Er sah einem vorbeiziehenden Paar nach. Sie trug ein quittegelbes Kleid, zu grell für ihr Alter; er schlurfte in Rentnerbeige neben ihr her und schien ihre ausladenden Gesten nicht zur Kenntnis zu nehmen. „Unerfreulich, sehr unerfreulich“, murmelte er. „Lassen Sie uns von etwas anderem sprechen.“
––„Sie haben vorhin so erfolgreich auf die Kunst abgelenkt“, sagte sie, „versuchen Sie es jetzt doch mal mit Politik!“
––Er rümpfte missmutig die Nase. „Das ist kein Thema. Politik kann man allenfalls machen, aber nicht darüber sprechen. Als Gesprächsstoff ist höchstens die Geschichte verwendbar. Da stehen wenigstens die Fakten fest, und man kann darüber streiten, ob die Entwicklung günstig, die Handlungen sinnvoll waren. Aber über Politik zu reden, deren Zusammenhänge man nicht erkennt, auch nicht, wenn man sich gut zu informieren versucht, deren Auswirkungen man aber eine Woche später ohnehin in der Zeitung lesen kann – das ist doch nutzlos! Jeder muss nur die Grundzüge kennen. Jeder Mensch müsste in der Lage sein, sich persönlich und politisch das System zu schaffen, in dem er leben will, umgeben von Pinien oder Briefmarken oder Kommunarden. Jeder müsste überwechseln können in die Gesellschaftsordnung, die ihm zusagt, oder man müsste ihm genügend Platz geben, um sie für sich und seine Anhänger verwirklichen zu können. Aber das geht natürlich nicht. Die meisten von ihnen legen ohnehin mehr Wert darauf, die anderen zu bekehren, als selbst froh zu werden, was sie – wie einsichtig! – als unmöglich erkannt haben. Sie ähneln mir darin. Nur sind die meisten von ihnen Holzhammerverführer. Sie sehen nicht, dass man eine Sache ernst nehmen kann und sich trotzdem über sie lustig macht. So wird weiterhin jede Gesellschaft aus Etablierten und aus Revolutionären bestehen, und aus denen, die alle verstehen und deshalb von allen Prügel kriegen. Die Revolutionäre müssen Scheiben einschlagen, die Etablierten müssen sich entrüsten und Panzerglas einsetzen. Das Ganze heißt bei Skeptikern ‚Entwicklung‘. Optimisten nennen es ‚Fortschritt‘.“

