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DIE ELF  —   5. Kapitel: DREIUNDDREISSIG

#5.1 | Wider die kulturelle Aneignung!

Elf Jahre – das ist schon eine lange Zeit! Vielleicht nicht so sehr im Schatten einer Burg zwischen dem Jahr 1000 und dem Jahr 1011, aber mein Leben zwischen 1968 und 1979, das war komplett anders geworden. Was??? – Eine unerträgliche Anmaßung. Ein beschämendes Beispiel kultureller Überheblichkeit! Wer behauptet, das Leben Anfang des elften Jahrhunderts hätte sich in elf Jahren viel weniger verändert als das Leben in elf Jahren der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, der sagt auch ‚Neger‘ und ‚Indianer‘ (hoffentlich wenigstens in der richtigen Zuordnung) und der (gar die!) findet es nicht mal schlimm, wenn eine nicht-jüdische Sängerin ein Mendelssohn-Lied singt, weil Mendelssohn doch zum protestantischen Glauben übergetreten war.

Bild links (Felix Mendelssohn): James Warren Childe/Wikimedia Commons, gemeinfrei/public domain | Foto/Repro rechts (‚The singing of the folk song‘ – Silvestro Lega, 1826–1895): http://www.mostrasilvestrolega.it/Galleria Nazionale d’Arte Moderna di Palazzo Pitti/Wikimedia Commons, gemeinfrei/public domain

Geht’s noch? Das ist doch für einsichtige Nachfahren, die sich gar nicht genug für alles, was auf der Welt schiefläuft, entschuldigen können, eine Steilvorlage. Die angezündete Synagoge, die geklaute Nofretete. Also gut, auch ich entschuldige mich: Der fiktive 22-jährige Norweger Olav musste im Jahr 1000 erleben, wie sein Land nach der Seeschlacht bei Svold zwischen Schweden und Dänemark aufgeteilt wurde und wie elf Jahre später die griechischen Bürger der Stadt Bari den Anführer der langobardischen Aufständischen Meles zwangen zu fliehen, um dann die Stadt an Basilios Mesardonites zu übergeben, der die byzantinische Herrschaft wiederherstellte. Hat Olav gar nicht mitbekommen? Kann er doch nichts für! Passiert ist vor tausend Jahren genauso viel wie heute, hat ohne Internet nur niemand gemerkt. Und rechthaberisch, wie ich bin, bleibe ich dabei: Für einen fränkischen Bauern um 1000 nach Christus hat sich im Allgemeinen innerhalb von elf Jahren nicht viel getan. Bis auf den Frondienst für den Wegebau, den Brand seines Heuschobers, dem Verkalben von drei seiner sechs Kühe, den vier Missernten, dem Tod seiner Frau und fünf seiner Kinder und der eindringlichen Osterpredigt des Benediktiner-Abtes im Jahr 1007 war eigentlich nichts los. Aber denen, die unser jetziges Leben nicht kannten, fiel das damals gar nicht so auf: Nichts zu lesen, alles zu glauben – das musste reichen. Fast wie heute. Zumindest bei den Bildungsfernen. Wenn sie AfD wählen, darf man auch mal unfreundlichere Vokabeln auf sie anwenden. Aber, Vorsicht! Hillary Clinton hat 2016 die Wahl verloren, nachdem sie Trump-Wähler als ‚basket of deplorables‘ bezeichnet hatte. Die Erbärmlichen krochen aus dem Korb und brachten sie zur Strecke.

Mein Geburtstag 1979 ist im Gegensatz zu dem von 1968 gut dokumentiert. Es war das dritte Mal, dass ich einen ‚Ganzjahresfilm‘ fabriziert hatte. Das Publikum ist immer irgendetwas zwischen belustigt, gelangweilt und entsetzt. Dank der fortschreitend schrilleren Gestaltung nimmt das Entsetzen bis zum letzten Film 1989 beständig zu, zumindest bei meinen Eltern. Aber entgehen ließen sie sich die Werke trotzdem nicht. Das hätte ich ihnen auch gar nicht erlaubt.

Alles, was mir zu Hause und auf meinen vielen Reisen filmbar erschien, wurde zwischen Neujahr und Silvester auf Super-8 verewigt, zusammengeschnitten, vertont und dann auf die Leinwand geworfen, geschleudert, gebannt. Im Format 4:3. Die Leinwand war ausladend, die Lautsprecher waren ergiebig, die Filme waren lang, die Zuschauer waren gut bedient. Gebannt war zumindest ich. Mein Publikum, jeweils zwei bis acht Willige, war hoffentlich wenigstens gespannt. Das also war übrig geblieben von meinen Ambitionen, Regie zu führen, nachdem die Münchner Filmhochschule keinen Wert darauf gelegt hatte, mich auszubilden. Geblieben war meine Erkenntnis: Interessant ist nicht das, was ist, sondern das, was man daraus macht. Was nicht kommentiert wird, ist nicht gelebt. Zumindest aus dem Blickwinkel der Unbeteiligten bzw. der Ewigkeit.

Video: Privatarchiv H. R.

36 Kommentare zu “#5.1 | Wider die kulturelle Aneignung!

  1. Wieder so ein Rinke-Satz, der quasi als Motto des Blogs funktionieren könnte. Was nicht kommentiert wird, ist nicht gelebt!

  2. Clintons „Deplorables“ waren ein riesiger Skandal. 2 Wahlen später spricht Trump von „Vermin“ und Immigrants that are „poisoning the blood of our country“. So einen richtigen Aufschrei gibt es aber nicht. Dazu ist das Land von all dem Tumult zu abgestumpft.

