Teilen:

0401
Europa im Kopf  —   8. Kapitel: Trentino/Alto Adige

#8.1 Erster Weltkrieg, letzter Versuch

Dann waren wir wieder im Trentino, noch am See, aber schon auf K.-u.-k.-Gebiet. Wenn die ‚Strada Statale 45bis‘ und das Navi den Autolenker von himmlischen Höhen hinabschicken nach Riva, dann muss er sich auf andrängende Touristenschwärme gefasst machen. Dem gilt es schnellstmöglich zu entkommen, und zwar nicht südlich nach Malcesine, wo selbst Goethe seit 1786 nicht mehr gewesen ist, sondern nördlich, die Passstraße hinauf Richtung oberes Etschtal, Italienisch: Alto Adige.

Foto: PeJo/shutterstock

Dort am Hang, wo man den See gerade noch sehen kann, liegt ‚Al Fortino‘, eines der letzten Bollwerke Österreich-Ungarns, bevor das Reich unterging, wie Reiche das nun mal so tun. Wenn das Essen dort nicht so gut wäre, müsste man trotzdem in diesem Turm Station machen. Das war nun wirklich der Abschluss für mich geschichtsversessenen Europäer. In diesen Gemäuern schmecke ich den Schweiß derer, die an etwas geglaubt und verloren haben. Am 23. Mai 1915 sagte Kaiser Franz Joseph in seinem Aufruf ‚An meine Völker‘: „Der König von Italien hat mir den Krieg erklärt. Ein Treubruch, dessengleichen die Geschichte nicht kennt …“ Ach, die Geschichte kennt noch viel mehr, aber weil die meisten sich nicht mit ihr beschäftigt haben, kann man ihnen alles einreden, und dass sie obendrein noch wählen dürfen, macht die Sache nicht besser. Machtgierige oder unfähige Potentaten zuzulassen, hilft erst recht nicht weiter. Das Wort ‚Selbstbestimmungsrecht‘ gab es damals noch nicht, aber warum musste bloß dieses Alpenfleckchen so dringend österreichisch oder so dringend italienisch sein, dass beide Parteien allmorgendlich ihren katholischen Herrgott anflehten, sie zu bevorzugen?! Uns kommen solche Konflikte heute doch absurd vor, nicht wahr? Aber wie europäisch sind wir wirklich zwischen Malmö und Malta, oder zwischen den Hooligans von Borussia Dortmund und denen von Schalke 04 (Luftlinie 25,64 km), während die aufeinander eindreschen?

Foto: Tero Vesalainen/shutterstock

Das Essen war gut und wurde in stilisiertem Frontgeschirr gereicht. Die Portionen waren so groß, dass keiner sie schaffte. Das rehabilitierte meinen höchstens halbleeren, eher halbvollen Teller angenehm.

Je näher wir Südtirol kamen, desto trüber wurde das Wetter, nicht aber meine Laune: Wenn alles zu Ende ist, muss es regnen; Sonne stört da nur und wirkt prätentiös und pietätlos.

Zusammenfassung? Lust und Frust im August!

Foto oben: gab90/shutterstock | Foto links: PK Studio/shutterstock | Foto rechts: stocksnapper/shutterstock

Ich schweife ja immer ab in die entferntere Vergangenheit: die selbst erlebte, die erzählte und die erlesene. Wer meine Berichte verfolgt, weiß das und erträgt oder mag es sogar. Jetzt, kurz vor Schluss, möchte ich ein bisschen aus der Zeit vor zwanzig Jahren einfügen, aus der ich sonst kaum zitiere. Da war ich ohne Beruf, immer noch in Trauer um Roland, und ich schrieb weiterhin unermüdlich an meinen Freund Pali. Reisen tat ich im Vergleich zu den Jahrzehnten davor wenig, lange Zeit verbrachte ich in Meran, und so finde ich es an dieser Stelle sinnvoll, eine Portion Südtirol aufzutischen, wie es mir damals schmeckte. Dass es dabei wie üblich wieder tief in die Kindheit geht, kann als Stilmittel aufgefasst werden, dann rutscht es besser. Pali musste die Ganzfassung verdauen. Hier gibt es bloß ein Zwischengericht, ein ziemlich umfangreiches übrigens, das ich überwiegend mit meinen Meran-Überbleibseln illustriere, damit die Textmenge nicht allzu sehr abschreckt. Die Bilder wurden in den Jahren 1965 und 1969 mit meiner preisgünstigen Instamatic-Kamera aufgenommen. Wenn ich selber drauf bin, hat ’65 mein Vater belichtet, ’69 hat Harald geknipst. Aus einem meiner ‚Jahresfilme‘ habe ich Schnappschüsse eingestreut, und jetzt geht es los:

