Teilen:

2509
Sprünge von Türmen  —   1. Kapitel: DER VATER

Praxis ohne Theorie | #3

Erschöpft ließ er die Hände sinken. Sein Gesicht war grau und schweißbedeckt. Ein Zittern schüttelte seinen ausgehungerten Körper. „Verstehen Sie mich?“, fragte er erschöpft.
––Ich sah ihn an, versteinert. Solch ein Ausbruch! Fast empfand ich Mitleid mit ihm. Mitleid? Oder war es doch eine düstere Art von Bewunderung? Bewunderung für die Endgültigkeit seiner Entscheidung. Eine Entscheidung, die zu treffen ich nicht schwach genug war.
––Er griff nach mir und packte mich am Handgelenk.
––Ich schauderte vor der Kälte seiner Finger, während in seinem Gesicht das irre Feuer todbringender Gier aufloderte.
––„Dann werden Sie mir helfen?“
––„Ja“, sagte ich bestimmt, „indem ich Sie in den Entzug schicke.“
––Er sprang auf, umschloss mein Handgelenk noch fester und fasste mich mit der anderen Hand bei der Schulter. „Das dürfen Sie nicht! Sie zerstören meine Karriere! Sie zerstören mein Leben, mein wirkliches Leben!“ Seine weit aufgerissenen Augen glänzten vor Entsetzen und vor Tränen …
––„Was ist mit Britta passiert?“, fragte ich. Ich wollte ihn wohl ablenken.
––„Sie hat mich gedeckt, als es herauskam“, sagte er nur kurz. Dann wiederholte er: „Das dürfen Sie nicht tun! Da mache ich nicht mit!“ Er lockerte seinen Griff. Einen Augenblick blieb er stehen. Unschlüssig. Endlich ließ er mich los, setzte sich wieder in den Sessel und sagte ganz ruhig: „Sie werden es auch nicht tun.“
––„Sehen Sie doch ein, dass es das Beste für Sie ist!“, sagte ich beschwörend. Aber ich wusste, ich würde ihn nicht überzeugen können.

Sein Gesicht verlor jeden Ausdruck. „Wenn Sie es mir nicht geben wollen, wird Claudia es tun“, erklärte er unvermittelt. „Sie hat es mir schon angeboten.“
––„Das ist nicht wahr!“, schrie ich empört.
––„Sie versteht mich besser als Sie“, es klang trotzig.
––Er lächelte böse. „Aber vielleicht sollten wir ihr diese Verantwortung ersparen?“
––„Das würde Claudia nie tun!“ Es war der typische Ausruf des entrüsteten Vaters, und während ich es sagte, bereute ich auch schon, dass ich mich in diese Falle hatte locken lassen.
––„So?“, fragte er. Er kniff die Augen zu einem tückischen, fast feindseligen Blinzeln zusammen. „Kennen Sie Claudia so genau? Wissen Sie denn auch, wo sie jetzt gerade ist?“
––„Sie wollte zu einer Freundin gehen“, sagte ich möglichst bestimmt. Aber jetzt, da ich es aussprach, kam mir diese Erklärung fadenscheinig vor.
––Er riss den Kopf hoch und lachte höhnisch auf. Dann beugte er sich vor und schleuderte mir entgegen: „Das Kind meines Vorgängers lässt sie sich wegmachen! Von einem Medizinstudenten!“
––Ich war wie betäubt. Einen härteren Schlag hätte er mir nicht versetzen können.
––„Wo? Wer macht das?“
––„Das wollte sie mir unter keinen Umständen sagen.“

Um mich herum drehte sich alles. Mühsam versuchte ich, mich zu beherrschen: „Da haben Sie ja den günstigsten Augenblick für Ihren Besuch gewählt!“
––Er sah mich ernst an. „Ja, ich habe an alles gedacht“, – seine Stimme wurde leiser – „soweit ich das noch kann. Ich glaube, sie trifft sich immer noch mit ihm!“
––Ich konnte meinen Zorn nicht länger unterdrücken: „Das wird Sie ja kaum stören! Für Sie ist doch die Verbindung zum Giftschrank das Entscheidende!“
––„Nein!“ Er machte eine beschwörende Geste. „Nein, das dürfen Sie nicht denken! Claudia bedeutet so viel für mich! Ich bewundere sie. Ich brauche sie. Britta tut mir furchtbar leid. Es ist entsetzlich! Und sie hängt immer noch an mir! Ich habe das gar nicht verdient.“ Seine Achseln wippten auf und nieder, ein gefangener Vogel, der mit den Flügeln schlägt. „Es beschämt mich! Es schnürt mir die Luft ab! Ich kann es kaum noch ertragen. Aber Claudia …“
––„Sie haben Ihr Leben und das Leben dieses Mädchens zerstört“, unterbrach ich ihn. „Ich werde nicht zulassen, dass Sie meine Tochter noch ins Unglück stürzen.“
––Seine Lippen bebten fiebrig. In ihm glühte und prasselte es. Seine Arme, die gefräßig die Lehne entlangglitten, schienen alles versengen zu wollen. „Das hat sie selbst schon getan“, stieß er hervor, „heute Abend!“ Dann stand er langsam auf und sagte: „Es wäre doch schade, wenn Claudia deswegen noch mehr Schwierigkeiten bekäme. Am Ende glaubt noch jemand, Sie hätten den Eingriff vorgenommen, und was wird dann aus Ihrer Arbeit?“ Er machte eine Handbewegung gegen den Schreibtisch. „Die Leute sind so ungerecht. Sie trennen nie zwischen Mensch und Werk. – Morgen Abend komme ich wieder, um zu erfahren, wie Sie sich entschieden haben.“

