Die Sonne war jetzt vollständig verschwunden.
––Er nahm die Hand vom Gesicht. „Hadern Sie damit, dass Sie kein enges Leben im Küchendunst zu führen brauchen?“, fragte er. „Die einen gehören hinters Fließband, die anderen hinter die Bar und noch andere hinter den Schreibtisch. Das ist keine Frage der Herkunft, sondern der Veranlagung. Es ist amüsant, sich vorzustellen, dass vor Entstehung der Welt die großen Töpfe mit Eigenschaften auf die Menschen verteilt worden sind. Gutmütigkeit und Bequemlichkeit zum Beispiel sind wie Erbsensuppe aus der Gulaschkanone. Davon gibt es viel. Deshalb bekommen die meisten eine mehr oder minder große Portion davon ab. Durchsetzungsvermögen und Wendigkeit sind knapp. Davon bekommen nur wenige ein paar Happen. Damit sie aber trotzdem nicht ungerecht behandelt werden, gibt es außerdem noch zwei, drei Löffel Maßlosigkeit oder Wahnsinn oder Zerstörungssucht für sie. So wird jedem sein Menü zusammengestellt. Der eine bekommt ausreichend einfache Kost und wird satt. Ein anderer bekommt für denselben Preis einige Delikatessen und bleibt sein Leben lang hungrig. Eine alberne Vorstellung, nicht?“
––„Und was entnehmen Sie Ihrem Modell?“, fragte sie.
––Er zuckte die Achseln. „Nichts“, sagte er, „oder höchstens eine gewisse Verständnisbereitschaft, Einsicht in die wertfreie Verschiedenheit der Menschen. Ich würde nie Verbrüderung, Kumpanei suchen. Ich bin nicht für Solidarisierung von Fremdkörpern, wo es nicht unbedingt notwendig ist. Doch ich halte mich auch nicht für unsozial. Ich habe einen anderen Geschmack und andere Interessen als viele Menschen, die vielleicht außerdem, oder manchmal sogar deshalb, weniger finanzielle Mittel haben als ich. Ich habe nichts, jedenfalls nicht viel mit ihnen gemeinsam. Trotzdem bin ich bereit, Opfer für sie zu bringen, oder nein, ‚Opfer‘ klingt schon nach Gnade, ich bin bereit, um der Gerechtigkeit willen zum Ausgleich der Lebensbedingungen beizutragen, aber ich will nichts mit ihnen zu tun haben. Das ist kein Dünkel, sondern Einsicht in die Unvereinbarkeit unserer Ziele und Vorstellungen. Mit Herkunft oder Ansehen hat das alles nichts zu tun.“
––„Verführen Sie auch Arbeiterfrauen?“
––„Ich hatte bisher noch nicht das Vergnügen.“
„Es scheint also doch eine Prestigefrage zu sein, von Ihnen verführt zu werden“, sagte sie. Er schwieg. Irgendetwas begann, schief zu laufen.
––Doch sie lenkte ein: „Sie haben schon recht. Man lebt im engen Kreis eigener Anschauungen, und es ist nahezu unmöglich, ihn zu sprengen.“ Plötzlich lachte sie. „Klingt das nicht hinreißend trivial?“ Sie lachte wieder, blendend, siegessicher, so, als wäre sie eben aufgewacht und würde sich jetzt erst ihrer Möglichkeiten bewusst. Sie machte dem Kellner ein Zeichen und bestellte einen weiteren Gin Tonic. Dann wandte sie sich wieder dem Mann ihr gegenüber zu, der im Augenblick leicht verwirrt schien. ‚Ich glaube, heute bin ich gut‘, dachte sie. ‚Wahrscheinlich würde ich mir auch gefallen, wenn ich mich jetzt sehen könnte. Eindruck zu machen, macht Spaß. Das ist doch nichts Schlimmes. Ich werde mich gehen lassen und aufhören, über all das nachzudenken, was er sagt. Es ist nicht unangenehm, seiner Stimme zuzuhören, aber man darf ihn nicht ernst nehmen. Natürlich lasse ich mich nicht von ihm verführen, aber warum soll ich ihm das jetzt schon sagen?‘
––„Verführen Sie auch junge Männer?“, fragte sie.
––„Nein“, antwortete er, „leider nicht. Ich weiß natürlich, was mir da entgeht. Besonders sublime und lichtscheue Formen von Verworfenheit bleiben mir verschlossen. Sicher kann es auch da Spießigkeit geben, aber ich denke, davor wäre ich gefeit. Fesselnde Konstellationen der Verführung bleiben ungenutzt. Ein breites Feld bleibt unbebaut. Es ist nahezu tragisch. Doch was soll ich machen? Es ist gegen meine Natur. Ich komme nicht dagegen an!“