Foto: unsplash

Auszug aus einem Brief an Pali, September 1997:

Erst dachte ich: ‚wozu?‘ Dann dachte ich: ‚Versuchen muss ich es zumindest!‘ Und dann war es also so weit: Ich setzte meinen Badezimmerfarn aus wie ein Meerschweinchen vor den großen Ferien. Meine Kontaktlinsen ließ ich im Hängeschrank. Gibt es etwas Resignativeres als zu verreisen und seine Kontaktlinsen zu Hause zu lassen, statt auf Küsse zu hoffen, bei denen die Brille stören würde? Aus gelangweilter Ratlosigkeit habe ich mich, als alles gepackt, Geschirr abgewaschen und Leerflaschen weggebracht waren, gegen zwanzig vor acht gebadet, das ersparte es mir, mich im Schlafwagen waschen zu müssen, was ich sowieso nicht getan hätte, und dennoch war es ein positiver Akt, der zumindest meinem Resthaar so weit aufhalf, als sehnte ich mich doch nach der Schönmache der Kontaktlinsen zurück.

Foto links: Evgeniya Grande/shutterstock, Foto rechts: Kichigin/shutterstock, Foto unten: Gyorgy Barna/shutterstock

Na ja, in Meran wird das Baden ja auch immer so rationiert wie im Krieg die Butter. Zwar habe ich dort eine richtige Wohnung für mich, aber immer muss ich befürchten, mein Vater könnte vorbeikommen und mich beim Wassereinlassen ertappen. Alles was über das Bedecken des Wannenbodens hinausgeht, hält er für Verschwendung.

Foto links: ShyLama Productions/shutterstock | Foto rechts: nito/shutterstock

Weil wir zu spät gebucht hatten, gab es keine zwei Abteile mit Zwischentür mehr für uns, und es musste das Problem gelöst werden: Wer schläft allein – wer schläft im Zweierabteil? Irene hatte dazu die dezidierteste Meinung: Guntram braucht seine Ruhe, und so kam er ins Single, wir ins Doppel.

Foto: Lyu Hu/shutterstock

Am nächsten Morgen geleitete ich meine Eltern durchs trübe Bayern und noch trübere Österreich ins sonnige Südtirol, und um halb zwei saßen wir im Innenhof der ‚FORST‘-Brauerei, von mir ‚Birra Forst‘ getauft, mit kurzen Ärmeln am Rande der wuchtigen Kastanienbäume, die ihre Früchte von Zeit zu Zeit mit großem Gepolter auf die Teller der unter ihnen Weilenden hinabfallen ließen. Das Aufschreien der Be- oder Getroffenen und das Juchzen der Schadenfrohen vereinigte sich zu einer sehr deutschen Mischung.

Foto links: Alewtincka/shutterstock | Foto rechts: H. R./Privatarchiv

Die verschwitzten, alten Kellner, die dunkelgrauen Zementsäulen, die vielfach unterteilten breiten Bogenfenster, der Hofbräuhausgeruch, das Bratwurstpublikum, die grünen Gartenstühle und die in weiß-grün-karierte Papierservietten eingewickelten Bestecke, die einem nach der Bestellung auf den Tisch geworfen werden – ich kenne und liebe das schon so lange: 1965 mit Guntram und Irene, 1967 mit Harald und Hans-Dieter, 1969 mit Harald, 1978 mit Harald und Roland und dann immer wieder, Ma(h)l um Ma(h)l.

