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Europa im Kopf  —   3. Kapitel: Böhmen

#3.1 Aussteigen oder sitzen bleiben

Zum ersten Mal in meinem Leben in Böhmen. Nostalgiker nennen es noch ‚Tschechoslowakei‘. Sudetendeutsche Landsmannschaften und Egerländer Blaskapellen mussten wir ja bei unserem Einmarsch nicht mehr befürchten; wir alle fühlen uns solchem Brauchtum gegenüber nicht gewachsen. Mir war aber etwas ähnlich Schlimmes eingefallen: Theresienstadt, weil es an der Strecke liegt. Seit Joseph der Zweite es ab 1780 bauen ließ und das Schmuckstück nach seiner gerade zum Herrgott abberufenen Mama Maria Theresia benannte, war viel passiert, keine Frage. ‚Nachdem Österreich im Siebenjährigen Krieg ordentlich eins auf den Deckel gekriegt hatte, sollte diese Festung den Preußen in Zukunft die Tour vermasseln und ihre Nachschubwege blockieren‘, so muss man wohl jungen Menschen heute Geschichte nahebringen. Der Festung Theresienstadt geschah nicht das, was Festungen so gern wollen, um ihre Wehrhaftigkeit zu demonstrieren: Theresienstadt wurde nie angegriffen und verlor, sitzen geblieben wie ein buckliges Mädchen, auch noch 1882 seinen Status als Festung; es blieb aber Garnisonsstadt. Zu richtiger Berühmtheit verhalfen dem abgelegenen Flecken erst die Nazis.

Foto (3): Wikimedia Commons/gemeinfrei

Die finsteren Mauern und runtergekommenen Gebäude hatten etwas Gespenstisches. In der Mittagshitze meinte man, den Geruch von Verwesung zu spüren. Die wenigen Menschen in den öden Straßen blickten feindselig. Am Friedhof wurde es Rafał ganz mulmig, und am Getto-Eingang sagte er gleich: „Hier steig ich nicht aus!“ Das wäre auch das Letzte gewesen, was Silke gewollt hätte, und so war ich froh, gar nicht erst zugeben zu müssen, dass auch mir der Genius Loci die Einzelheiten vollständig ersetzte. Silkes Ex-Chefin in der Classical Artist Promotion der ‚Deutschen Grammophon‘ Ursula Klein hatte uns auf ein großartiges Video über Theresienstadt aufmerksam gemacht. Das andächtig im Wohnzimmer zu betrachten, war sicher lehrreicher, als vor Ort durch die Hitze zu laufen. Womöglich zur Strafe verfuhren wir uns auf unserer Weiterfahrt ein paarmal, was Martin hinter uns mitzumachen genötigt war. Endlich fanden wir den Ausweg aus dem Labyrinth des steinernen Entsetzens.

Foto: Jaromir Urbanek/Shutterstock

Der nächste Ort heißt Litoměřice, was ja an sich bereits unaussprechlich ist, aber das von mir anvisierte Lokal setzte noch eins drauf und hieß ‚Radniční sklípek‘. Nach mehrfachem Umrunden des manierlich herausgeputzten Marktplatzes fanden wir es aber trotzdem, parkten im Halteverbot und setzten uns vor die Baustelle, die da halt war, und drinnen im Keller wäre es auch nicht gemütlicher gewesen. Zu K.-u.-k-Zeiten hieß der Ort Leitmetiz, was für ein Land, in dem man auf der Inntal-Autobahn an Vomp, Schwaz, Mutters und Natters verbeifährt, ziemlich normal klingt, wohingegen bereits die vielen Akzente im Tschechischen mich schreckten. Im simplen Deutschen sind Umlaute schon das Ä und Ö der Raffinesse. Das Französische hat mehr drauf, aber die Slaven sind doch die wahren Herrenmenschen. Haben die Akzente! Selbst Hitler erkannte laut Speer-Biografie in seinen letzten Tagen, dass das deutsche Volk zu schwach sei und ausgelöscht werden sollte. Obwohl ich dem nicht zustimmen mag, trotz einiger Einwände gegen den deutschen ‚Volks‘-Charakter, kam ich mir dieser ausgeklügelten Sprache gegenüber ausgelieferter vor als in Caracas und Tokio. Auf der Speisekarte aber standen die Gerichte  auch in für mich Lesbarem. Nach meiner guten Erfahrung im Spreewald bestellte ich wieder Gänse-Rillette und wurde nicht enttäuscht. Auch das tschechische Bier war so würzig wie in Reiseführern versprochen und der bayerischen Plörre vorzuziehen.

Foto oben: Pyty/Shutterstock | Foto unten links: Borisb17/Shutterstock | Foto unten rechts: H. R./Privatarchiv

Wenn ich irgendwo nur kurz bin, habe ich immer ein schlechtes Gewissen und gleichzeitig ein Triumph-Gefühl: Ihr bleibt hier, aber ich – ich kann weg, ich will weg, ich muss weg. Also weg! Auf nach Prag!

Foto links: ChiccoDodiFC/Shutterstock | Foto rechts: cge2010/Fotolia | Foto unten: anyaberkut/Fotolia

Gleich bei der Ankunft im Hotel ‚Yasmin‘ kamen wir uns nicht mehr wie in Deutschland vor. Eine sehr blonde, sehr geschäftige junge Frau bediente uns an der Rezeption in akzeptablem Englisch mit Worten ohne Taten. Jeder musste Formulare ausfüllen, was aber in keiner Weise dazu führte, dass wir Zimmer oder die gebuchten Garagenplätze zugewiesen bekamen, auch das Gepäck interessierte allenfalls uns selbst. Meine Hoffnung auf ein verschwiegenes Design-Hotel scheiterte ohnehin beim Betreten der Halle, aber die ‚Corporate Identity‘ stimmte: Es war alles irrsinnig hellgrün, und irgendwann waren wir doch alle in unseren Zimmern, sogar das Gepäck, die Autos standen in der Garage und wir – nach kurzem Gang durch Passagen mit eigentümlichen Angeboten – standen auf dem Wenzelsplatz, in Tschechisch, mein Gott: ‚Václavské náměstí‘. Wer kann sich denn das merken?

