Einen Augenblick lang sahen sie sich schweigend an.
––Die Tische ringsum waren nach wie vor voll besetzt. Auch der Verkehr lief unvermindert weiter. Die matten Lichter und die schwimmende Leuchtreklame gaben dem frühen Abend etwas Unbestimmtes. Das Raunen der Gäste und Passanten klang erwartungsvoll. Gläser, Flaschen, Gesichter. Menschen, Wagen und die schwellende Luft eines Sommerabends.
––„Ich habe übrigens auch einen Beruf“, nahm sie das Gespräch nach einer Weile wieder auf. „Ich bin Journalistin. Ich bin überall und tue so, als verstünde ich etwas von dem, was ich sehe. Im Grunde habe ich Spaß an meinem Beruf, aber nicht mehr lange. Wenn ich heirate, höre ich auf zu arbeiten.“ Sie sah gedankenverloren vor sich hin. „Peter ist der richtige Mann für mich“, sagte sie zuversichtlich. „Er tut für mich, was er kann. Er ist vernünftig, verständnisvoll und hat eine glänzende Zukunft vor sich. Er ist Rechtsanwalt.“ Sie sah auf die Uhr. „Ich hole ihn gegen halb neun in seiner Praxis ab. Sein Vater hat sie aufgebaut. Er war auch schon sehr erfolgreich.“
––„Sie heiraten also in eine gesunde, solide Familie ein, die von keinerlei Auswüchsen befallen ist“, sagte er tonlos.
––„Ganz so schlimm ist es auch nicht. Sein Bruder erholt sich gerade in einem erstklassigen Sanatorium von einem Selbstmordversuch. Er ist diesem Leben nicht gewachsen. Schlaftabletten. Im Wald. Verrückt, was? Ich glaube, er wird es wieder tun.“
––„Wenigstens etwas“, sagte er anerkennend. „Wo hat Ihr Verlobter seine Praxis?“
––„Am Hauptbahnhof“, erklärte sie unbestimmt.
––„Wie kommen Sie dahin?“, fragte er.
––„Mit meinem Wagen“, sagte sie. Es klang abwesend. Abweisend.
––„Und wie fahren Sie zu ihm?“, fragte er weiter.
––„Ich fahre bis zur Nationalstraße und dann links runter …“
––„Nein“, unterbrach er sie, „rechts rauf!“
––Sie sah ihn verblüfft an.
––„Sie fahren bis zur …“, er überlegte einen Augenblick, „bis zur fünften Kreuzung, dann biegen Sie links ab. Die dritte Querstraße ist die Lindenallee. Sie biegen rechts ab und fahren sie entlang bis zum Weidenstieg. Das ist die zweite Kreuzung. Dort biegen Sie wieder links ab. Sie fahren bis zur Nummer 23. Im dritten Stock läuten Sie an der Tür rechts. Weidenstieg 23, dritter Stock rechts.“ Er hatte langsam und betont gesprochen, als wollte er jedes Wort in sie einpressen. „Können Sie es behalten?“
––„Nein“, sagte sie zufrieden.
––„Soll ich es Ihnen aufschreiben?“
––„Nein!“ Sie genoss das Wort.
––„Werden Sie kommen?“
––„Glauben Sie im Ernst, ich würde mir wegen einer einzigen Nacht mein ganzes Leben zerstören?“
––„Die entscheidenden Ereignisse, die dem Leben und dem Gesicht ihren Stempel aufdrücken, dauern immer nur kurz, aber ewig in Gedanken.“
––„Worte, alles Worte!“, rief sie ungeduldig. Doch dann lenkte sie ein. „Sie sind ohne Vorurteile, ohne Bindungen. Und? Macht Sie das glücklich?“
––„Glücklich natürlich nicht“, antwortete er, „aber auch nicht unglücklich. Es ist gefährlich, sich an Werte zu hängen, noch gefährlicher, sich an Gegenstände zu hängen, aber es ist unverantwortlich, sich an Menschen zu binden.“ ‚Vielleicht stimmt das alles gar nicht‘, dachte er. ‚Vielleicht ist alles Unfug.‘
––„Waren Sie mit Ihren Verführungsversuchen bisher immer erfolgreich?“, fragte sie.
––„Immer“, antwortete er.
––„Vielleicht wird die Enttäuschung heute Abend Sie heilen“, sagte sie.
––Er sah sie an, mit einem wilden, unbezwingbaren Blick.
––‚Es wäre Wahnsinn, ihn zu mögen‘, dachte sie. ‚Er hat keinen Platz in meinem Leben, denn er würde mir keinen Platz in seinem Leben einräumen. Ich darf nicht darüber nachdenken, sonst wird es wehtun.‘ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nein“, sagte sie, „es ist unmöglich. Ich will nicht! Es geht nicht!“
––Er wandte den Blick ab. ‚Sie war also doch noch ins Netz gegangen.‘ Er fühlte, wie sie zappelte und zu entrinnen versuchte. Aber es verschaffte ihm keine Befriedigung, sie gefangen zu sehen. Es war schrecklich, quälend. Wenn er sie doch befreien könnte! Wenn er sie doch retten könnte! Aber es war unmöglich. Er wusste, wie es weitergehen, wie es enden würde, und ihm graute davor. Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor sieben.
––„Wir werden uns nicht wiedersehen“, sagte sie traurig. „Erzählen sie mir noch etwas Alltägliches, Belangloses, bevor Sie gehen.“ Sie hielt seinem prüfenden Blick stand. „Was haben Sie in dem Paket?“, fragte sie.
––Er sah auf den Tisch und lächelte. „Ein Stofftier“, sagte er.
––„Ein Stofftier?“, wiederholte sie erstaunt.
––„Ja“, sagte er, „es ist für die Tochter meiner Nachbarn. Sie ist krank und hat es sich gewünscht. Die Mutter ihres Vaters hatte an einem Sonntag vor ein paar Monaten einen Schlaganfall. Die Eltern mussten zu ihr. Aber sie wollten Ilona, so heißt das Mädchen, nicht mitnehmen. Sie wussten nicht, in welchem Zustand die Großmutter war. Aber allein lassen konnten sie Ilona auch nicht. Also bat mich ihre Mutter, Ilona für ein, zwei Stunden aufzunehmen. Ich wusste nicht genau, wie man mit so einem Kind umgeht, aber ich versuchte es eben. Ich erzählte ihr irgendwelche Geschichten. Die Eltern verspäteten sich. Auf der Landstraße hatte es einen schweren Unfall gegeben. Ein Mann hatte wohl seine schwangere Frau ins Krankenhaus bringen wollen. Macht sowas nicht eigentlich ein Krankenwagen mit Blaulicht? Er knallte jedenfalls gegen einen Baum. Frau und Sohn tot. Er schwer verletzt. Da ist es wohl besser, sein Kind zu Hause zu behalten und ihm von einem abgebrühten Nachbarn albernes Zeug vorreden zu lassen.“
––Sie sah an ihm vorbei.
––Er sah durch sie hindurch.
––„Das muss Ilona wohl gefallen haben. Sie kam von da an öfters zu mir, einfach so, um sich von mir etwas erzählen zu lassen. Seit über einer Woche liegt sie mit Fieber im Bett, niemand weiß, was ihr fehlt. Gestern habe ich sie besucht. Sie lag da: schmal, blass und ernst. Ihre Mutter war in der Küche. ‚Ich bin so viel allein‘, sagte sie. ‚Warum fühle ich mich so schwach? Warum bin ich krank? Was ist los mit mir?‘ – ‚Bald wirst du wieder gesund sein‘, versuchte ich sie zu trösten. – ‚Warum lebe ich?‘, fragte sie mich plötzlich. Ich war erschrocken über die Frage und wusste nicht, was ich antworten sollte. Wie soll man mit einem Kind darüber sprechen? Schließlich sagte ich: ‚Wir leben, um die Sonne zu sehen und um auf sie zu warten, wenn sie nicht scheint. Um uns zu wärmen, zu blühen, zu verwelken.‘ Ich wusste nicht, ob ihr das reichen würde, aber sie nahm es hin. Damit sie nicht weiterfragte, sagte ich ihr, sie könnte sich etwas von mir wünschen. Und sie wünschte sich einen Hund. Ich hoffe, ein Stoffhund reicht ihr. Hier ist er.“