Ich bestellte gleich Spanferkel, es ist meist zäh und schwimmt in Unmengen dicklicher Tunke, deren Herkunft keinesfalls der Schmortopf, sondern nur die ‚Maggi‘-Fabrik sein kann.

Foto: H. R./Privatarchiv

Ich mag nun mal den leicht süßlichen Geschmack von Schweineleichen, noch mehr mag ich den strengeren Geschmack des Kuhkadavers, aber am liebsten ist mir die herbe Anmutung von Schaf, dessen Geschmack bei keinem Bissen vergessen lässt, dass man auf einem einstigen Lebewesen kaut.

Fotos (2): H. R./Privatarchiv

Irene hatte sich auf die ‚Zuppa inglese‘ gefreut, aber die gab es nicht mehr. Die einzige, alte Köchin, die das Rezept umsetzen konnte, war in Rente gegangen. „Ich komme mir ganz albern und altmodisch vor, wenn ich es schon wieder sage“, sagte Irene, „aber alles wird immer schlechter.“

Fotos (2): H. R./Privatarchiv

Als ich mir – wegen des so gut wie unverdaulichen Krautsalats – den zweiten Birnengeist bestellte und Irene über ihrem Semmelknödel schon nervös wurde, sagte Guntram: „Du machst es ganz richtig: Du trinkst drauflos – sich so lange am Leben zu halten wie ich …“ Seither nimmt er morgens Sahne statt Milch zum Tee.

Foto links: Civil/shutterstock | Foto rechts: Christian Jung/shutterstock | Foto unten: Africa Studios/shutterstock

Wenn es wirklich so wäre, dass später nichts mehr kommt, dann wäre ja tatsächlich jeder Schluck Wein, den ich nicht getrunken habe, bevor ich Sodbrennen bekam, ärgerlich, und nur jene dem Bettler in den Hut geworfene Mark machte Sinn, die mich um meiner Güte willen so sehr gefreut hat, dass sie im Hut besser angelegt war als in Schuldverschreibungen.

Foto links: Africa Studio/shutterstock | Foto rechts: Franxucc/shutterstock

Glücklicherweise bin ich berechnend genug, um einzukalkulieren, dass solche Projektionen bestenfalls einen in die Irre leitenden Wegweiser durch das Gestrüpp der Theorie darstellen. So weißt du, Pali, ja besser als ich, dass ich mich in der Praxis redlich bemühe, wahlweise auch mal den vor keiner Albernheit zurückschreckenden, aus dem Blitz der Sekunde geborenen Übermut oder die opferlose Entsagung zu meinen Gefährten zu machen: aus dem Verschmachten die Lust des Durstes saugen, aus dem Trinken den Rausch der Sinne.

Fotos (2): H. R./Privatarchiv

„Das Bier ist gut hier, nicht?“, sagte Guntram. „Ja“, sagte Irene und nahm auch noch einen Schluck, nicht um ihre Bestätigung zu prüfen, sondern um den Genuss zu wiederholen. „Vom Fass ist es immer weniger bitter als aus der Flasche“, sagte Guntram kenntnisreich.

Zwei Tische weiter knallte eine Kastanie auf die Decke. Ja, so geht das mit lauschigen Plätzchen. Wir saßen direkt an der Wand, über uns der nackte Himmel, neben uns der Torbogen mit dem Lautsprecher, aus dem leise, aber durchdringend ‚Rote Lippen muss man küssen, denn zum Küssen sind sie da‘ schepperte.