Der Hauch der Geschichte wehte mich an (tut er doch immer), und es ist typisch für mich, dass ich eine Demo in Rom im August 1968 in Erinnerung habe, wo meine Mutter und ich am ohnehin sehr pompösen Vittorio-Emanuele-Monument standen und die gegen Moskau protestierenden Studenten vorbeizogen. „Das würden die deutschen Linken nie über sich bringen“, waren wir uns einig, wodurch unsere Liebe zu Italien und unsere Abneigung gegen fanatische Deutsche einen weiteren Schub erhielten, beides fiel ohnehin auf fruchtbarsten Boden und führte dadurch zu deutlich anderen Erinnerungen, als sie meine Altersgenossen an dieses Jahr haben mögen. Zwei Wochen später begegnete mir auf Ischia ‚Carmine‘. Meine stille Schwärmerei für ihn blieb nicht ganz so geheim, wie ich Gott und mir das versprochen hatte, denn Carmine ging sehr auffällig an mir vorbei ins Meer, wo ich ihm unter Wasser, von meinen Eltern und meinem Schulfreund Claus Fenner unbemerkt, hätte nähertreten können. Aber ich doch nicht! Ich war erst 22, da gibt man doch seine sexuellen Neigungen noch nicht preis. Carmine wartete vergebens, und Claus sagte am Abend auf der Piazza von San Angelo, nachdem er einen jungen Mann, der uns (harmlos?) angesprochen hatte, harmvoll abgewimmelt hatte: „Ich finde es ganz richtig, dass Homosexualität unter Strafe steht. Man will sich doch von solchen Leuten nicht belästigen lassen.“

Fotos (3): H. R./Privatarchiv

Manchmal denke ich, die 68er waren bloß nicht schwul genug für mich, sonst wäre ich auch auf die Barrikaden gegangen. Aber dann denke ich daran, dass ich damals nicht Black Sabbath oder Sweet, sondern Shirley Bassey hörte. Wenn die meine Barrikade war, dann befand ich mich im Kinderzimmer meines Elternhauses genau richtig, denn auch meine Mutter fand es einleuchtend, wenn Shirley Bassey in knisterndem Mezzo ‚Dangerous Games‘ sang: ‚And in this game there aren’t any rules, fore rules are made for fools.‘ Dem hatte Bob Dylan stimmlich kaum etwas entgegenzusetzen, und was wir vom Ostblock in den Sparten Pop, Kleidung und Essen mitbekamen, war so grässlich, dass sich nicht mal die RAF traute, damit Werbung zu machen.

24 Kommentare zu “#3.1 Aussteigen oder sitzen bleiben

  1. Wenn man belästigendes Verhalten schon im Grundsatz verbieten wollen würde, müsste man konsequenterweise wohl direkt das Mann-sein unter Strafe stellen.

      1. Die Bilder sind (zu?) krass. Aber von Theresienstadt handeln die ersten beiden Absätze, nicht nur ein Nebensatz. Der erste Block ist mit k&k, Hitler-Begeisterten und Egerländer Landsmannschft illustriert, der zweite mit den Konsequenzen, was ich im Text „das Labyrinth des steinernen Entsetzens“ nenne. Im übrigen bin ich erstaunt, wie viele Menschen heute Bebilderung brauchen, um überhaupt etwas zu lesen.

      2. Interessant oder? Und trotzdem wundert’s mich doch immer wieder, dass es im Museum kaum jemand schafft sich Videoarbeiten länger als 1,5 Minuten anzuschauen.

  2. Oh Prag ist so toll! Ich war diesen Sommer erst dort, allerdings nur für ein langes Wochenende. Kommt auf alle Fälle nochmal auf meine Liste. Da gibt’s wirklich noch soviel zu sehen.

  3. Ich habe neulich einen Youtube-Clip von Shirley aus dem letzten Jahr gesehen. Unglaublich was diese Frau auf die Bühne zaubert. Die Stimme klingt auch heute nicht viel anders als in den 60ern und 70ern.

      1. In der Liste der großen Stimmen taucht sie allerdings tatsächlich ziemlich selten auf.

  4. Was machte das Yasmin denn so undeutsch? Dass die junge Frau tatsächlich geschäftig war oder dass sie akzeptables Englisch sprach?

  5. … die ganze Atmosphäre, die Menschen, die Geräusche. Emsigkeit ohne Resultare gibt es überall auf der Welt, aber das Klischee des Deutschen ist doch seine Effiziens: an der Rezeption und im KZ.

    1. Wenn es um Service geht scheint das Gesetz der deutschen Emsigkeit und Effizienz allerdings regelmäßig außer Kraft gesetzt zu sein. Von daher…

      1. Wenn was gut ist, ist’s gut. Hat schon meine Großmutter gesagt. Wenn’s einen Grund gibt statt Bier direkt zu Wein oder Cognac überzuwechseln ist das natürlich umso besser.

  6. Ach Shirley! Wie seelenlos die Bond-Streifen mittlerweile doch geworden sind. Da hilft Adele’s Stimme auch nicht weiter…

  7. Carmine unter Wasser klingt nach einer verpassten Gelegenheit. Man kann aber natürlich auch nicht jedem Trieb nachgeben. Schon klar.

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