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DIE ELF  —   4. Kapitel: ZWEIUNDZWANZIG

#4.1 | Ein Satz reicht

Mein Geburtstag 1968. An den erinnere ich mich ganz genau:

Harald, Hans-Dieter und ich saßen in der Loggia, und Irene hatte eine Matjes-Platte vorbereitet.

An diesem Satz gibt es einfach nichts, was nicht bemerkenswert wäre. Ich fange ja gerade erst an mit meiner Beschreibung des Jahres, neugierig auf das, was ich wohl zusammentragen werde, aber ich vermute: Von diesem einen Satz aus werde ich alles entschlüsseln können, was es zu sagen gibt, ohne dass ich noch einen zweiten Kernsatz brauchen werde.

Foto: ReinhardThrainer/pixabay

Eigentlich wäre ich lieber mit Johannes und Alexander befreundet gewesen. Mediterrane Namen gefielen mir immer besser als nordische. Aber ich kannte niemanden, der so hieß. Damals. Harald und Hans-Dieter hatten mit mir zusammen Abitur gemacht und dann zur Bundeswehr gemusst. Mir blieb das wegen meines Herz-Doppelschlags – fachmännisch: Extrasystole – erspart. Nette Gleichaltrige ließen mich wissen: „Also, lieber zum ‚Bund‘ als so eine Herzkrankheit!“ Schön, dass sie nicht neidisch waren, aber ich sah das anders. Der Faron-Young-Titel ‚Live Fast, Love Hard, Die Young‘ von 1955 wurde ab Mitte der Sechzigerjahre mit der Empfehlung ‚Sex and Drugs and Rock and Roll‘ kombiniert und von der Hippie-Bewegung in die Tat umgesetzt. Ab 1970 wurde dann – dem Faron-Young-Refrain entsprechend – von Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison jung gestorben. Ich allerdings wollte mich nicht ganz so konsequent mit dem Zeitgeist verbrüdern, zumal sich Faron Young selbst auch erst 1996 erschoss. Trotzdem: Sex, Hasch und Pop fand ich erstrebenswerter als die Wunschvorstellung hundert Jahre zuvor: ‚Wein, Weib und Gesang‘.

Quelle: Ste./YouTube – ‚Live Fast, Love Hard, Die Young‘ (1955) Interpret: Faron Young

Meine Extrasystole verschwand bald nach der Musterung. Unser Hausarzt war darüber verblüfft. Ich – in gewisser Weise – auch. Es war eines der abzählbaren Male, in denen sich mein Körper mit meinem Geist verbündete. (Ich nenne es ‚Geist‘, denn was sollte ich sonst dazu sagen?) Doch nun der Reihe nach, rückwärst gezählt.

Rock ’n’ Roll war in meinem Gefühlsleben nur eine Backstage-Erscheinung. Auf der Bühne tummelten sich Shirley Bassey und Franz Schubert. Bachs Fugen und den kunstvollen Durchführungen klassischer Sinfonien konnten nur Shirley Bassey und ihresgleichen mit deren verlogenem Pathos etwas entgegensetzen. Ich kannte mich ziemlich gut aus in der internationalen Popmusik. Liebhaber von Hardrock, später Heavy Metal, verachtete ich genüsslich. Die waren zu doof, meine selbstlose Hingabe an die wahre Kunst und an den wahren Kitsch zu würdigen.

Seit Februar studierte ich neben allgemeiner Kompositionslehre auch afrikanische Musik und Jazz bei Werner Fritsch, vor dessen Wahnsinn ich mich mehr und mehr zu fürchten begann. Sein auf Kirchenton-Reihen basierendes Kompositionsprinzip nahm ich versuchsweise an, aber ich war mir bei ihm nie sicher, ob er plötzlich aufspringen und mich abschlachten würde. Hier füge ich mal mein Klavier-Stück ‚Aufbruch‘ ein, das ich nach seinen Regeln geschrieben habe.