Sie lächelte, und zum ersten Mal entdeckte er in ihrem Gesicht die gefährliche Mischung aus Verständnis und Schwäche, die er so gut kannte. Wenn ihre beginnende Zuneigung jetzt durch Selbstbewusstsein und Entschlusskraft gestärkt würde, war es so weit. „Sie behandeln jedes Thema derart erschöpfend“, sagte sie, „dass Ihrem Gesprächspartner kaum die Möglichkeit bleibt, dem etwas hinzuzufügen. Aber eine Frage habe ich noch: Mich würde interessieren, auf welcher Seite der Fensterscheibe Sie stehen.“
––„Draußen natürlich“, sagte er, „oder nein, nicht natürlich. Das muss ich erklären: Ich habe einen gefühlsmäßigen Hang zu unterdrückten Minderheiten. Bei ihnen braucht weder die Wahrheit noch das Recht zu liegen. Es ist etwas anderes, was mich fesselt: Sie müssen sich verstecken. Sie leben im Dunkeln.“
––„Sie leben nicht mehr im Dunkeln, und sie verstecken sich auch nicht mehr“, sagte sie.
––Er beachtete ihren Einwand gar nicht. „Sie stauen Sehnsüchte und Kräfte an, sie sind der uneinsichtigen Verachtung der Mehrheit ausgesetzt. Doch diese Mehrheit, die an ihrer hellen Oberfläche klebt, wird nie teilhaben an den stillen Siegen und Niederlagen der Minderheit, an ihren geheimen Verbindungen, Zeichen, an ihrer vielschichtigen Welt. Das klingt ziemlich romantisch, was?“
––Sie zeigte keine Reaktion.
––„Man kann auch seine Schwärmereien nüchtern betrachten: Abneigung gegen Herrschende scheint überall da, wo es Unterdrückung gibt, begründet. Die Frage ist nur: Geht es anders? Mein Zugehörigkeitsgefühl zu verhetzten Minderheiten ist wie das Eingeständnis einer Schuld, die man erst dadurch auf sich lädt, dass man sich zu ihr bekennt.“
––„Sie glauben an Schuld? Das widerspricht doch Ihrem Konzept!“
––„Ja, seltsam! Begriffe wie ‚Schuld‘ und ‚Unschuld‘ sind für mich durchaus plastisch. Ich halte Reinheit sogar für etwas Erstrebenswertes, aber nicht die nonnenhafte Reinheit, die man sich erhält, sondern die Reinheit, die man sich erwirbt in Zweifel, Schmutz und Schwäche. Nur nennt man es dann, glaube ich, nicht mehr ‚Reinheit‘. Die Reinheit dessen, der mit nichts in Berührung gekommen ist, kommt mir dumm, feige, einfältig vor, die Schuld dessen, der etwas gewagt und durchgestanden hat, erscheint mit bewundernswert, anziehend.“
––Sie nickte: „Es gibt eine Art körperlicher und geistiger Sauberkeit, die geradezu unappetitlich ist.“
––Er griff seinen Gedanken wieder auf: „Man wird zwar mit bestimmten Anlagen, aber von außen betrachtet ungeprägt, eben rein, geboren. Je mehr Schuld man auf sich lädt, ein desto besserer Mensch ist man.“
––„Kann man sich nicht auch durch gute Taten auszeichnen?“ Sie spielte mit oder tat wenigstens so.
––„Jaja, natürlich“, sagte er. „Dass uns, abstrakt gesehen, das Böse interessanter erscheint als das Gute, zeigt schon, wie verzerrt die gegenwärtigen Maßstäbe sind.“
––„Vorhin haben Sie mir erklärt, Sie dächten überhaupt nicht in derartigen Kategorien“, sagte sie. „Was denn nun?“
––„So krass habe ich es nicht ausgedrückt. Ich habe sogar gesagt, dass ich das Bewusstsein dieser Richtlinien bei den anderen brauche. Ich stimme nicht mit den landläufigen Moralvorstellungen überein, aber generationenlanges, verwurzeltes Empfinden lässt sich nicht vollständig ausrotten, wenn man damit aufgewachsen ist. Ich bejahe die Schuld, Schuld ist Schmerz. Schuld ist immer körperlich – bei den Frauen ist ja sogar die Unschuld körperlich.“
––„Eins Ihrer Bonmots?“, unterbrach sie ihn.
––‚Ah, sie reagierte wieder. Gutes Zeichen.‘ Aber er ließ sich nicht unterbrechen: „Die Schuld ist selbstzerstörerisch und heilsam. Könnte ich ein Verbrechen begehen, ohne einen Teil meiner selbst zu zerstören, so würde ich es nicht als Schuld empfinden. Würde ich Verführung nicht als Schuld empfinden, würde sie mich nicht reizen.“
––„Sie suchen die Verbindung in der Schuld“, sagte sie. Jetzt wollte sie doch eingreifen. „Sie sind ein bedingungsloser Idealist. Menschen Ihrer Art haben meist den Vorteil, dem normalen Leben blind gegenüberzustehen. Sie sehen, dass eine Verbindung in reiner Unschuld nicht möglich ist und versuchen deshalb, sie in reiner Schuld zu verwirklichen. Aber das ist genauso unmöglich.“
––Ihre Worte verwirrten ihn. Außerdem klang in ihrer Stimme Mitleid an. Das war etwas, was er gar nicht gebrauchen konnte. Sie begann, ihm zu entgleiten. Er musste sich vorsehen. „Vor allem darf man nicht unmenschlich sein gegen sich selbst“, sagte er. „Das ist mindestens genauso schlimm wie Grausamkeit gegenüber anderen. Sich zu ducken, sich zu verkaufen, sich zu erniedrigen, hat verheerende Folgen.“
––„Und sich hinzugeben?“
––Er hatte ihr das Stichwort zugespielt, sie hatte es aufgegriffen. Nun konnte er das Gespräch wieder fest in die Hand nehmen. Die Lage verbesserte sich. „Das kommt darauf an“, sagte er. „Wenn sich eine Frau aus Feigheit und Schwäche zaghaft, zaudernd ausbeuten lässt, so ist das ekelhaft. Sich dagegen bewusst wegzuwerfen – das ist ein Standpunkt! Nichts, was man aus freiem Willen, vorsätzlich tut, ist erniedrigend.“
––„Vom Verlust der Selbstachtung bis zur völligen Gleichgültigkeit anderen und sich selbst gegenüber ist es nur ein kleiner Schritt“, sagte sie langsam.
––‚Sie war wahrscheinlich ziemlich widerspenstig. Es war gut, dass er noch keine hohen Einsätze gewagt hatte. Das Komplimentemachen, Verwirrungstiften, die bedeutungsvollen Zärtlichkeiten, das alles würde ohnehin erst ungefähr eine Stunde vor dem Ende beginnen, also nicht jetzt und nicht hier. Sie sollte erst in die Falle gehen, wenn sie schon gefangen war.‘
––Ein überraschender Windstoß fuhr ihm ins Haar.
––Er war sehr zufrieden, soweit er dieser Empfindung fähig war. Sie sah gut aus. Sie war elegant, intelligent und sie hatte Charakter. Sie war genau das, was er brauchte.

