„Sie sind eben gut, aber ich halte mich nicht für schlecht“, sagte er und dachte: ‚Jetzt doziere ich gleich. Das müssen wir aushalten.‘ „Ich habe, wenn überhaupt, höchstens vage, gefühlsmäßige Vorstellungen von Gut und Böse, aber keine verstandesmäßig begründeten, nach denen ich einteilen könnte. Trotzdem brauche ich Frauen, die mit sehr festen Moralvorstellungen leben. Denn nur dann ist Verführung möglich. Und da sind wir wieder am Kernpunkt, an dem alles rein Theoretisierende zerfällt: Ich will nicht bekehren, zurechtrücken, verbessern. Ich will verführen, aus dem Licht in den Schatten locken, alles andere unwichtig, bedeutungslos machen, zum Risiko, zur Haltlosigkeit einladen. Ich brauche dazu nicht eine eigene Moral, sondern die meiner Partnerin. Ich nehme ihre Vorstellungen an, ihre Zweifel, fechte ihre Kämpfe gegen mich aus und lasse mich selbst von ihr besiegen. Frauen, die von vornherein bereit wären, mit mir zu … – was möchten Sie, das ich dazu sage?“
––„Oh, nehmen Sie auf mich keine Rücksicht! Nennen Sie es, wie Sie wollen.“
„Natürlich nehme ich Rücksicht. Ich will Sie ja nicht abstoßen, sondern gewinnen. – Also, Frauen, die gleich bereit wären, mit mir zu schlafen, würden mich um das Wichtigste bringen: die Verführung. Je detaillierter und umfassender die Moralvorstellungen einer Gesellschaft sind, desto vielfältiger und reizvoller sind die Möglichkeiten der Verführung. Unsere christlichen Begriffe waren dafür während der letzten 2000 Jahre sehr wirkungsvoll. Aber heute wird es immer schwieriger. Ein Flirt ist schon viel zu einfach. Wenn er geschickt angelegt ist, führt er mit an Langeweile grenzender Sicherheit zum Ziel.“
––„Ich sehe, Sie haben sich eine schwierigere Methode ausgedacht.“ Sein Irrsinn machte ihn weniger reizvoll und sie sicherer.
––„Ja“, sagte er. „Es zahlt sich auf die Dauer nicht aus, wenn man es sich zu leicht macht. Mit der nächsten Frau ins nächste Hotel zu gehen, wenn ich Lust habe – dazu habe ich keine Lust. Ich brauche die Verschwiegenheit, die Heimlichkeit, ihre Hemmungen, meine Hemmungen, das Bewusstsein einer Schranke, Hürde, Sünde, über die ich mich hinwegsetze, weil ich sie zwar empfinde, aber nicht anerkenne. In einer Gesellschaft ohne Tabus, die in nüchterner Offenheit ihre Probleme durchkaut und sich dadurch ihre Illusionen, ihre Würde zerstört, in einer solchen keimfreien Gesellschaft, in der alles, was möglich auch natürlich und verzeihlich ist, habe ich keinen Platz. Dort, wo das Ideal der Triebfreiheit verwirklicht ist, wo alle Menschen alle Rechte an allem und allen haben, müssen solche Volksschädlinge wie ich absterben. Ich bin auf die unbekannte Größe des Bösen, Verbotenen angewiesen, um ihr in den Augen derer, die an solche Werte glauben, entgegenzutreten, zu erliegen und andere mit hinabzureißen. Ich muss die Erkenntnisse von Medizin und Psychologie immer wieder untergraben mit dem Märchen von Gut und Böse, das so viele Vorurteile nährt. Nur so kann ich mein Leben lebenswert machen, und gerade deshalb haben Sie wohl recht: Ich bin durch und durch schlecht.“
––Sie strich sich mit halb bewusster Bewegung eine Strähne aus dem Gesicht. „Ich kann mir das alles anhören, aber ich kann nicht glauben, dass Sie es in die Tat umsetzen. Es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn Sie noch nie mit einer Frau geschlafen hätten.“
––Er lächelte. „Das geht den meisten so.“
––„Es macht Ihnen Spaß, mir immer wieder zu zeigen, dass ich nur eine unter vielen bin“, sagte sie gelassen.
––„Kränkt Sie das?“, fragte er.
––„Nein!“ Es klang ein wenig gedehnt. „Was sollte mir daran liegen, etwas Besonderes für Sie zu sein?“
––„Eben!“ Er nickte zustimmend. „Wir treffen uns, wir tun es, wir gehen auseinander. Aber nicht wie die, denen das selbstverständlich ist. Wir werden Schmerz empfinden, und niemand wird uns trösten.“
––„Sie auch?“
––„Ja sicher! Ich auch.“
––„Also doch eine Bindung.“
––„Für mich ist es schnell vorbei. Mein Gedächtnis ist auf diesem Gebiet recht schlecht.“ Er zuckte entschuldigend die Achseln.
––Ihr Gesicht schien sich zusammenzuziehen wie Blätter bei großer Kälte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass verantwortungsbewusste Frauen auf Ihre Bedingungen eingehen.“
––„Niemand ist nur verantwortungsbewusst“, sagte er.
––„Haben Sie kein Mitleid mit Ihren Opfern?“
––„Doch. Das gehört dazu.“
––„Was kann eine Frau nur dazu treiben, sich so zu erniedrigen“, fragte sie, „doch wohl nicht Ihr Gefasel?“