––„Seien Sie ein Mann!“, sagte sie. „Reißen Sie sich zusammen und überwinden Sie Ihre Schwäche! Ihr Ehrgeiz müsste Ihnen doch nützlich dabei sein!“
––Er machte ein bekümmertes Gesicht.
––„Ich fürchte nicht. Aber“, seine Stimme bekam etwas Lauerndes, „vielleicht könnte ich mit Ihrer Hilfe einen neuen Anlauf wagen?“
––„Ja vielleicht!“, sagte sie fast schwärmerisch. „Das wäre die einzige Art von Verführung, für die ich Ihnen zur Verfügung stünde.“ Sie hob die Augenbrauen. „Kann ich mich als abschreckendes Beispiel nützlich machen?“
––Er zog, wie zur Antwort, auch die Augenbrauen hoch. „Nein“, sagte er, „Sie sollten sich keine Aufgaben zumuten, für die Sie doch nicht genügen!“ Ein hinterhältiger Zug um seinen Mund verflüchtigte sich rasch wieder.
––Der Kellner kam und tauschte ihr leeres Glas gegen ein volles. Nur den kleinen Zettel ließ er zurück und steckte einen neuen daneben. Dann warf er ihr einen etwas anzüglichen Blick zu, um zu beweisen, dass ihm der gelungene Annäherungsversuch des Herrn vom Nebentisch nicht entgangen war.
––Sie achtete nicht darauf, sondern nahm ohne Hast, aber bestimmt einen Schluck von dem eiskalten Getränk. Die Zitronenscheibe berührte ihre Lippen. „Was machen Sie im Winter?“, fragte sie. „Auch verführen?“
––Er erwiderte den Angriff ihres Lächelns. „Ja, sicher“, sagte er. „Ich bin kein Saisonarbeiter. Ich brauche weder Wärme noch Straßencafés.“
––„Sie leben in einem Selbstbedienungsgeschäft der Lüste“, sagte sie, „doch wenn man sein Leben darauf ausrichtet, sich zu amüsieren, wird einem das nicht gelingen.“
––„O doch!“, antwortete er bestimmt, „es geht großartig. Sie haben es bloß noch nicht versucht.“ Mit Befriedigung stellte er fest, dass sie der Herausforderung seines Blickes standhielt.
––„Sie genießen die Menschen, wie Feinschmecker Artischocken essen“, sagte sie, ohne seinem Blick auszuweichen. „Sie zupfen sich die besten Blätter heraus, saugen an ihnen herum, nagen sie ab und werfen die ausgekauten Reste weg.“
Ihr Blick war bohrend.
––Er musste Widerstand einsetzen. Ein ziemlich zäher Gegner, fand er. Eine Gegnerin. „Zu einer normalen Liebesbeziehung sind Sie nicht fähig.“ Das war sachlich gesagt, nicht verächtlich. „Sie werden nie das Zugehörigkeitsgefühl eines gemeinsam durchgestandenen Lebens haben, die geteilten Schwierigkeiten, Erfolge, Erinnerungen. Sie werden nie die vielen Eigenschaften eines Menschen kennenlernen, die man erst entdeckt, wenn man lange Zeit mit ihm zusammen und für ihn da war. Sie entgehen der Eintönigkeit des gemeinsamen Alltags, aber Ihnen bleibt auch seine Zufriedenheit verschlossen.“
––„Ich bin wohl ein Schwein“, sagte er missmutig.
––„Es gibt zumindest nichts, worauf Sie besonders stolz sein müssten“, antwortete sie.
––Er lächelte schwach. „Ich fange an, mich vor Ihnen zu fürchten!“
––Sie gab noch nicht nach. „Das ist gut“, erklärte sie, „die Furcht vorher ist schon ein Teil der Lust.“
––„Vielleicht könnte ich darauf verzichten“, sagte er. „Im Grunde habe ich ohnehin nichts davon. Vielleicht könnte ich sogar ganz ohne Sex auskommen.“
––„Ach, sind Sie so triebsschwach?“, fragte sie.
––„Nein“, sagte er, „aber ich könnte meine Triebe von ihrer Ausrichtung auf die Menschen loslösen.“
––„Halten Sie Tiere für so viel ergiebiger?“
––„Ich meine, man müsste seine Triebe abstrahieren und dadurch nutzbar machen können.“
––„Sehr gut“, sagte sie, „wie die Pflanzen assimilieren, so verwandeln Sie unkeusche Triebe in geistige Kraft. Ganz neu ist das zwar nicht, aber anerkennenswert.“
––„Ja“, sagte er, „das wäre ein Ausweg. Am Sex ist wirklich nur die Begegnung, der Anfang erfreulich. Man müsste alles in die Wege leiten und dann aufhören können.“
––‚Meinte er das jetzt ernst?‘ Sie sah ihn erwartungsvoll an.