Fotos (3): H. R./Privatarchiv

23 Kommentare zu “#8.1 Erster Weltkrieg, letzter Versuch

  1. Gibt es etwas Resignativeres als zu verreisen und seine Kontaktlinsen zu Hause zu lassen?! Manchmal gehe ich morgens aus dem Haus und frage mich ob der Tag leicjter zu schaffen wäre wenn ich meine Brille einfach zuhaus lasse…

      1. Siehe Merkel. Es gibt bestimmt keinen beliebteren oder erfolgreicheren Politiker(in), der zaghafter und abwartender agiert hat. Entscheidungen erst zu dem Zeitpunkt fällen, wo es gar nicht mehr anders geht, ist auch eine durchaus erfolgreiche Methode.

  2. Fleischesser, die sich bewusst sind, dass sie Tierleichen essen, sind mir weitaus sympathischer als die, die beim Anblick einer Schlachterei gleich das Gesicht verziehen. Wenn schon, denn schon.

      1. Der Brief ist 21 Jahre alt. Der Mensch ist als Allesfresser angelegt. Als Aasfresser bevorzugt er Gewärmtes und Gewürztes. Im Gegensatz zum Löwen kann er sich entscheiden, aus ethischen Gründen auf Fleisch zu verzichten wie aufs Rauchen der Gesundheit zuliebe. Wo hört der Spaß auf? Wo fängt die Verantwortung an? Die Grünen sind mal an einem „Vegitag“ gescheitert. Bei Gutfried gibt es Vegie-Fleischwurst. Angebot und Nachfrage bestimmen im Kapitalismus.

      1. Das verantwortungsvolle sowohl-als-auch ist doch immer der beste Weg, nicht? Und dann am besten regional und saisonal. Denn was hat denn die Welt davon wenn in Königslutter am Elm jeder Quinoa isst und Sojamilch trinkt?

      2. Ganz genau. Ich wundere mich auch immer wie man Sojawürstchen als gesund einstufen kann. Viele Veganer lassen sich mehr vom Trend leiten als vom Verstand.

  3. Drauflos trinken klingt vollkommen richtig. Wofür soll man sich zurück halten? Was nützt einem das Leben wenn man nicht Vollgas gibt?

    1. Die Kalkulation muss jeder selbst machen. Wer in die vollen lebt und mit 30 stirbt hat mitunter weniger erlebt als der, der sich ein bischen zurückhält und 60 wird.

      1. 1975 sang André Heller: „Die wahren Abenteuer sind im Kopf.“
        Der eine langweit seine Umgebung mit öden Berichten von einer Safari, der andere erzählt vom Einkauf im Supermarkt und alle liegen am Boden vor Lachen. „Live fast die young“ – Janis Joplin hat es geschafft. Nachahmenswert ist das nicht.

      2. Und wer es dann noch schafft die Abenteuer aus seinem Kopf zumindest ein bischen in die öde Welt zu verlagern, gehört zu den glücklicheren Menschen.

  4. Ich finde es wunderbar, dass Sie Ihren Brief mit uns teilen. Habe selbst eine große Sammlung vergangener Briefwechsel, nur habe ich meinen Teil nie selbst aufbewahrt.

    1. Das Problem mit der heutigen Kommunikation ist, dass sie zu einfach ist. Eine SMS schickt man in 5 Sekunden. Selbst wenn man wollte und könnte, die lohnt sich dann in der Regel nach 30 Jahren nicht noch einmal zu lesen.

    2. Zum Geburtstag schreiben meine Mutter und ich uns gegenseitig immer lange Briefe. Eine Glückwunschkarte schien uns immer zu kurz. Wir nutzen dann immer die Gelegenheit das vergangene Jahr zu reflektieren und nach vorn zu blicken. Für den anderen, allerdings aus dem eigenen Blickwinkel. Es ist eigentlich immer das größte Geschenk, da es so sehr berührt.

  5. Aprospos „alles wird immer schlechter“ – zur Zeit Deines Briefes an Pali war Europa noch ein ernstgenommenes Gesamtprojekt: Ökonomie, Ökologie, Kultur, Frieden, Demokratie. Ich empfehle das Buch des ehemaligen Verfassungsrichters Dieter Grimm, „Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie“, erschienen 2016 bei C.H. Beck in München.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

zwei × fünf =