Sie saßen einen Augenblick lang schweigend, ohne sich anzusehen. Das Stimmengewirr und die warme Dunkelheit verschmolzen zu einem unlösbaren Geheimnis.
––Endlich hob er den Kopf. „So“, sagte er, „ich werde gehen.“ Er winkte dem Kellner und zahlte.
––Sie sah ihn dabei unverwandt an, als wollte sie den Anblick in sich aufsaugen.
––Er steckte das Wechselgeld ein, nahm sein Päckchen und stand auf. Er verabschiedete sich mit einer leichten Verbeugung und ging, ohne noch ein Wort zu sagen.
––Kein fragender Blick, keine Anspielung.
––Sie hoffte, er würde sich noch einmal umdrehen und ihr zulächeln, aber er verschwand im gleichgültigen Strom der Spaziergänger ohne jedes Zeichen.
––Sein Kopf tauchte ein letztes Mal zwischen schemenhaften Gestalten auf, dann war er fort.
––Sie sah sich um. Die Männer am Nebentisch lärmten und lachten plötzlich, oder es fiel ihr erst jetzt auf. Die Kellner liefen geschäftig hin und her. Hinter den hell erleuchteten Fenstern saßen die Menschen beim Abendessen. Ober servierten. Ihr war, als käme sie nach einer tiefen Betäubung nur langsam wieder zu sich. Sie sah auf die Uhr. Es war noch viel Zeit. Gleichgültig nippte sie an ihrem Glas. ‚Um die Sonne zu sehen‘, dachte sie, ‚vielleicht …‘