––„Es ist kein Gefasel, es ist einleuchtend. Wenn man sich damit auseinandergesetzt hat, kann man sich dem Ergebnis nicht ohne Weiteres verschließen.“
––„Man kann sich jeder Theorie verschließen!“, sagte sie. „Was glauben Sie, wie weit Sie es ohne Ihr Aussehen bringen würden?“
––„Natürlich“, sagte er halb stolz, halb belustigt. „Das ist selbstverständlich mit einkalkuliert: straff, aber sensibel. Stark, aber schmal. Ein Charakterkopf auf einem würdigen Unterbau. Es wäre lächerlich, wenn ich nicht zugeben würde, dass ich eitel bin. – Mein Aussehen ist Voraussetzung, aber nicht mehr. Nicht bei den Frauen, an die ich mich wende.“
––„Ich könnte mir vorstellen, dass Sie auf manche Frauen eine gewisse Ausstrahlung ausüben“, sagte sie vorsichtig. „Diese Frauen könnten etwas Freies, Entschlossenes, Packendes an Ihnen zu entdecken glauben, bevor Sie sie mit Ihren Tiraden gelangweilt haben.“
––„Darum langweile ich sie ja möglichst bald mit meinen Tiraden.“
––„Sie könnten sich darüber hinwegsetzen. Sie könnten sich sagen: ‚Das Geschwätz ist mir egal, was daraus wird, ist mir gleich. Die eine Nacht mit ihm ist mir das wert.‘ Und dann sind nämlich Sie der Betrogene. Denn das Motiv Ihrer Opfer scheint für Sie ja ausschlaggebend zu sein.“
––Er hob leicht die Hand und ließ sie dann auf den Tisch zurücksinken. „Ach, das fällt nachher alles zusammen. Von einem gewissen Stadium an kann man die Motive nicht mehr trennen. Da beginnen Anziehungskräfte, Strömungen, Soge zu wirken. Etwas setzt sich in Bewegung, das man nicht aufhalten will und kann. Ich weiß das selbst. Ich bin kein vollständiger Fantast. Nur wie man die Bewegung hervorruft und was man aus ihr macht, das ist entscheidend.“
––„Und was machen Sie daraus?“
––„Nichts! Ich lasse alles fallen. Ich breche sofort hinterher die Beziehung ab und mache auch vorher kein Geheimnis daraus, dass es nicht weitergehen wird.“
––„Fällt Ihnen das schwer?“
––„Nein, eigentlich nicht. Ich habe ja meinen Beruf, in den ich mich stürzen kann. Eine Auseinandersetzung ist vorbei. Ein Sieg ist errungen.“
––„Sie sind feige.“
––„Ja, vielleicht.“
––„Sie haben Angst vor dem Alltag der Liebe. Ihr Mut reicht nur für den Rausch.“
––„Wahrscheinlich.“
––„Die Frauen sind Ihnen in Wirklichkeit ganz gleichgültig.“
––„Nein, sagte er, „das stimmt nicht. Ich würde nie eine Frau verführen wollen, die mir nichts bedeutet. Das empfände ich als schäbig.“
––„Sie sind unfähig zu lieben“, stellte sie betont sachlich fest. „Vielleicht sehnen Sie sich nach Liebe, vielleicht werden Sie geliebt, aber Sie können nicht wiederlieben. Das muss schrecklich sein. – Haben Sie nie eine der Frauen durch Zufall wiedergetroffen?“
––„Doch“, sagte er ernst, „einmal. Sie tat, als würde sie mich nicht erkennen.“
––„Hat noch nie eine Frau versucht, sich an Ihnen zu rächen?“
––„Nein.“ Er schüttelte den Kopf.
––„Rache verschafft nur Befriedigung, wenn man sich dabei selbst Schmerz zufügt. Und welcher normale Mensch bringt schon so viel Kraft auf? Außerdem: sich rächen – wofür? Frauen, die mich verstanden haben, würden sich gar nicht rächen wollen. Ich mache ihnen nichts vor. Ich verspreche ihnen nichts.“ Er starrte auf ihr leeres Glas. „Rache, Leidenschaft, Liebe, Sünde – alles Dinge aus einer vergangenen Zeit“, sagte er. „Bald wird es nur noch Worte geben wie ‚Zweckmäßigkeit‘, ‚Durchsetzungsvermögen‘, ‚Widerstandskraft‘, ‚Rückschlag‘, ‚Verschleiß‘, ‚Interessenvertretung‘ …
Schade! ‚Leidenschaft‘, ‚Raserei‘, ‚Verworfenheit‘, ‚Verzückung‘, das sind schöne, lächerliche Worte. Man kann hinreißend mit Begriffen jonglieren, die man nicht mehr ernst nimmt. Wirklich zu schade! Es wird schwierig sein, ein gleichwertiges Vokabular entweihter Heiligtümer aufzubauen. Denn zwischen zwei Dekadenzen liegt immer der leidige Aufstieg.“ Er seufzte und trommelte mit leicht gelangweilter Hingabe und leicht gespreizten Fingern auf der Tischplatte herum. „Jaja …“ Rhythmisch, federnd, traurig.
––„Sie glauben also, dass das Leben immer ‚unerfreulicher‘ wird“, fragte sie, „immer weniger wert zu leben und – zu sterben?“
––„Nur für mich!“, antwortete er. Das war eitel.
„Die einen sind schon für diese Zeit geschaffen, sie brauchen sich nicht umzustellen. Die anderen sind nicht für diese Zeit geschaffen, sie wollen sich nicht umstellen. Ich sitze zwischen beiden Stühlen und muss mich umstellen. – Es ist lästig, dass Verständnis immer Verantwortung mit sich bringt. Man muss Abstand nehmen von alten Ideen und Vorstellungen, von der Kindheit, oder nein, nicht Abschied nehmen, das ist schon wieder etwas Manieriertes. Man muss sie aufgeben, wegwerfen, desinfizieren.“