    1. Von Donald Trump erwartet man aber auch gar nichts anderes. Er startet seinen ersten Anlauf doch auch schon mit der Aussage, dass alle Mexikaner Vergewaltiger seien. Gewählt wurde er trotzdem.

    2. ich finde nach wie vor, dass hillary clinton eine ziemlich gute präsidentin gewesen wäre. man kann ja von ihr halten, was man will, aber sie ist im gegensatz zu vielen anderen amerikanischen politikern eine intelligente und erfahrene politikerin. wenn man dagegen sieht, was sonst im kongress passiert, von den interviews der beteiligten mal ganz zu schweigen, fällt man teilweise nur vom glauben ab.

      1. Hillary Clinton war einfach zu siegessicher. Stolz sollte man erst sein, wenn man es geschafft hat.

      2. Ich habe ein ähnliches Gefühl bei Joe Bidens aktueller Kampagne. Ich hoffe sehr, dass es im kommenden November kein böses Erwachen gibt.

      3. Naja, er liegt momentan in den Umfragen hinten. Da sollte man erwarten, dass die Chancen von seinem Team vorsichtiger eingeschätzt werden.

      4. Laut dem Wall Street Journal käme Trump auf 47%, Biden auf 43%. Es sind sehr düstere Aussichten.

      5. Sich verrückt zu machen, bringt nichts, aber sich überraschen zu lassen, auch nicht. Siehe Nord Stream 2.

  3. Nicht zu lesen kommt nicht in Frage. Nur bei den sozialen Netzwerken nehme ich mir gerne mal eine Pause. Zu viele Headlines, Meinungen und Kommentarspalten und mein Unfollow-Button brennt durch.

      1. Habe vorhin kurz mal reingeguckt bei X. Die Häme ist unvorstellbar. Wortekotzen scheint eine eingebürgerte Sportart zu sein.

      2. Elon nennt sie wohl X’s oder so ähnlich. Mit Apostroph, obwohl das wenig Sinn macht.

  4. Die Zeitspanne zwischen 22 und 33 scheint mir ein Abschnitt zu sein, in dem sich besonders viel verändert. Liegt das nur an meinen eigenen Erfahrungen? Es kann natürlich sein, dass jemand anderes ganz andere Erinnerungen an diese Zeit hat. Bei mir lagen zwischen diesen elf Jahren Welten.

    1. Man müsste sich vorstellen, wie so ein Ganzjahresfilm in heutigen Zeiten aussehen würde. Man hat seine Handykamera ja 24h am Tag zur Hand. Da würden sich die vierzehn Stunden Material sicher leicht vervielfältigen.

      1. Das ist das Problem. Ich bin damals sehr bedachsam vorgegangen. Heute wird wahllos alles mitgenommen. Das führt zu keinem brauchbaren Ergebnis. Wie bei den Informationen: die Masse liefert nicht wirklich mehr Erkenntnis.

      2. Man könnte ja fast sagen, dass das Gegenteil der Fall ist. Je mehr Informationen es gibt, desto schwieriger oder zumindest aufwendiger wird es sich da durch zu arbeiten.

  5. Oh bei jedem, der AfD wählt, darf man unfreundliche Vokabeln anwenden. Gerade in Deutschland sollte man es doch wirklich besser wissen.

    1. Überall sollte man so etwas besser wissen. Diese Versprechungen sind doch bei allen rechten Parteien ähnlich leicht zu durchschauen.

    2. Ungezogene Wähler zu beschimpfen, ist erst dann sinnvoll, wenn man Ihnen das Wahlrecht entzogen hat. Sonst bewirkt man das Gegenteil dessen, was einem lieb ist.

      1. Ich verstehe nur nie, was sich Protestwähler von ihrem Protest versprechen. Oder besser gesagt, mir ist es schwer verständlich, dass sie die Konsequenzen ihrer Wahl in Kauf nehmen, nur um der targierten Partei eins auszuwischen.

      2. Es ist ja immer die gleiche Leier, aber man muss sich trotzdem fragen, warum die Wähler AfD wählen und ihnen Alternativen anbieten. Alles andere funktioniert in einer Demokratie nicht.

      3. Es ist das unlösbare Problem der Demokratie, dass sie sich abwählen lassen kann.

      4. Nach wie vor denke ich, dass uns das hier nicht so schnell passieren wird. Aber irgendwann kann natürlich der Punkt kommen, an dem genau dieses Denken fatal wird. Man muss versuchen achtsam zu bleiben.

      1. Zu wissen, dass es dümmere und klügere Menschen als mich gibt, macht mir die Mitte sehr gemütlich.

  6. Ach ja, man muss sich als Nachfahre nicht immer für alles entschuldigen, was unsere Vorfahren verbockt haben. Man lernt teilweise schon durch die eigenen Eltern, wie unterschiedlich man das Leben lebt. Aber man muss sich auch nicht festkrallen. Wenn jemand Raubkunst als solche identifiziert, dan gibt man sie eben zurück. Wenn jemand kulturelle Aneignung, dann kann man das akzeptieren. Meine Oma ist im Karneval mit schwarz angemaltem Gesicht durch die Straßen gezogen. Dafür schäme ich mich nicht. Selbst tun, muss ich es trotzdem nicht.

    1. Die Verantwortung für die Taten der Vorfahren reicht ja bis zur Erbsünde wegen Evas Apfelbiss. Für mich völlig abwegig.
      Umso wichtiger, seine eigenen Entscheinungen vorurteilsfrei und umsichtig zu treffen.

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