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Sprünge von Türmen  —   1. Kapitel: DER VATER

Praxis ohne Theorie | #2

Endlich schnellten die Hände hinab und versanken in seinem Schoß. Er straffte sich. „Morphium“, sagte er ruhig.
––Ich fuhr auf. „Sind Sie wahnsinnig?!“
––„Nein – süchtig!“ Sein Kopf sank erschöpft herab unter der Bürde des Geständnisses. Dann begann es wieder in ihm zu glimmen. Langsam kletterte sein Blick an mir empor und bohrte sich glühend in meine Augen. „Man sieht es mir noch nicht an, nicht wahr?“
––Ich beantwortete seine Frage nicht. „Wie konnte es dazu kommen?“, rief ich aufgebracht.

Sein Blick glitt ab von mir und wanderte über den Schreibtisch, auf dem meine Skizzen sorgsam geschichtet waren, hinweg zum Fenster und hinaus in die unergründliche Nacht. Von dort aus schien eine milde Kraft auf ihn einzuströmen. Er atmete tief durch und begann seine Erklärung mit beherrschter Stimme: „Es ist ungefähr ein Jahr her. Ich war schon mit Britta befreundet. Sie kennen die Kollegin Ihrer Tochter? Für mich war es die fürchterlichste Zeit meines Lebens. Die Kunsthochschule lag hinter mir. Jetzt musste ich meinen Weg finden. Meine Art, mich auszudrücken. Malen, was ich empfand. Nur: Was empfand ich? Es war mühsam, zuversichtlich war ich trotzdem noch. Aber dann merkte ich, wie die Formen anfingen, mir zu entgleiten. Die Bilder in meinem Inneren wurden immer verschwommener, blasser. Es war unmöglich, sie auf die Leinwand zu übertragen. Die unklare Ahnung, die mich zwang, ein Bild zu beginnen, grinste mir in der Ausführung entstellt als Karikatur entgegen. Mein Vorstellungsvermögen, mein Spürsinn schienen von Tag zu Tag zu schrumpfen. Es stimmte nichts mehr. Alles, was kraftvoll, schöpferisch und lebendig in mir gewesen war, verdorrte unter meinem Pinsel. Ich spürte, wie auch ich selbst innerlich abstarb und austrocknete. Ich hatte mein Leben auf einem Irrtum aufgebaut, einer dünkelhaften Selbstüberschätzung. Nun war ich ausgebrannt, bevor ich Feuer gefangen hatte. Ich konnte weder vor noch zurück. Ich war am Ende. In dieser hoffnungslosen Lage hatte Britta den rettenden Einfall. Sie sah, wie ich mich täglich mehr quälte, und schließlich sagte sie: ‚Du steigerst dich selbst in etwas hinein. Das ist wie mit der Impotenz. Weil es einmal nicht geklappt hat, meinst du gleich, es sei für immer vorbei. Du brauchst einen kleinen Anstoß, der dir das Selbstvertrauen zurückgibt. Du brauchst etwas, was deine Fantasie anregt, was dir deine Vorstellungskraft zurückgibt. Ich habe hier etwas. Versuch es mal! Ich glaube, es wird dir helfen!‘ – Ich habe gleich abgelehnt. Ich sagte ihr, wer nicht aus eigener Kraft in der Lage ist, etwas zu schaffen, der soll es ganz lassen. Außerdem wollte ich nicht, dass sie meinetwegen ihre Existenz aufs Spiel setzt. Aber sie sagte nur: ‚Ich kann deinen Zustand nicht länger mit ansehen, probier es wenigstens mal aus! Nimm nur ganz wenig; es ist völlig ungefährlich für uns beide. Wir könnten nur gewinnen.‘ Ja, so war sie. ‚Jetzt muss etwas passieren! Was morgen ist, sehen wir morgen.‘ – Ich gab nach. Mir war mulmig, aber neugierig war ich doch. Und dann? Ich spürte keine Wirkung, überhaupt keine. Ich schrie sie an: ‚Du siehst doch, es ist zwecklos! Das hat alles keinen Sinn! Ich bin ein Versager. Schluss!‘ Aber am nächsten Tag kam sie mit einer größeren Dosis. Ich wollte nicht. Aber ich wollte doch. Und tatsächlich spürte ich eine gewisse Veränderung in mir. Ich ahnte eine neue Ordnung, zum Greifen nah. Beim dritten Mal endlich war ich in der Lage, meine Erlebnisse hinterher umzusetzen, und es entstand das merkwürdige kleine Bild, das meine Ausstellung eröffnet und das einer der Kritiker als einen saugenden Farbstrudel bezeichnet hat. Saugender Farbstrudel! Genau das war es: ein Sog, der mich mit sich fortriss, ein Strudel, nach dessen dunkler Mitte ich mich sehnte. Ich hatte eine neue wirbelnde Welt entdeckt mit funkelnden Urwäldern und zitternden Meeren, glühenden Abgründen und eisigen Klippen, und alles war Bewegung, Licht und Form und Farbe, alles wartete nur darauf, von mir durchforscht, emporgezogen und gebannt zu werden, festgehalten von meinem Pinsel auf meiner Leinwand.“

