“
––Die Dämmerung war hereingebrochen, sie dämpfte das Sichtbare, aber nur das Sichtbare. Die Menschen waren nicht mehr deutlich zu erkennen. Es gab kaum noch Ablenkung.
––Er schien ihr verändert und doch vertraut.
––Hinter der protzigen Sicherheit, die sie anfangs gestört hatte, sah sie eine ängstliche Hilflosigkeit in seinem Gesicht, etwas Zartes, Behutsames. Gerade jetzt, wo sie kaum noch seine Augenfarbe erkennen konnte, schien es deutlich hervorzutreten. Da wusste sie, dass nichts von all dem, was er gesagt hatte, unwahr gewesen war. ‚Vielleicht könnte ich seine Schuld lieben‘, kam es ihr in den Sinn, und sie sagte: „Schade, dass ich so altmodisch bin.“
––„Niemand ist ganz modern oder ganz unmodern“, sagte er. „Ein tüchtiger Erfinder kann eine Vorliebe für antike Skulpturen haben. Ein erfolgreicher Designer kann sich von Adelstiteln beeindrucken lassen. Kaum ein Mensch ist in all seinen Äußerungen fortschrittlich. Das ist immer mehr oder weniger gut durchmischt.“ ‚Sie hätte es lieber, wenn ich weniger reden würde‘, dachte er. Aber es geht nicht.
––Sie senkte den Kopf. „Ich hatte mir mal vorgenommen, mich nur mit Männern einzulassen, die ich liebe“, sagte sie umständlich.
––„Damit werden Sie aber nicht weit kommen“, sagte er ohne Schärfe. „Sie sollten diesen Vorsatz aufgeben. Dann ersparen Sie sich Schwierigkeiten und Enttäuschungen.“
––Sie hob den Kopf wieder und sah ihn forschend an.
––„Nein“, sagte er. „Bleiben Sie dabei!“
––„Vielleicht merkt man es erst, wenn es schon zu spät ist.“ Ihre Stimme klang verträumt.

Ein stärkerer Windstoß erfasste jetzt auch ihr Haar und verfing sich tastend in ihrem Kleid. Das Braun ihrer Haut hatte einen olivfarbenen Schimmer. Je dunkler es wurde, desto deutlicher zeichneten sich die Linien ihres Gesichtes ab.
––Sie streckte die linke Hand bis zur Tischmitte vor.
––Er hätte sie berühren können, greifen. ‚Vielleicht würde sie nicht zurückzucken.‘ Aber das ging natürlich nicht und war gegen alle Regeln. Er musste sich vorsehen, sonst würde nicht er sie, sondern sie ihn verführen. „Erzählen Sie mir etwas von sich!“, forderte er sie auf.
––„Da gibt es nichts, was sie fesseln könnte“, sagte sie. „Meine Eltern haben mir immer gesagt, was ich tun soll, und ich habe es getan, weil ich keine bessere Möglichkeit sah. Ja, ich war sehr artig. Jetzt bin ich selbstständig. Das bedeutet, ich tue freiwillig das, wozu man mich schon früher nicht zu zwingen brauchte. Meine Mutter hat für alles ein Rezept, und ich habe alle ihre Rezepte übernommen, denn sie ist eine kluge Frau. Uns kann kaum etwas überraschen. Wir planen, handeln und passen uns an. Wir kommen aus. Wir kommen weiter. Wir sind zufrieden. So ist auch meine Verlobung zustande gekommen. Ich weiß nicht, warum das alles so bemitleidenswert klingt. Ich habe es nie so empfunden. Dabei habe ich mir eingebildet, ich hätte Fantasie und ein gewisses Maß an Intelligenz. Nun bin ich also verlobt, und mein Lebensweg ist vorgezeichnet. Wenn man erst darüber nachdenkt, muss man sich fast schämen.“
––„Warum haben Sie nicht auf die Liebe gewartet, wo Sie doch daran glauben?“, fragte er.
––„Vielleicht bin ich unfähig“, sagte sie, „zu warten und zu lieben. Ich bin zwar weder ruhelos noch träge. Mich interessiert vieles, aber kaum etwas bewegt mich.“
––„Liebe besteht ohnehin zur Hälfte aus Nichtwissen und zur anderen Hälfte aus Nichtwissenwollen“, sagte er.
––Sie antwortete nicht, sondern trank einen Schluck.
––Ihm fiel ein, dass er auch noch etwas im Glas hatte. Er schluckte den lauwarmen Rest in einem Zug herunter, wie eine Medizin.

