Der Donnerstag war als Reisetag vorgesehen. Doch als dann um zehn Uhr wirklich alles Gepäck auf die beiden Wagen verteilt war, kamen mir Zweifel. In anderthalb Stunden würden wir in Brünn sein. Was gab es da wohl zu erleben? Wenig, vermutete ich. Karlsbad war doch nach Prag der bekannteste Ort in Tschechien. Ein kleiner Abstecher wäre ja wohl drin. Karlsbad, eines der berühmtesten Bäder der Welt. In Baden-Baden habe ich mit meinen Eltern ein paarmal Urlaub, mit Roland zumindest Station gemacht, mit Silke habe ich mit Platanenblick in ‚Brenners Park-Hotel‘ gespeist; in Karlsbad, wo schon Goethe war und Beethoven (Zeitgenossen!), wo schon im 10. Jahrhundert eine Burg gestanden hat, in der Metternich die Karlsbader Beschlüsse durchsetzte, um den Nationalgedanken zu schwächen, Karlsbad, das nach Kaiser Karl IV. benannt ist und von Zar Peter dem Großen gern besucht wurde, Karlsbad, die Perle Böhmens, war bestimmt eines Mittagessens würdiger als Brünn. So viel Zeit muss sein! Doch wo lag es wohl? Als Vorort von Prag kam es, merkte ich, nicht infrage; ich sah mir die Karte genauer an. Das Wort ‚Umweg‘ traf den Sachverhalt ungenau: Brünn liegt südöstlich, Karlsbad nordwestlich von Prag. Ein wenig kam ich mir vor wie ein Tourist aus Alabama, der sagt: „Wenn ich nun schon zum Frühstück in Paris bin, dann kann ich auch heute Mittag in Kopenhagen rote Grütze essen!“, aber der Himmel war blau, die war Luft heiß, die Idee saß fest in meinem Kopf: ab in die rote Grütze!
Fotos (3): Wikimedia Commons/gemeinfrei
Gegen zwölf parkten wir etwas mühsam in einer Gegend, die ich für das Zentrum hielt, was durch eine ‚McDonalds‘-Filiale und eine Fußgängergasse auch bestätigt schien; sie war nicht mal hässlicher als die Einkaufsmeile von Castrop-Rauxel, und vor dem ‚Grandhotel Ambassador‘ konnten wir sogar Cappuccino (‚1 St. gekochter Kaffee mit Milch‘) bestellen, ohne dass die Serviererin besonders gekränkt schien, uns nicht ‚Italienischen Schweinebauch, Mousse aus Gelbfleisch-Hähnchen und gebratener Karotte‘ servieren zu dürfen, was die Karte auch bereithielt. In meinem Alter denkt man ja leicht mal: „Das kann doch noch nicht alles gewesen sein!‟, und so war es nicht verwunderlich, dass ich das auch über Karlsbad dachte. Goethe und Beethoven hier in der „Einkaufsmeile von Castrop-Rauxel‟? Eher nicht. Ein Kurhaus, ein Park, ein Pavillon, so etwas muss es geben. Obwohl mir Bad Schandau ja auch recht armselig vorgekommen war. Ich konsultierte den Reiseführer, und dann fuhren wir hinauf in die Höhe: Da bot sich ein Blick auf die Stadt und auf die Eger, der wie geschaffen war für Martins Drohne. Von oben sieht ja das meiste netter aus als von Nahem, was viele fromme Generationen lang die Vorfreude auf den Himmel mitbegründet haben dürfte.
Foto oben: M. D. /Privatarchiv H. R. | Foto unten: DmitrySteshenko/Shutterstock
Erfüllt fuhren wir an ehrwürdigen Hotels vorbei wieder ins Tal, wo an der Teplá weitere namhafte Hotels lagen. Besonders das ‚Grandhotel Pupp‘ begeisterte mich: dieser Mut! Warum nicht gleich ‚Grandhotel Puff‘ oder ‚Grandhotel Pups‘? Hundert Meter weiter waren auf einer Brücke über die Teplá Tische gedeckt. Der Wind zauste an den weißen Tüchern, aber sofort wusste ich: Das hier ist es. Wir nahmen Platz und die Speisekarte, und ich hatte recht. Windig war es schon, eigentlich stürmisch, aber es war ein warmer Wind. Am einen Ufer lag das Hotel ‚Embassy‘, zu dem das Restaurant gehörte, am anderen Ufer die Promenade mit Boutiquen, die Silke und Rafał nach dem Essen auf Kaufenswertes absuchten, vor allem Becherovka für mich.
Foto oben: Richard Huber, Karlsbad Grandhotel Pupp, CC BY-SA 3.0/Wikimedia | Foto unten: Wikimedia/gemeinfrei
Gegen sechs sahen wir vom Auto aus Brünn unterhalb der Berge liegen und erfreuten uns daran, wie reizlos die fahlen Hochhäuser aus der Ferne aussahen. Gut, dass wir uns dieses Kaff erspart hatten! „Alle Vorstädte sind hässlich‟, dachte ich, sagte es aber nicht, um den anderen nicht den Spaß zu nehmen. Nachdem wir einen langen See passiert hatten, verhieß, für uns überraschend, ein Schild: ‚Republik Österreich‘ ‒ und von da an konnten wir wieder alles lesen, was an der Straße geschrieben stand.