„Ich habe immer gedacht, Kunst sei etwas bewusst Geschaffenes“, unterbrach ich seinen Überschwang.
––„Nein!“
––Diese Hitze schien mich einäschern zu wollen.
––„Nein, Kunst ist Rausch, ist Taumel, Kunst ist eine eigene Dimension, die die Wirklichkeit auslöscht.“
––„Kunst, die die Wirklichkeit missachtet, ist narzisstisch, sinnlos und außerdem Scharlatanerie“, sagte ich bewusst schroff, um ihn wieder zur Besinnung zu bringen.
––Er beachtete meinen Einwand gar nicht. „Mein Hunger war nicht mehr zu stillen! Haben Sie sich nie gewünscht, einmal über sich selbst hinauszuwachsen?“
––„Jedenfalls nicht so!“, antwortete ich.
––„Wie denn?“, fragte er fast erstaunt.
––„Durch bewusstes, zähes Arbeiten an mir selbst“, sagte ich bedächtig. Schulmeisterlich?
––„Was Sie in zwanzig Jahren nicht schaffen, erreiche ich in zwanzig Minuten …“
––„Indem Sie sich versklaven! Ich erhalte mir meine Selbstständigkeit. Außerdem nutzt meine Arbeit auch anderen.“
––„Ich eröffne den Menschen neue Welten in meinen Bildern. Nur ein kleiner Anstoß ist nötig, und es strömt und quillt aus mir hervor.“
––„Wenn alle Menschen dächten wie Sie –“
––„Es denken aber nicht alle wie ich! Jeder Mensch hat andere Fähigkeiten, Möglichkeiten, Gedanken. – Außerdem, was wäre schon, wenn sie so dächten?“
––„Alles würde zusammenbrechen.“
––„Ja, ja!“ Er schien entzückt. „Soll doch alles zusammenbrechen! Welche wirbelnde, mitreißende Bewegung gäbe das!“