Titelillustration mit Material von Shutterstock: Nejron Photo (Porträt Mann), Pressmaster (Geschenk), Antonio Guillem (Zeitung), Viktor Gladkov (Frau [li.]/Frau mit Sonnenbrille [oben re.])

23 Kommentare zu “Boulevard | #4

  1. Ich dachte zu Beginn des Verführer-Kapitels, dass ich diese Direktheit mag. Aber je länger ER über seine Pläne und seine Verführungs-Ideologie referiert, desto weniger verführerisch finde ich ihn.

      1. Ich bin auch wirklich gespannt wohin uns die Geschichte noch führt. Jedenfalls wäre ich überrascht, wenn sie sich einfach von ihm verführen lässt und seinem Plan nachgibt. Da passiert sicher noch etwas womit wir momentan nicht rechnen.

      2. Man kann ja gleich die Dame von oben zitieren: „Ich kann nicht glauben, dass Sie es in die Tat umsetzen“.

    1. Man kann sich ja gerne versuchen aus der Verantwortung zu stehlen, aber auf Lange Sicht geht das meistens gründlich schief.

      1. Durch einen Sprung halt. Aber eine Lösung ist das (zum Glück) für die wenigsten.

      2. Im echten Leben kommt das nicht allzu oft vor, aber wir befinden uns ja mitten in den „Sprüngen von Türmen“ und da gehört der Sprung aus der Verantwortung ja quasi zum guten Ton 😉

  2. Dieser Verführer scheint so ein theoretischen Zugang zum Leben zu haben, kein Wunder, dass es für ihn immer unerfreulicher wird. Es fehlt ja jede Leichtigkeit.

    1. Ich bin auch noch nicht ganz sicher worauf er es abgesehen hat. Echtes Interesse an seinem Gegenüber scheint er jedenfalls nicht zu haben.

      1. Man weiss noch nicht so genau ob er wahnsinnig selbstbewusst oder doch ein wenig unsicher ist. Jedenfalls scheint er ja irgendetwas beweisen zu wollen. Schräge Type.

      2. Der Schlüsselsatz ist hier wohl: Sein Irrsinn machte ihn weniger reizvoll.

  3. Er ist kein vollständiger Fantast, und doch ist diese Herangehensweise an menschliche Beziehungen doch recht fantastisch. Mich würde es jedenfalls nicht wundern, wenn 5 Kapitel später ein weiterer Sprung auf uns wartet.

  4. Genau wie die zu verführende Dame es bereits sagt: es scheint tatsächlich als könne unser Verführer zwar verführen, aber nicht lieben. Und das muss in der Tat schrecklich sein.

      1. Nun ja, nach Liebe hört sich das aber doch nun wirklich nicht gehen. Das Wort erwähnt er in all seinen Ausführungen ja auch gar nicht.

      2. Was er wirklich sucht habe ich bisher noch nicht entziffern können. Er redet viel von dem, was er nicht sucht. Er erklärt was seine Taktik ist, was ihm wichtig beim verführen/erobern ist. Aber worum es ihm letztendlich geht, was er mit all dem bezweckt, ist mir noch schleierhaft.

      3. Hmmm, dieser 68er-Verführer aus besseren Kreisen versucht sich halt seine One-Night-Stands spannender zu gestalten, als der Mainstream. Ob das Ergebnis am Ende nicht doch ein und dasselbe ist sei aber mal dahingestellt.

      4. Ist das nicht am Ende dasselbe Verlangen wie bei uns allen? Nämlich in seinem Leben Sinn und in seinen Taten zu finden? Auch wenn ER da zugegebenermaßen einen rechten speziellen Zugang sucht.

  5. Ich bin gerade von Facebook auf den Blog aufmerksam geworden und werde die Geschichte erst einmal von Anfang an lesen. Sehr spannende Unterhaltung.

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