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DIE ELF  —   4. Kapitel: ZWEIUNDZWANZIG

#4.2 | Leben in der Bude

Harald, Hans-Dieter und ich waren sehr verschieden. Unsere Elternhäuser und unsere Charaktere waren sehr verschieden. Wieso es trotzdem mit uns klappte, ist mir ein Rätsel. Am Wochenende spielten wir Skat und ich steuerte zuvor immer eine Albernheit bei: Sketch auf Tonband oder Schreibspiel mit Auswahlmöglichkeiten. Dabei entstanden dann Lieder wie ‚Kurt, Kurt, Kurt, du bist eine Missgeburt‘, und in Schreibmaschine getippte Fragen erforschten: ‚Wärst du lieber ein lobendes Täschchen oder ein leidender Löffel?‘. Dass Harald und Hans-Dieter sich meine Sperenzien gefallen ließen, war womöglich unser stärkstes Bindeglied. Im Sommer 1967 waren wir sechs Wochen lang durch Italien gereist. In Irenes VW Käfer. Zwei Stark-Raucher und ich Nichtraucher. Hat mir nichts ausgemacht. Beim Wein hielt ich ordentlich mit. Wer ein bisschen weniger getrunken hatte, wurde hinterher ans Steuer gesetzt, darum bemühte sich jeder, kein Nachzügler zu sein.

V. l. n. r.: Hans-Dieter, Harald, Knud, Hanno | Foto: Privatarchiv H. R.

Harald studierte inzwischen Volkswirtschaft, Hans-Dieter Jura. Aus heutiger Sicht drollig, dass er aus gerade seiner Fakultät Haschisch-Pieces mitbrachte, die wir in meinem partylosen Partykeller in Moritz-Eisbonbons konsumierten. Dann klangen The Doors und Mozart immer noch eindrucksvoller als nach nichts anderem als Wein. Bei solchen Veranstaltungen war uns auch Damenbesuch willkommen. Die Mädchen waren wie ich katholisch, weil ich sie durch unsere ebenfalls katholischen Nachbarinnen kannte. Alle gingen sie auf dieselbe Schule, geleitet von den Schwestern der Gesellschaft vom heiligsten Herzen Jesu. Davon ließen sich meine weiblichen Gäste aber nichts anmerken. Es war also manchmal durchaus Leben in der Bude. Wenn es dabei zu laut herging, drohte meine Mutter am folgenden Morgen: „Das nächste Mal komme ich im Nachthemd mit Lockenwicklern runter und schreie ‚Ruhe!‘ Dann wirst du dich sehr genieren.“ Das beeindruckte mich nicht besonders, denn wer sich da mehr genieren würde, war ziemlich klar. Wenn es zu ruhig war, mahnte meine Mutter. „Du weißt doch, dass wir wegen Kuppelei verklagt werden können!“ Aber selbst das geschah nie. Die Nachbarn waren durch den Anblick von Irene mit Bikini im Garten bereits abgehärtet, und dann wurde auch noch der Paragraf abgeschafft.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Wenn wir bloß zu dritt waren, wurde zum Skat neben dem obligatorischen Bier auch genügend Schnaps gereicht. Nebenan im Vorratskeller gab es eine Kühltruhe, die nicht nur für Lammkeulen, sondern auch für Wodka-Flaschen gut war. Und im Heizungskeller gab es einen Abfluss, der sich als pissgeeignet erwies. – Herrliche Zeiten!

Den Geburtstag des vorigen Jahres hatte ich mit meinen Eltern verbracht: mein Einundzwanzigster. Nun war ich – nach damaligem Stand – volljährig. Travemünde. Wir speisten auf der Terrasse mit Ostseeblick und wechselten anschließend hinüber ins Spielcasino. Am Eingang wurde mein Ausweis kontrolliert. Dass ich von meinen Eltern sofort am ersten Tag, an dem ich dazu befugt war, an den Roulettetisch geleitet wurde, fand ich einen hübschen Gag. Spielsüchtig bin ich trotzdem nicht geworden. Wie so vieles andere auch nicht. Unabhängigkeit: von Systemen, von Menschen, von Lastern – das ist ein erhebendes Gefühl. Theoretisch. In der Praxis vereinsamt Bedürfnislosigkeit: all die Freuden und die Ängste, die man nicht teilt, weil einem völlig egal ist, ob Oberammergau oder Unterföhring beim Federball gewinnt. Aber toll, nicht auf die nächste Lieferung von seinem Koks-Dealer angewiesen zu sein. Man kann sich halt alles schön- oder schlimm-reden.

36 Kommentare zu “#4.2 | Leben in der Bude

  1. Bestimmt war einer der Gründe, dass es so gut mit Ihnen dreien klappte die Tatsache, DASS sie so verschieden waren.

    1. Mit meinem heutigen Verständnis würde ich dem zustimmen. Damals in der Schule ging es, zumindest bei uns, aber eher darum Zugehörigkeiten festzustellen. Da war das ‚Andere‘ nich nicht so gewünscht. Gut, dass man schlauer wird.

      1. Bis man erwachsen wird, gesellen sich gleich und gleich gern.
        Später ziehen sich auch schon mal Gegensätze an.

  2. Sechs Wochen durch Italien – Respekt. Das war bestimmt ein tolles Erlebnis. Gerade in dem Alter. Und das hat Sie sicher noch enger zusammengeschweißt.

      1. in meiner schulzeit sah das ähnlich aus. manchmal zu albern um mich aufs lernen zu konzentrieren. aber am ende ist alles gut ausgegangen und die abschlussnoten stimmten.

    1. 6 Wochen Italien könnte ich auch gerade gebrauchen. Das Ende des Jahres verlangt gerade nochmal einiges. Zum Glück ist die Auszeit nicht mehr weit weg.