‚AUFBRUCH‘ – aus CD ‚Aufbruch!‘ (1968)

Komposition/Interpretation: Hanno Rinke

Die Töne zu maßregeln war das eine. Aber die Wörter hatten sich mir ebenfalls zu fügen. Unablässig schrieb ich Gedichte. Wer keiner geregelten Arbeit nachgeht, muss sich ja trotzdem irgendwie beschäftigen. Hier greife ich mal ein Gedicht heraus, das 1968 schon nicht mehr ganz neu war, das aber 2023 immer noch nicht unmodern wirkt – finde ich, bis auf den Reim. Erträgliche Musik und geschliffene Sprache galten damals unter Vordenkern als total rückständig. Das nahm ich wahr und log weiter. Unbelehrbar. Demütig-aufmüpfig fügte ich mich in meine unterstellte Dekadenz und veränderte weder mich noch die Welt.

AUSKRISTALLISIERT

Alles ist messbar, längst auch die Gefühle.
Die Isolierung, die uns nie misslang.
Schönheit, zerlegt in tausend Moleküle.
Die Sicherung, die lange schon zersprang.

Meine Gedanken – chemische Prozesse.
Nicht Grauen, das ist Freude, was dich packt!
Allein der Nutzen ist von Interesse –
Wackelkontakt!

Die müden Sinne hetzen wir durch Düsen,
weil Ruhe für uns nichts als Leere wär’.
Mein Lächeln: Fehlfunktion der Tränendrüsen –
die Uhren stimmen, nur die Zeit geht quer!

Foto: Privatarchiv H. R.

40 Kommentare zu “#4.1 | Ein Satz reicht

  1. Den Militärdienst durfte ich mir auch ersparen. Der Bundeswehr war es wohl zu riskant, dass ich als Baby ein kleines Loch im Herzen hatte. Ich habe mich nie beschwert.

    1. Beim Sohn meiner Schwägerin war das genauso. Das Loch hat sich schnell von selbst geschlossen. Da musste gar nicht gemacht werden und es gab auch nie wieder Komplikationen oder Beeinträchtigungen.

      1. Na, wenn das für eine Wehrpflichtbefreiung ausreicht … Gen Z muss sich damit sowieso nicht mehr auseinander setzen. Dafür ist mehr Zeit für orangene Farbe und festgeklebte Hände.

      2. Heute Morgen las ich, dass in Berlin mittlerweile sogar Weihnachtsbäume orange abgesprüht werden. Reinigungskosten fallen da wohl nicht an, aber ob man mit zerstörter Weihnachtsdekoration die Massen begeistert?

      3. Die Mission aufzurütteln, lässt sich nicht eindämmen. Wenn das Ziel erst mal feststeht, gibt es kein Halten mehr. Das Gute muss siegen. Ein regigiöser Anspruch.

      4. Ich schätze mich eigentlich immer als jemanden ein, der sich um die Erderwärmung Sorgen macht und der versucht mich entsprechend zu verhalten. Die Letzte Generation mit ihren ungebremsten Aktionen an Wahrzeichen, Unis, Weihnachtsbäumen (in Kiel auch!) finde ich trotzdem unglaublich nervig.

      5. Ich glaube die LG wird zu immer extremeren Aktionen übergehen. Irgendwie doch auch zu recht. Es scheint ja immer noch nicht genug Aufmerksamkeit zu geben. Die Politik tut jedenfalls nichts und wir laufen weiter auf eine Katastrophe zu.

      6. Bisher hat die Menschheit noch immer etwas erfunden, dass Katastrophen gemindert und Fortschritt möglich gemacht hat. In der Medizin, in der Technik. Dinge, die man zuvor nie geahnt hat. Das war Wissenschaft. Die Leute einfach gegen sich aufzubringen, hilft keinem Baum, sondern der AfD.

      7. Ich denke auch nicht, dass es viel nützt, die ganze Zeit zu beschreien, was man in den 80ern schon alles hätte tun können. Man muss nun mit der Situation umgehen wie sie eben ist. Was bleibt uns denn sonst auch übrig?

      8. Druck machen. Nur ist das in langsamen Demokratien schwieriger als in Autokratien, die aber geringeres Interesse daran haben, unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen, die nicht ihrem Machterhalt dienen. Mahner sind schon seit Kassandra unbeliebt. Naja, Troja ist auch untergegangen.

  2. „Weil Ruhe für uns nichts als Leere wär“
    Genau das ist mein Credo! Man könnte nun lange rätseln, warum ich mich mit Ruhe so schwer tue, aber man kann sich auch einfach beschäftigen und viele Dinge ausprobieren. Mir macht das ehrlich gesagt viel mehr Spaß als abzuschalten.