Titelillustration mit Material von Shutterstock: Nejron Photo (Porträt Mann), Pressmaster (Geschenk), Antonio Guillem (Zeitung), Viktor Gladkov (Frau [li.]/Frau mit Sonnenbrille [oben re.]), Stokkete (posierendes Pärchen), Kues (Gin Tonic)

28 Kommentare zu “Boulevard | #6

    1. Er scheint es ja durchaus zu genießen, dass er hier eine ebenbürtige Gesprächspartnerin gefunden hat. Das war doch genau was er suchte, eben keine leichte Beute.

      1. Vielleicht ist es genau das, was ihn bald zum Sprung treiben wird. Die Einsicht, dass er sich da getäuscht hat. Dass sein ganzer Plan, seine ganze Verführungsphilosophie hier ad absurdum geführt wird.

      2. Ich bin aber trotz allem noch davon überzeugt, dass er unser Verführungsopfer mit in den Abgrund ziehen wird…

  1. Hahaha, mein Lieblingssatz dieser Boulevard-Reihe: „Es ist nicht unangenehm, seiner Stimme zuzuhören, aber man darf ihn nicht ernst nehmen“.

      1. Sie hat ja wohl nicht unbedingt vor sich verführen zu lassen. Wenn man also quasi neutral zuhört, was ER da alles von sich gibt, dann ist das schon interessant.

  2. Die Einsicht, dass „Irgendetwas begann, schief zu laufen“ kommt ihm aber auch reichlich spät. Das Gefühl habe ich schon seit ein paar Kapiteln.

  3. Am Sex ist wirklich nur die Begegnung erfreulich? Das trifft so doch wirklich nicht zu, jedenfalls nicht als allgemeingültige Regel.

      1. Das trifft wohl auf die meisten zu. Nicht jede einzelne Aussage kann einer gründlichen Untersuchung standhalten. Und nicht alles ist ja auch eins zu eins wörtlich gemeint.

      2. Man hat bei ihm ja eh das Gefühl, dass er redet um ein auf ein ganz bestimmtes Ziel zuzusteuern. Es geht ihm daher wohl auch nicht um einzelne Aussagen bzw. um deren Wahrheitsgehalt, sondern vielmehr darum möglichst effektiv sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.

  4. Ich bin nicht so sicher ob dieses Verteilungsmodell für Charaktereigenschaften so stimmen kann. Zumindest finde ich oft, dass Gutmütigkeit ebenso selten ist wie Durchsetzungsvermögen.

    1. So ein bisschen habe ich ja das Gefühl, er testet seine Ideen noch aus während er sie formuliert. Er benutzt die Gesprächspartnerin quasi als Werkzeug um seine eigenen Gedanken zu schärfen.

  5. Am Anfang dachte ich, er sei der große Verführer und sein Gegenüber wird eingeschüchtert sein. MIttlerweile haben sich die Rollen fast schon umgekehrt 😉

      1. Tja, läuft alles ganz genau so wie man es erwartet, dann gibt es relativ wenig zu erzählen. So bleibt es weiter spannend.

  6. Hahaha, wunderbar, dieses Mal gibt es ohne Frage einen meiner liebsten Wortwechsel dieser Reihe: „Was machen Sie im Winter?“, fragte sie. „Auch verführen?“ 😂

    1. Kein Wunder, dass ER etwas überrascht über ihre Schlagfertigkeit ist. Er sucht zwar keine leichte Beute, aber fühlt sich den Frauen ja anscheinend trotzdem generell erst einmal überlegen.

  7. Ein Selbstbedienungsgeschäft der Lüste – in dem Fall ist das dann aber eher eine intellektuelle Lust. Außer es ändert sich noch etwas drastisch.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

3 × drei =