Wenn er auch sicher zu erscheinen versuchte, so zuckte doch unentwegt die uneingestandene Hilflosigkeit durch sein Gesicht. Er hatte sich mir preisgeben müssen, und die Beschämung darüber mischte sich mit der Beschämung über sein eigenes Verhalten zu einer eigenartig unterwürfigen Bestimmtheit. Er ging auf die Tür zu. Als er die Klinke schon in der Hand hielt, drehte er sich noch einmal um: „Verzeihen Sie mir! Ich kann es doch nicht ändern!“
––Ich glaube, ich nickte sogar noch.
––Er schloss die Tür behutsam.
––Im Gang hörte ich ihn ein paar Worte mit der Haushälterin wechseln. Dann rief sie fröhlich „Gute Nacht!“ in die Dunkelheit hinaus und riegelte die Tür hinter ihm ab.
––Meine erste Empfindung war Wut über mich selbst. ‚Wie hatte ich ihn gehen lassen können?‘, fragte ich mich ärgerlich. ‚Es wäre meine Pflicht gewesen – als Arzt … Doch was war meine Pflicht als Vater?‘ Ich erkannte beschämt, dass ich mich viel zu wenig um Claudia gekümmert hatte.

Als meine Frau noch am Leben gewesen war, war sie für alle und alles da gewesen. Jetzt, nach ihrem Tode, hatte ich es für überflüssig gehalten, mir noch Sorgen um meine erwachsene Tochter zu machen. – Hatte ich überhaupt jemals ernsthaft über sie nachgedacht? Wir hatten wohl kaum mehr für einander empfunden als die Selbstverständlichkeit dessen, dass sie mein Kind war und ich ihr Vater. Die Liebe zu meinem Kind hatte ich schon vorausgesetzt, bevor Claudia zur Welt gekommen war. Dieses Verhältnis war von Anfang an so klar gewesen, so belastet von seiner Natürlichkeit, dass es gar nicht zustande gekommen war. Und es hatte nichts gegeben, was die Schablonenhaftigkeit ‚Vater – Tochter‘ erschüttert hätte, nichts, was uns füreinander lebendig gemacht hätte und uns über die Funktion hinaus einen Menschen gezeigt hätte. Vielleicht muss man alle von Geburt her festgelegten Bindungen erst abstreifen, bevor man zu der Persönlichkeit eines nahestehenden Menschen vorstoßen kann.