      1. Ich will niemandem absprechen, dass er wirklich unter so etwas leidet, aber ist das nicht hauptsächlich so ein Wort, dass gerade im Trend liegt und wahnsinnig überbenutzt wird?

      2. Ich glaube das sollte mittlerweile ausdiskutiert sein. Den Begriff gibt es ja seit einiger Zeit. Es ist vielleicht keine Krankheit im eigentlichen Sinne, aber so wie ich das verstehe wird es als ernstzunehmende psychische Störung angesehen.

    1. Ruhe gleich Leere. Ich habe das damals ja sehr kritisch gesehen und später trotz ständigem Unterwegssein und zahllosen Begegnungen immer meine Abschaltphasen gebraucht und mir genommen. Ein Burnout spricht für unreflektieres Selbst-Management.

      1. Ich balanciere auch eher periodisch. Mal power ich mehrere Wochen durch, danach nehme ich mir die Zeit die ich brauche um aufzuladen. Aber das macht sicher jeder anders.

  3. Ich war mir bei Bassey nie sicher, ob ich das Einstudierte und den Kitsch verachten oder das riesige Talent und die ausgeklügelte Performance bejubeln sollte. Mit den Jahren bin ich aber auch immer näher an Option 2 gerückt.

    1. Die Shows, die Madonna zu ihrer Glanzzeit oder heute Beyoncé sind doch ähnlich durchinszeniert. Das spricht finde ich nicht gegen Shirley Basseys Auftritte damals. Ob man das Drama und den Kitsch mag, das bleibt einfach jedem selbst überlassen.

      1. Professionalität hat mich immer schon mehr begeistert als rührender Diletantismus. Darum mochte ich nie Krippenspiele oder Punk.

      2. Finde ich auch. Nur weil jemand über die Präsentation seiner Stücke nachdenkt, heisst das ja auch nicht, dass er/sie weniger echt ist als jemand, der/die einfach drauf los spielt.

      3. Heute weiß sowieso niemand mehr, wie echt ‚echt‘ ist. Echt ‚fake’alisch.

    1. Das Klavierstück hat mir auch sehr gefallen. Sie waren 1968 ja schon genau so produktiv wie heute mit Ihrem Blog. Ich finde das immer wieder beeindruckend.

      1. Den Spaß merkt man Ihnen an. Er kommt beim Lesen gleichermaßen. Vielen Dank.

  4. Unbelehrbar könnte auch mit Widerstand gegen die Anpassung an den Mainstream gleichgesetzt werden. Es scheint sich für Sie ausgezahlt zu haben.

    1. Man kann sich den Trends ja gar nicht immer entziehen, aber ich lasse mich auch viel lieber von Fakten und neuen Ideen „belehren“ als von Meinungen.

      1. ‚Unbelehrbar‘ war ich ja nur in Hinblick auf die damalige, inzwischen überwiegend untergegangene Avantgarde in Musik, Kunst, Film und Literatur. Zu lernen, um eigene Techniken entwickeln zu können, dem habe ich mich nie verschlossen.

      2. Wobei die Avantgarde heute nicht grundsätzlich tot zu sein scheint, sondern es nur nochmal deutlich schwerer hat. Im Kino kommt man heute z.B. nur noch schwer gegen Marvel oder sonstige epische Trilogien an. Selbst Netflix riskiert da wenig. An den Ambitionen der Regisseure liegt das aber wohl weniger.

      3. Das wundert mich immer etwas. Selbst große Regisseure wie David Lynch bekommen ihre Projekte ja kaum finanziert. Aber zu unverdaulich darf es wohl fürs Publikum auch nicht werden. Ari Aster hat mit seinem grandiosen „Beau is Afraid“ ja viele Fans schon wieder verschreckt.

      4. Es gibt die Vorreiter, die erst später in ihren Wert erkannt werden, und die Verblasenen, über die der Zeitgeist ungerührt hinwegschreitet.

      5. Wer gläubig ist, kann sich dann ja auch nach dem Tod noch über den verdienten Ruhm freuen.

  5. Hmmm, so wirklich mediterran klingen Johannes und Alexander aber auch nicht. Sicher, dass Sie nicht Giovanni und Alessandro meinten?

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