Er blinzelte in die untergehende Sonne, deren rostende Strahlen die Markise seitlich unterlaufen hatten. Die Menschen auf der Straße ließen sich jetzt unterscheiden in die, die aus der Sonne kamen, und die, die in die Sonne hineinliefen. Das klang nach aufdringlichem Symbolismus. Und so ähnlich wirkten diese paar Minuten auch meistens. Doch bald würde die Sonne hinter der gestaffelten Häuserfront verschwunden sein. Die Schatten würden verwischen, die mystifizierende Trennung wäre aufgehoben. Noch konnte man sich von den gleißenden Strahlen wohlig blenden lassen. Sie machten wehrlos, willig – wie zu heißes Wasser. Man schließt die Augen und döst. Das träge Gemurmel der Leute schläfert ein, die dumpfe Linie der Schritte. Die Luft war lau. Man hätte sie ‚süß‘ nennen können, wenn nicht die Abgase der Wagen und Busse nach einem sachlicheren Ausdruck verlangt hätten.
––Er liebte Untergänge. In ihnen liegt schon das Abenteuer des neuen Aufbruchs mit seiner verschwenderischen Fülle an Möglichkeiten.
––„Da sitzen wir also“, sagte sie, „zwei gutaussehende Menschen, die anmutig den Kopf gesenkt haben, teuer und salopp gekleidet, in passender Umgebung. Da sitzen wir und führen mit wohltönender Stimme absurde Gespräche.“
––Er lächelte sie an. „‚Und in Afrika hungern die Kinder‘, müssen Sie fortsetzen. Nein, diese Feststellung bringt Sie auch nicht weiter. Daraus wird höchstens Melancholie, und das ist wieder ein Luxus, der Verstand, Zeit und wahrscheinlich sogar Geld erfordert. Selbst Verzweiflung setzt die Möglichkeit voraus, über seinen Zustand nachzudenken.“
––„Alles hier kommt mir so unecht vor wie eine Reklamewelt: das schöne Leben schöner Menschen in schöner Umgebung. Es fehlt nur der Markenartikel, der angepriesen werden soll.“ Sie seufzte schmerzlos.
––Er hielt die rechte Hand schützend vor die Augen, um die letzten Sonnenstrahlen abzuwehren. „Es ist aber nicht unecht“, sagte er. „Das ist Ihr und mein Leben. Die Modejournale und Werbefilme werden uns nachgebildet, und wir richten uns wieder nach ihnen. Es ist ein ständiger Kreislauf, das Bedürfnis nach Farben, Formen, Klängen, die wir prägen und die uns prägen, das äußere Erkennungszeichen, die gefällige Verpackung, der lockende Einband, der allerdings zum Inhalt werden kann, wenn wir alles zu glatt und zu freudig aufnehmen. Der Zwang zu Schönheit, Überfluss, Modernität. Nein, es ist nicht unecht. Es ist ein Teil unseres Lebens. Sie werden selbst oberflächlich, wenn Sie sich an diesen angenehmen Äußerlichkeiten stören. Die Kulisse unseres Lebens ist schön. Und? Kann es deshalb nicht ernst, schmerzlich, schrecklich, aufregend und befriedigend sein? Haben Sie ein schlechtes Gewissen, weil Sie Geschmack haben und die Möglichkeit, das zu zeigen?“
––Ihr Blick umschloss ihn.
––Er fühlte sich gefangen.
––„Sie machen sich etwas vor“, sagte sie. „Sie glauben an Ihre Künste und Argumente, aber es ist immer die schöne Verpackung, die verführt. Wenn der Inhalt die Wirkung hervorruft, dann ist es nicht Verführung, sondern Liebe.“
––„Auch ein Charakter kann verführen!“, sagte er.
––Sie seufzte lustlos. „Und so setzen wir das absurde Gespräch fort!“

Titelillustration mit Material von Shutterstock: Nejron Photo (Porträt Mann), Pressmaster (Geschenk), Antonio Guillem (Zeitung), Viktor Gladkov (Frau [li.]/Frau mit Sonnenbrille [oben re.]), Stokkete (posierendes Pärchen)

29 Kommentare zu “Boulevard | #5

  1. Ich bin ehrlicherweise erstaunt, dass SIE ihm so geduldig zuhört. Ich hätte die Unterhaltung schon längst abgebrochen.