Titelillustration mit Material von Shutterstock: Nejron Photo (Porträt Mann), Pressmaster (Geschenk), Antonio Guillem (Zeitung), Viktor Gladkov (Frau [li.]/Frau mit Sonnenbrille [oben re.]), Stokkete (posierendes Pärchen), Kues (Gin Tonic), Jacob Lund (stöhnende Frau)

29 Kommentare zu “Boulevard | #7

  1. Das Nichtwissen(wollen) finde ich tatsächlich auch wichtig. Man muss nicht alles voneinander wissen um miteinander glücklich zu sein.

      1. Wenn Fragen zu bohren beginnen, sind sie schwer auszuhalten. So hat schon des Schneiders Weib die Heinzelmännchen aus Köln verscheucht und Elsa Lohengrien aus Brabant.

      2. Ja das stimmt leider. Und manchmal treten da fast grundlos solche Fragen auf und trotzdem wird das Vertrauen dadurch so stark zerrüttet, dass die Beziehung langsam aber sicher dahin ist.

    1. Da gibt es wieder ebenso viele Arten miteinander zu leben wie es Menschen gibt. Die einen hocken jede Sekunde ihres Lebens aufeinander und sind dabei überglücklich, die anderen brauchen Abstand und Freiheit um zufrieden zu leben.

      1. Selbst getrennte Wohnungen werden manchmal als wohltuend empfunden. Aber da muss wohl jeder das machen, was er als optimal sieht. Und natürlich den richtigen Partner finden.

      2. Wenn ich jemanden liebe, dann möchte ich auch möglichst viel Zeit miteinander verbringen. Man weiss ja eh schon nicht wie lange man wirklich glücklich sein kann. Das Leben hält so viele Überraschungen bereit. Aber jeder hat natürlich seinen eigenen Weg bei so etwas, das ist völlig klar.

      3. Dass ich, zusammengenommen, fast das halbe Jahr auf Reisen war, hat meiner Beziehung sehr gut getan: Viel zu erzählen, viel nachzuholen. Seit ich allein lebe, freue ich mich nie mehr auf Zuhause.

      4. Ich mochte an meinen vielen Geschäftsreisen auch das zurückkommen am liebsten. Das funktioniert natürlich nur wenn zuhause jemand wartet.

  2. Dass SIE in ihrer Jugend artig das getan hat, was die Eltern ihr diktiert haben und heute doch selbstständig ist, das scheint mir ungewöhnlich. Meistens entwickelt sich das doch genau andersrum.

  3. Aber dieses „War es schön? War ich gut?“ fragt man doch auch nicht. Also außer wenn das Date relativ scheußlich ist. Nach dem Sex drauflos zu analysieren fände ich auch äußerst abtörnend.

    1. Es scheint unser Verführer hat einfach zu viel schlechten Sex gehabt und ist nun dementsprechend desillusioniert 😂

      1. Hahaha! Ja daran habe ich auch schon gedacht. Vielleicht ist er weniger Verführer als armes Würstchen.

      2. Naja, er stellt immerhin der eitlen Karikatur-Frage „War ich gut?“ seine eigene ‚Ehrfurcht vor den Empfindungen der Frau‘ gegenüber.

  4. Sich nur mit Männern einlassen, die man liebt… Ja das klingt erstmal nach einer hübschen Idee. Ob das aber am Ende glücklicher macht, das kann man so einfach auch nicht sagen.

      1. Die Liebe lässt sich eben auch nur schwer finden wenn man erst gar nicht probiert.

      2. Ich frage mich auch manchmal ob man überhaupt schon wissen kann was die große Liebe ist, wenn man völlig unerfahren ist. Damit meine ich vor allem unerfahren in Beziehungen, nicht unbedingt unerfahren im Sex.

  5. Warten auf die Liebe, naja warten ist so eine Sache. Wer verkrampft sucht, der hat meistens nur wenig Glück, wer aber einfach passiv abwartet, der wird mitunter auch enttäuscht werden.

    1. Das stimmt ohne Frage. Aber wie bei allem anderen auch können zu große Erwartungen nur in Enttäuschung enden. Leidenschaftliche tiefe Liebe ist auch ohne Überhöhung möglich. Aber es gibt wohl auch kein schwierigeres Thema…

      1. Ja klar, wer da verkrampft rangeht ist dann wahrscheinlich eh fern jeder Leidenschaft. Aber gerade bei der Liebe will man doch die große finden!

  6. Sie hat für alles ein Rezept und sie passt sich den Umständen an. Wenn diese beiden Eigenschaften tatsächlich in der Waage sind, ist das bestimmt optimal.

      1. Ist das langweilig? Wird es das nicht eher wenn man immer gegen die Wendungen des Lebens ankämpft?

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