      1. Eine anregende, entspannende Auszeit wünsche ich Ihnen. Ich habe ja inzwischen eher 6 Monate Italien. Aber auch erst seit ‚elf‘ Jahren.

  3. Bedürfnislosigkeit an sich muss aber ja nicht zwangsläufig Gleichgültigkeit heißen. Man wird nur weniger getrieben. Teilnehmen am Leben kann man doch trotzdem.

  4. Also auch dieses mal gilt wieder: das ist eine richtig tolle Bildauswahl. Besonders die Buben im Busch ganz oben haben mich schmunzeln lassen.

    1. Das habe ich beim Lesen auch gleich gedacht. So soll es eigentlich ja auch sein. Wenn man in der Jugend nicht unbekümmert sein kann, wann dann?!

      1. „Jugend ist so unbeschwert wie ein bleigefüllter Luftballon“, habe ich mal geschrieben. Unbeschwert fand ich kein Lebensalter. Aber auch keins deprimierend.

      2. Hahaha. Da mag sogar was dran sein, so überspitzt das auch geschrieben und vielleicht auch gemeint war. Es ändern sich ja vor allem die Themen. Weniger jedenfalls wie die Art und Weise wie man ihnen begegnet.

      3. Ich finde man verändert seine Art Dinge zu betrachten bzw. mit Problemen umzugehen genauso. Auf mich selbst bezogen würde ich das zumindest so sehen. Sonst bliebe man letztendlich ja doch in einer Art Stillstand. Es würden sich nur die Umstände ändern, aber man selbst bliebe gleich. Das glaube ich nicht.

      4. Es ist erhellend, darauf zu achten, was im Laufe des Lebens gleich bleibt an seinen Einstellungen und was sich wandelt.

  5. Diese Unabhängigkeit von Systemen, von Menschen, von Lastern, etc. wäre etwas, was uns allen sehr gut tun würde. Da gäbe es sicher auch weniger Konflikte. Man müsste nicht ständig „seine“ Seite verteidigen oder sich gegen Fremdes abschirmen. Unabhängig impliziert doch auch ein Gefühl von Freiheit.

    1. Solange das nicht heißt, dass man allein und einsam ist, klingt das alles gut. Man darf vor lauter Unabhängigkeit nur nicht den Anschluss an das gemeinschaftliche Leben verlieren.

      1. Das Inernet verschafft uns reale Unabhängigkeiten: wikipedia, amazon. Und es täuscht da Gemeinschaft vor, wo bloß ‚likes‘ sind.

      2. Ich bin selbst erstaunt, dass ich über Instagram und co. mittlerweile ein paar wenige reale Freundschaften geschlossen habe. Damit meine ich solche, die sich von der Onlineplattform in das Leben außerhalb der sozialen Medien verlagert haben. Mag sein, dass das Glücksgriffe waren. Aber es ist immerhin möglich.

      3. Das klingt aber ein wenig nach einer Ausnahme. Die meisten User sind aber glaube ich auch gar nicht auf der Suche nach echten Freundschaften. Toll, in jedem Fall!

      4. Haha, ja in der Tat. Ich hatte das Glück in der selben Stadt zu wohnen (Fall 1) bzw. die physische Nähe durch eine Geschäftsreise zu realisieren (Fall 2).

  6. Meine Mutter wäre ohne Frage in den Keller gekommen. Vielleicht hätte sie vorher noch ihr Outfit geändert, um sich nicht im Nachthemd zu genieren, aber sie wäre viel zu neugierig gewesen um sich einen kurzen Blick auf das Geschehen entgehen zu lassen. Nur fanden in meinem Freundeskreis die Feten selten bei mir zuhause statt. Sie hatte also wenig Möglichkeit.

    1. Hahaha. Meine Eltern haben mich in dem Alter zum Glück meistens in Ruhe gelassen. Sie wussten immer ganz gut wo sie mir vertrauen konnten und wann sie lieber man ein Auge auf mich warfen. Ist sich ganz gut ausgegangen, in sofern man das selbst einschätzen darf.

      1. Zeiten, zu denen ich Zuhause sein sollte, habe ich nie mit auf den Weg bekommen, die Mädels, die ich abholte, schon. Wie das heute ist, weiß ich gar nicht.

    2. Das Verhältnis zu meinen Eltern war gar nicht so eng, als dass sie sich da groß interessiert hätten. Solange ich keinen Ärger nach Hause gebracht habe, gab es keine großen Nachfragen.

    3. Den Partykeller haben wir ausgebaut, als ich 18 war. Da hätten es meine Eltern als aufdringlich empfunden, einfach hereinzuschneien. Aber manchmal waren sie zum Musikhören eingeladen. Mahler-Sinfonien auf volle Dröhnung am Sonntag Nachmittag – da schmeckt der ‚Tatort‘ anschließend nochmal so gut.

  7. Kartenspiele hätten mich vielleicht noch reizen können. Aber im Geld habe ich trotzdem nie gespielt. Roulette u.ä. fand ich immer wahnsinnig langweilig.

    1. Wenn man gewinnt, ist es wohl recht interessant. Die Hoffnung auf das Glück kann ruinös sein. Nicht mein Ding. Ich habe nie damit gerechnet, dass mir etwas in den Schoß fallen könnte. So gesehen, ist dann aber doch eine ganze Menge gefallen.

      1. Diese Chance, dass man tatsächlich gewinnen könnte, darauf kommt es wohl an. Wenn einem dazu das nötige Kapital fehlt, dann kann ich gut verstehen, dass diese Glücksspielerei schon von Grund auf langweilig ist.

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