Foto oben: Norbert Aepli, Switzerland, Brno View from Spilberk 128, CC BY 2.5/Wikimedia | Foto unten: Huhulenik, Věstonice reservoir (2), CC BY 3.0/Wikimedia
#3.5 Im hängenden Café#4.1 In den Kulissen verspielter Stücke
Becherovka hat bei mir dieselbe Wirkung wie Absinth, und zwar leider eher Übelkeit als Freude. Das war’s aber auch schon was ich Negatives über Tschechien sagen kann. Immer wieder gerne dort.
Man muss es ja nicht trinken. Dafür gibt es wie sie schon sagen sooo viel anderes.
Mmmmm palačinka zum Beispiel 🙂
Wo Goethe zur Kur fährt, da ist auch der Besuch für den heutigen Touristen Pflicht. Ich war vor ewigen Zeiten mit der Schule dort und so ungefähr ist’s uns verkauft worden.
Diesen Deutschen aus dem vorvorletzen Jahrhundert kennen aufgeschlossene Kino-Besucher vor allem aus dem Titel dreier erfolgreicher Komödien.
Der McDonalds gehört zu jeder Stadt, wie der Cappuccino und die Latte auf jede Speisekarte. Wer etwas Besonderes bzw. etwas lokales sehen oder essen möchte muss sich anstrengen. Die Meisten wollen’s leider gar nicht.
Das ist genau wie Douglas und Zara. Es muss halt zu jeder Uhrzeit möglich sein, das geliebte Parfum oder ein neues Shirt zu kaufen. Neues entdecken ist dem Massenshopper zu anstrengend.
Wie sich diese ganzen Filialen überhaupt halten können ist mit schon schleierhaft. Es gibt doch ein riesiges Überangebot.
In Brünn gibt’s die Festung Špilberk und eine ganze Reihe an mehr oder weniger hübschen Kirchen. Nicht so langweilig wie die grauen Vorstadtbauten, sicherlich auch kein unbedingtes „Muss“.
Vorstädte, Großstädte, Dorfleben, Landschaft… was hässlich und was schön ist, ist so wahnsinnig subjektiv, da findet auch der Betonklotz seine Liebhaber.
Der Brutalismus ist doch gerade wieder total in. Die ostdeutsche Platte eher weniger.
Ich bin mir sicher, dass es irgendwo eine Tour entlang der schönsten deutschen Platten gibt 😉 Für den „etwas anderen“ Urlaub. Lol
Böhmen kommt etwas zu kurz! Dort, in Tachau, im Sudetenland, erblickte 1943 Peter Kurzeck das Licht der Welt – bevor er, dreijährig, mit Mutter und Schwester in Viehwaggons gen Deutschland vertrieben und in Staufenberg bei Giessen angesiedelt wurde. Wo er aufwuchs und sich zu einem der bedutendsten deutschen Schriftsteller unserer Epoche entwickelte. 2013 starb er zu früh. Sein Werk beschäftigt Philosophen, Naturethiker und Germanisten gleichermassen. Dazu kommen Kunsthistoriker! Hat er doch auch ein überraschendes bildnerisches Werk hinterlassen, das sich sehen lassen kann. Dringende Leseempfehlung!
Irgendwo hieß es mal Kurzeck sei der deutsche James Joyce. Vielleicht übertrieben, aber neugierig bin ich. Werde mich mal an „Das alte Jahrhundert“ wagen…
War das nicht eher der deutsche Proust? Jedenfalls soll er gut sein, Hahaha!
Immer mache ich darauf aufmerksam: ich bin nicht Baedecker und beschreibe nicht das, was wichtig ist, sondern nur das, was ich erlebt oder assoziiert habe. Dadurch entgeht mir und meinen Lesern vieles. Und ich bin, so auch hier, für weitere Anregungen dankbar.
Dabei sind Ihre persönlichen Geschichten in der Regel eh immer soviel spannender als der zugehörige Wikipedia-Artikel. Kurzeck war allerdings ein guter Tip 😉
Ach kurzfristig geänderte Reiserouten sind mir die liebsten. Pläne machen ja nur so richtig Spaß, wenn man sie über den Haufen werfen kann.
Planen gibt Sicherheit, Überraschungen geben Würze.
Ein Urlaub mit richtig viel Zeit und keinem festen Ziel ist toll. Aber bei engerem Zeitplan plane ich lieber. Sonst verpasst man nachher doch zu viel.
Kann man im Urlaub überhaupt was verpassen?
Ohne Arbeitgeber gibt es auch keinen Urlaub. Aber schon als Angestellter habe ich Zeit verbracht, nicht Freizeit. Im Büro habe ich mich nicht gefangen gefühlt und zu Hause nicht erlöst. Jetzt habe ich es noch einfacher (in dieser Hinsicht). Etwas verpassen zu können, ohne etwas versäumt zu haben, das ist der Luxus des Alters.