Ich versuchte, ihn wieder zur Vernunft zu bringen: „Die Menschen würden sich selbst aufgeben! Sie würden sich ausrotten.“
––„Ja!“, schrie er begeistert. „Wozu ist diese unendliche Fortpflanzung auch gut? Dieses neue immer wieder Alte. Diese gnadenlose Fruchtbarkeit um ihrer selbst willen, das ist beängstigend, das ist widerwärtig!“ Er starrte mich an. „Sie denken, ich bin wahnsinnig, nicht? Aber was ist wahnsinniger, als die vielen elenden Tage seines Lebens sorgsam aufeinanderzuschichten zu einer Treppe, die nirgendwo hinführt! Diese regelmäßige Ordnung, die Ordnung zeugt und gebiert und selbst aus Ordnung entstanden ist, die die Menschen unterjocht und sie in etwas zwängt und zwingt, was ihnen unerträglich wäre, wenn sie darüber nachdächten. Sie tropfen sorgfältig und zuverlässig, statt zu fließen, sich zu verströmen, zu verschwenden. Statt zu leben, lassen sie sich verleben von der Maschinerie, die sie selbst erfunden haben. Alles teilen sie ein, statt wenigstens etwas auszuteilen. Denen, die sich nicht fügen wollen, bleibt nur die Flucht, denn ein Nebeneinander von Knechtschaft und Freiheit gibt es nicht!“
––„Sie haben sich in die Knechtschaft begeben!“, unterbrach ich ihn.
––„Nur äußerlich!“
––„Ihre Abhängigkeit nimmt Ihnen auch die innere Freiheit der eigenen Entscheidung.“
––„Nein! Nein! Jetzt erst bin ich fähig zu erkennen und zu ertragen.“
––„Dann sind Sie ein sehr schwacher Mensch, und Sie schwächen sich immer mehr.“
––„Schwach? Ja, vielleicht! Wissen macht schwach, weil es die Sinnlosigkeit des Widerstandes erkennt.“
––„Ja, allerdings! Den Widerstand haben Sie aufgegeben!“
––„Wenn man sich einmal entschieden hat …“
––„Nein! Diese Entscheidung hat Britta für Sie getroffen, diese dumme, verantwortungslose Göre!“
––Ein überlegenes Lächeln verwandelte sein Gesicht. „Britta! O ja, sie war entsetzt, als sie sah, was sie ausgelöst hatte. Das hatte sie nicht vorausgesehen! Aber es gab keinen Rückweg mehr. Ich brachte sie dazu, mir weiterhin Morphium zu besorgen. Ich sagte: ‚Wenn du mir nicht hilfst, lass ich dich auffliegen.‘ Manchmal, wenn sie an das Zeug nicht rangekommen war, gab es schreckliche Szenen zwischen uns.“
––„Wie ekelhaft!“ – Es sollte verächtlich klingen.
––„Moral ist keine zutreffende Norm, wenn ein Mensch auf dem Wege ist, sich selbst zu entdecken.“
––‚War er im Entzug oder nicht? Woher nahm er diese unheimliche Kraft?‘
––„Längst schon ist es viel mehr als der Wille, meine Ausdrucksform zu finden. Was treibt mich? Neugier? Der Heißhunger auf mich selbst, auf die Möglichkeiten, in mich einzudringen, mich in mich einzuwühlen, einzugraben, bis zu dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Sich selbst ausbeuten, auszuwringen, bis auf den letzten Tropfen auszusaugen. Unbewusste Schluchten schäumen und gurgeln, sich ganz an diesen schwarz blinkenden Strom hingeben, der dich mit sich fortreißt an die Grenzen deiner selbst, hinaus aus dir, dorthin, wo du merkst, dass du auch ein Stern oder ein Stein oder ein Stück Holz sein könntest, ohne dass deine allumfassende Lust dadurch herabgemindert würde. Du bist alles und bist allem fern, und du weißt, dass dieser Augenblick es wert ist, auch wenn du daran zugrunde gehen müsstest, ja du weißt, du wirst daran zugrunde gehen, und du empfindest den Triumph deines Unterganges, deiner Zerstörung, denn du selbst bist es, der dich vernichtet, und du genießt jeden Augenblick dieser Vernichtung, von der du weißt, dass sie die einzige Möglichkeit ist, dein eigenes Leben für Sekunden einzutauschen gegen das Leben an sich, und du zahlst bewusst den Preis deines Körpers, der gelähmt und geschändet noch nicht aufgibt und sich immer noch verzweifelt wehrt, du ringst mit deinem eigenen Körper, der dich herabzieht und herabzieht und herabzieht …“

Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: Carolyn Franks (Mann), Pru Studio (Hand mit Stift) und Arkadiusz Fajer (Spritze)

28 Kommentare zu “Praxis ohne Theorie | #2

  1. Sucht ist immer ungeheuer erschreckend und deprimierend. Ich glaube das kommt, weil beide Seiten dabei so hilflos sind.