Man denkt zu wenig über das nach, was man für gegeben hält. Claudia war kein kompliziertes Kind gewesen, weder ängstlich noch ungezogen. In der Schule hatte es nie Probleme gegeben. Erst jetzt war der Augenblick gekommen, da eine ernste Schwierigkeit aufgetaucht war. Wie konnte ich erwarten, dass sie sich damit an mich wandte? Für kleine Sorgen war meine Frau zuständig gewesen, große hatte es nicht gegeben. Zumindest hatte ich es nicht bemerkt. Beklommen und doch tief im Innern erleichtert stellte ich fest, dass ich Angst hatte um Claudia. Was musste sie alles ausgestanden haben! Und ich hatte nichts davon bemerkt. So verbohrt war ich in meine Arbeit gewesen, dass ich es überhaupt nicht bemerkt hatte. An ihrem Gesicht hätte ich es ablesen müssen, am Klang ihrer Stimme, dem Ausdruck ihrer Augen! Wie konnte sie Vertrauen zu mir haben, wenn ich so wenig Gespür für sie zeigte?
––Ich wurde immer unruhiger. Wem mochte sie in die Hände gefallen sein, durch meine Schuld? Nicht auszudenken, was ihr alles zustoßen konnte, welche Komplikationen sich ergeben mochten!
––Ich sprang auf und begann im Zimmer auf und ab zu laufen. Ich hatte keine Möglichkeit einzugreifen. Meine Tochter befand sich in der Gewalt irgendeines Anfängers, und ich konnte nichts tun, um ihr zu helfen, ihr beizustehen, sie zu befreien. Ich werde alles wiedergutmachen, wenn sie zurückkommt. Ich werde sie trösten, sie umarmen! Wenn sie nur endlich käme! Ich sah auf die Uhr.
––Meine Haushälterin steckte den Kopf ins Zimmer: „Ich habe schon zweimal geklopft“, entschuldigte sie sich. „Ich gehe jetzt schlafen. Gute Nacht!“
––„Gute Nacht!“, sagte ich geistesabwesend.
Als sie die Tür gerade wieder schließen wollte, schrak ich auf. „Frau Paul!“, sie hob erstaunt den Kopf, „erzählen Sie bitte meiner Tochter nichts von Herrn Legendorffs Besuch!“
––„Nein, nein“, antwortete sie eifrig, „er hat es mir auch schon gesagt.“ Sie trat mit einer schnellen Bewegung ins Zimmer. „Soll es eine Überraschung geben, ja?“, fragte sie verstohlen.
––Ich wandte mich ärgerlich ab. „Ich möchte nicht, dass darüber gesprochen wird!“
––Sie zuckte missmutig die Achseln. „Von mir erfährt niemand was“, sagte sie, rückte den Stuhl, der mitten im Zimmer stand, auf seinen alten Platz und ging dann in dem stolzen Bewusstsein, etwas Wesentliches getan zu haben, schlafen.

Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: Carolyn Franks (Mann), Pru Studio (Hand mit Stift) und Arkadiusz Fajer (Spritze), iodrakon (Augen)

28 Kommentare zu “Praxis ohne Theorie | #3

  1. Eigentlich weiss man es ja, aber es überrascht einen doch immer wieder: Man denkt zu wenig über das nach, was man für gegeben hält.

    1. Man hat ja meistens so schon genug Sorgen. Wenn man sich nich Gedanken um alles machen würde was grundsätzlich zu laufen scheint, dann würden wir wohl gar nicht mehr zur Ruhe kommen.

      1. Ja ja, auf lange Sicht bereut man meistens. Aber aus den Augen aus dem Sinn.

  2. Muss man vor allem nicht sogar erst einmal alle von Geburt her festgelegten Bindungen abstreifen um zu sich selbst zu finden?!

      1. Überdenken kann man die Bindungen. Abstreifen? Vieles ist genetisch festgelegt, aber nicht festgeklebt. Da kann man sich wohl lossagen. Das Gegenteil seiner Eltern zu tun, wie es ab Mitte der 60er Jahre vorkam, ist allerdings keine Befreiung, sondern die gleiche Melodie mit umgekehrtem Vorzeichen.

      2. Das dachte ich auch. Eine Gegenreaktion ist ja immer noch eine Reaktion. Zum „Abstreifen“ müsste man dann ja völlig unabhängig agieren. Das ist doch überaus selten.

      1. Nur darf man ja meist niemanden gegen seinen Willen einsperren. Oder habe ich da doch ein paar Details verpasst?

    1. Aus eigenem Umfeld kenne ich so etwas zum Glück nicht. Aber das klingt logisch. Helfen kann man ja grundsätzlich nur jemandem der auch Hilfe möchte.

  3. Solche Sorgen, also um das Wohl seiner Kinder, sind doch mit nichts zu vergleichen. Ich kenne das jedenfalls auch, dass man sich da noch einmal mehr den Kopf zerbricht, als wenn es um einen selbst gehen würde.

    1. Wie es mit den eigenen Kindern ist kann ich nicht beurteilen. Aber zumindest beim Partner ist das ja schon ähnlich. Das eigene Wohl kommt auch da erst an zweiter Stelle.

      1. So halten wir es für normal. Aber es gibt Religionen und Ideologien – da verraten Eltern und Kinder oder Partner einander besten Gewissens zur Ehre Gottes oder der Partei.

  4. Dieses „Ich kann es doch nicht ändern“ ist natürlich Quatsch. Man könnte ja schon, man will nur nicht.

  5. Wahrscheinlich würde durch einen Entzug Leben und Karriere gerettet, nicht zerstört. Aber Logik wäre in diesem Suchtzustand natürlich keine wirkliche Alternative.

  6. Dieser erste Sprung vom Turm ist ziemlich intensiv. Da wird soviel Spannung aufgebaut, erinnert mich fast ein wenig an Poe’s Erzählungen.

      1. Fassbinder, Garland, Sartre, Poe … mit denen würde ich allen ganz gerne eine Runde plauschen wenn es irgendwann soweit sein sollte.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

dreizehn + drei =