      1. Grundsätzlich würde ich da ja sogar zustimmen. Nur scheint dieses Gespräch ja nicht wirklich irgendwo hinzuführen. Ich sehe auch noch kein wirkliches Verführen beim Verführer.

  2. Ist er wirklich Idealist oder ist er eher ähnlich in seiner Gedankenwelt verloren wie die bisherigen Darsteller?

    1. Das schließt sich ja nicht unbedingt gegenseitig aus. Und vom Idealismus zur Psychose ist es nicht weit.

  3. Und wieder eine Erzählfigur, die behauptet man können unmöglich im Leben froh werden. Das haben sie wohl alle gemein. Der Sprung vom Turm ist vorprogrammiert.

    1. Geschichten, in denen es allen Figuren gut geht, geben eben weniger Material zum Erzählen her. Da sind diese „kaputten“ Charaktere natürlich ergiebiger.

      1. Unser Verführer beschreibt das ja sogar ähnlich. Das Böse erscheint uns interessanter als das Gute.

  4. „Das Komplimentemachen, Verwirrungstiften, die bedeutungsvollen Zärtlichkeiten, das alles würde ohnehin erst ungefähr eine Stunde vor dem Ende beginnen…“
    So langsam macht man sich dann schon Sorgen was dieses Ende wohl sein wird. Und ob dieses Ende nur ihn betrifft oder ob er die Dame mit ins Unglück stürzt.

      1. Vier Tage lang war ich ohne Internet und Telefon. Fast wie früher, nur mit Verlusterlebnis. Ein Verlusterlebnis reicht manchmal schon fürs Unglück. Sprunglos. Sonntag herrscht Klarheit.

      2. Ach herrje, selbstverordnete Digital-Entziehungskur oder Störung des Internetanschlusses? In der heutigen Zeit ist das ja immer gleich ein großer Einschnitt.

      1. Also hoffen mag man das ja wirklich nicht. Auch nicht in einer Erzählung. Jedenfalls sieht ER laut eigener Aussage Untergänge als Ausgangspunkt für einen Neustart. Er scheint also nicht das Ende, sondern neue Anfänge zu suchen.

      2. Hmmm, ja so etwas erwähnt er oben wirklich. So richtig sieht das aber momentan nicht nach einem Anfang aus.

  5. Sie sagt „Wenn der Inhalt die Wirkung hervorruft, dann ist es nicht Verführung, sondern Liebe“. Aber so einfach stimmt das sicherlich nicht. Es gibt auch One Night Stands, die aus einer ‚Inneren‘ Anziehung entstehen. Liebe ist wohl weitaus komplizierter als man das in so einen Satz packen könnte.

  6. Aber wenn man sich ernsthafter über Politik informieren und darüber reden würde, dann hätten die Fake News vielleicht weniger Chance. So liest jemand beim Überfliegen seines Facebook-Feeds mal eine Headline irgendeiner Misinformationskampagne und gleich wird das Gelesene als Fakt an den Freundeskreis weitergegeben.

    1. Demokratie funktioniert halt nur wenn sich die Menschen beteiligen. Und ernsthaft beteiligen kann sich nur wer auch informiert ist. Ansonsten bricht die Demokratie (wie gerade in den USA) ziemlich auseinander.

    2. Ich hatte einen netten shitstorm auf facebook, weil ein Satz der wörtlichen Rede der Frau in der Bahnhofsgaststätte aus „Die Hostie“ von aufgebrachten Leser- und -innen als meine Meinung ausgelegt wurde. Ich wollte schon weg von facebook, aber meine Agentur nicht. Missverstanden zu werden, ist eine gute Geduldprobe, besonders hilfreich für angehende Politiker.

      1. In den Netzwerken ist Missverstanden zu werden ja auch ein leichtes. Ich habe schon jede ernsthafte Diskussion in den Kommentarspalten dort aufgegeben. Diese schnelle und kurze Form der Kommunikation ist wohl noch störanfälliger als die reguläre.

  7. Dieses Schlußthema ist ziemlich spannend, gerade in Zeiten von Instagram und Co. Kann diese Scheinwelt, die wir anderen Leuten dort vorspielen nämlich rein „Fake“ sein, wenn wir unser halbes Leben danach richten? Es wird zwar auch von beliebten Influencern manchmal betont, dass diese Instagrambilder nicht das wirkliche Leben darstellen, aber es gehört doch alles mittlerweile in großem Maße zu unserer Wirklichkeit.

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