    1. „Ich wollte nicht. Aber ich wollte doch.“ Diesen Kreis zu durchbrechen, wenn man einmal darin gefangen ist, ist unglaublich schwierig.

      1. Da haben Sie sicherlich recht. Vor allem weil eine Sucht ja genau „diese unheimliche Kraft“ freisetzt, von der im Text die Rede ist.

  2. Kunst, die den Rausch festhalten will oder als Inspiration nutzt, kann ich nachvollziehen. Kunst, die komplett unbewusst ent- bzw. besteht, scheint mir wenig interessant.

    1. Wer sich wirklich nie dem Rausch hingibt, der wird in seiner Kunst allerdings auch nicht allzu viel zu sagen haben. Oder gibt es so etwas wie kühle, durchdachte, kalkulierte Kunst auch?

      1. Ich musste auch an Bach denken. Da entsteht die Emotion beim Zuhören auch eher durch fast mathematische Kompositionen. Nicht?

      2. Aber die Passionen zeugen doch von tiefen Gefühlen. Die Air aus der 3. Orchester Suite, der 2. Satz aus dem Doppelkonzert in d-moll. Das kommt nicht erst beim Hörer und seiner Gattin hochemotional an, sondern ist schon von Bach so empfunden. Glaube ich.

      3. Aber Komponisten wie Boulez oder Ligeti erzeugen doch ebenfalls Emotionen. Auch wenn die Musik vielleicht grundsätzlich sperriger und weniger „gefühlvoll“ ist, voller Emotion sind die Werke für mich trotzdem.

      1. Schwiegervater in spe, wenn überhaupt. Bitte Gnade! Wenn Christian nicht gefragt hätte, wäre die Geschichte nicht geschrieben worden.

  3. Sie denken, ich bin wahnsinnig, nicht? Ich würde die Frage persönlich mit ja beantworten. Zumindest ist es doch recht anstrengend den Gedankengängen dieses jungen aufgeregten Mannes zu folgen.

      1. Man könnte fast meinen die ganze Welt sei wahnsinnig geworden. Corona, anhaltende Proteste gegen Benachteiligungen von Minderheiten und Polizeigewalt, Buschfeuer…

      2. Ich beschäftige mich viel mit Geschichte. Es war nie anders. Nur die Auswirkungen waren geringer. Dass jeden Tag eine andere Sau durchs Dorf getrieben wird, ist normal. Dass die Sau in der Massentierhaltung verendet, ist es inzwischen auch.

      3. Das klingt mir einleuchtend. Die Einsätze sind einfach höher geworden, das Spiel ist grundsätzlich dasselbe.

  4. „Soll doch alles zusammenbrechen!“ Genau das haben sich die ganzen AfD- und Trump- und Brexit-Wähler ja auch gedacht. Die wirbelnde, mitreißende Bewegung ist trotzdem ausgeblieben. Zumindest in der Weise, wie sie wohl gewünscht war.

    1. Na irgendwie bricht ja auch alles zusammen. In Amerika zumindest. Nur dachten viele wohl, dass es einen demokratischen Neustart geben würde, nicht das autoritäre Regime, welches Trump gerade aufbaut.

      1. Ich weiss immer noch nicht, ob das im Amerika wirklich so viele Protestwähler waren, oder ob man nicht doch in großen Teilen der Bevölkerung mit Mr. Trump übereinstimmt.

      2. Die USA sind breites Feld. Das Denken zwischen Missouri und Manhattan ist genauso weit voneinander entfernt wie zwischen Murmansk und München.

      3. Man wird es ja wohl im November sehen. Wird dieser Mann nach 4 Jahren Amtszeit noch einmal gewählt, dann brauch man sich keine großen Illusionen machen. Dieses Mal wissen die Wähler jedenfalls ganz genau was auf sie zukommt.

  5. Kreative Blockaden, das fühlt sich tatsächlich ein wenig wie Impotenz an. Zum Glück gibt es im Gegensatz zur Impotenz meist einen Weg daraus.

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