ENDE

Titelillustration mit Material von Shutterstock: Nejron Photo (Porträt Mann), Pressmaster (Geschenk), Antonio Guillem (Zeitung), Viktor Gladkov (Frau [li.]/Frau mit Sonnenbrille [oben re.]), Stokkete (posierendes Pärchen), Kues (Gin Tonic), Jacob Lund (stöhnende Frau), burnel1 (Plüschtier)

28 Kommentare zu “Boulevard | #8

    1. Gibt es sowas wie Happy Ends im echten Leben überhaupt? Happiness klar, aber solange man nicht vom Turm springt geht es ja auch immer weiter und weiter. Neue Herausforderungen, neue Überraschungen, neues Glück, neues Pech…

      1. Na das Leben geht natürlich weiter, aber die einzelnen Geschichten haben schon ihre jeweiligen Enden. Da sind dann mit ein wenig Glück auch Happy Ends dabei.

    2. Aber auch nur fast. So richtig „happy“ sind beide ja nicht. SIE würde irgendwie gerne, ER wird zum ersten Mal in seinen Verführungsplänen enttäuscht. Für die Leser funktioniert das, für die Hauptdarsteller ist es eher crappy als happy 😉

      1. Tucholskys Gedicht ‚Danach‘ beschreibt es ziemlich genau:
        Es wird nach einem happy end
        im Film jewöhnlich abjeblendt.
        Der weitere Verlauf ist zu ergooglen.

      2. Die Ehe war zum jrößten Teile
        vabrühte Milch un Langeweile. 😉

        Vielen Dank, dass Sie mich an dieses tolle Gedicht erinnert haben.

  1. OK, ich muss zugeben, mit diesem Ausgang der Geschichte hätte ich tatsächlich am wenigsten gerechnet. Ich bin ein bisschen sprachlos.

    1. Das ist der Trick. Die ersten vier Kapitel waren so schrecklich, dass ich mich im letzen auf die schlimmen Erwartungen meiner Leserschaft verlassen kann, ohne weiteres Unheil anrichten zu müssen. In der Aristotelischen Einheit von Zeit und Raum dürfen meine beiden Figuren einfach plaudern.

      1. Haha und die Leserschaft reagiert natürlich völlig wie erwartet. So soll es sein.

  2. Was für ein wunderbar antiklimaktischer ruhiges letzter Teil! Ich war auf einen bösen Twist vorbereitet, aber freue mich umso mehr über dieses offene Ende.

    1. 1968, als ich die ‚Sprünge von Türmen‘ schrieb, hatte ich noch kaum Erfahrungen mit Menschen und gar keine sexuellen. Alle Personen sind meine Kopfgeburten. Ein offener Ausgang war mir, nachdem die schlimmen Geister gebannt waren, wichtig. Im Frühjahr 1969 trat ich ins (Berufs)leben.

      1. Solch einen Text ohne jegliche Erfahrung mit Menschen … das ist in der Tat beachtlich.

    2. Ich schließe mich an. Ich habe kurz gezögert den letzten Teil zu lesen, weil ich noch einmal Schlimmes vermutete. Klasse Auflösung. Habe die Erzählung sehr gerne gelesen!

      1. Das Drama zum Ende (des Jahres) gibt es dann in zwei Wochen unter dem Weihnachtsbaum. Keine Sorge 😉

      2. Die Familienfeste werden dieses Jahr ja wohl etwas kleiner. Mal schauen ob dies das Potential für Streit noch erhöht oder doch eher abschwächt…

      3. Kommt wahrscheinlich auch drauf an ob Onkel Berthold Verschwörungstheoretiker oder Cousine Luisa Anti-vaxxerin ist.

      4. Ob sich gleich und gleich gern gesellen, Gegensätze sich anziehen oder ausziehen oder gegenseitig die Köpfe einschlagen, das trägt wesentlich zum Verlauf der Feierlichkeiten bei.

      5. Es soll ja auch Familien geben, die diese kleinen Streitigkeiten als überaus belebend sehen.

  3. „Wir leben, um die Sonne zu sehen und um auf sie zu warten, wenn sie nicht scheint.“ Was für ein wunderbarer Satz; an den werde ich mich erinnern, sollte mich jemand mal eine ähnliche Frage fragen.

  4. So fügt sich im letzten Teil auch noch der Teil mit dem Autounfall in das größere Ganze ein. Schlimme Sache natürlich. Ein Kind was beide Eltern auf einen Schlag verliert, da bricht doch die ganze Welt zusammen.

    1. Gerade deshalb mochte ich, wie Ilona in der Geschichte ein wenig Freude und Leichtigkeit durch unseren Verführer bekommt. Er ist mir doch nicht so unsympathisch wie ich vor ein paar Kapiteln dachte.

      1. So ging es mir auch. Dieser „Twist“ hat mich doch wieder etwas mehr für ein eingenommen.

      1. Ja selbstverständlich. Das hatte ich natürlich auch registriert, nur hatte die kleine Ilona einen größeren Eindruck hinterlassen.

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