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Geschichte

Null

Die Erfindung der Null ist fast so bedeutsam wie die Erfindung des Rades, besonders für das Binärsystem.

Sicher, schon im analogen Zeitalter war es zutiefst menschlich gewesen, bis drei zu zählen, falls man das konnte, bis sieben für die Wochentage, dann bis zehn, und dann sogar noch weiter, wobei sich die Zehn vor Erfindung des Dezimalsystems von der Neun und von der Elf noch nicht um die damals unbekannte Null hinter der Eins unterschied, in der römischen Schreibweise schon gar nicht, weil die ja so aussieht:

Darum wurden dem Zählenden bei ‚zehn‘ zunächst nicht gleich Jahrzehnte oder Jahrmillionen bewusst, weil er doch diese ganzen Nullen hinter der Eins nicht erahnte. Trotzdem konnten unsere Vorvorfahren nun bereits sagen, also denken: „Du hast vier (Frauen, Männer, Steinäxte, Höhlenbilder), ich habe fünf. Ich bin mehr wert als du, diene mir!“ Oder: „Ich habe nur vier, du hast fünf, gib mir zur Entschädigung zwei ab, sonst rotte ich dich aus!“

Aber erst die Null – wer die denken kann, der kann auch ‚unendlich‘ denken, eben abstrakt. Es war ein jahrtausendeweiter Weg von der Eins bis zur Null, nicht nur so knapp wie vom ersten Fernsprecher bis zum neuesten Smartphone. Alles beginnt mit Eins. Was davor liegt, ist null. Aber was liegt davor? Raketen starten (oder versagen) bei ‚Zero‘. Dass da vorher viel passiert ist, weiß man. Der Urknall leitete das erste Jahr der Weltgeschichte ein. Was vorher war, weiß man nicht so richtig: unendlich viele Jahre Null in gespannter Erwartung, während derer Gott sich intensiv auf die sechs Schöpfungstage vorbereitete? Später schickte er ja noch seinen Sohn, und das, wie es sich für Gott gehört, auf recht ungewöhnliche Weise, aber wann?

Foto links: 123dartist/Shutterstock | Foto rechts: igorstevanovic/shutterstock

Das Jahr 1 vor Christi Geburt endete am 31. Dezember (1 v. Chr.). Schon gleich am 1. Januar begann dann das Jahr 1 nach Christi Geburt. Die Null schlummerte nämlich noch unentdeckt vor sich hin, wenn auch kürzer als das Gravitationsgesetz und die Relativitätstheorie. Sie, die Null, wurde in Indien aufgespürt und im Abendland erst um das Jahr 1000 (mit drei Nullen) von Gerbert von Aurillac aufgegriffen und eingesperrt zwischen der -1 (die gab’s schon), und der (seit es minus gab) +1.

Jesus wurde in der zweiten Jahreshälfte des Jahres zwei vor Christus geboren, wissen Historiker. Wenn nun wirklich die Geburtsstunde die Stunde Null wäre, dann würden die vorangegangenen neun Monate nicht zählen, man könnte also leichten Herzens abtreiben, was in vielen Fällen für den Betreffenden, in einigen Fällen auch für die Zeitgenossen durchaus wünschenswert wäre. Weil man vorher aber nicht so genau weiß, dass da bald Adolfchen Hitler oder Anders Behring Breivik das gleißende Licht des Kreißsaals erblicken wird, wird diese frühzeitige Selbstverteidigung späterer Opfer (einschließlich Eltern) in den meisten Kulturkreisen abgelehnt.

Foto links: chanus/Shutterstock | Foto rechts: Privatarchiv H. R.

So kommt der Mensch also mit null, aber gengeprägt, auf die Welt, steigt auf bis etwa vierzig und tendiert danach immer unausweichlicher wieder gegen null. Der Kinderglaube, dass die liebe Großmutter, wenn sie gestorben ist, von oben runterguckt und ganz sehnsüchtig auf den nicht ganz so sehnsüchtigen Enkel wartet, ist bereits durch die Bibel widerlegt: Oma steht erst beim Jüngsten Gericht wieder auf, um sich, wie der Name schon sagt, richten zu lassen.

Weniger aussichtsreich formuliert es das Alte Testament: Im uns geläufigeren Latein heißt das dann nach dem ersten Buch Mose (Kapitel 3, Vers 19): „Memento homo, quai es ex pulvere et in pulverem revertesit!“ Ist mit ‚Staub‘, aus dem wir angeblich sind und zu dem wir wieder werden, womöglich ‚Null‘ gemeint, ein Begriff, den es ja damals noch nicht gab? Käme hin: Die Null ist die Anzahl von Elementen in einer leeren Ansammlung von Objekten – das klingt für die Gemeinschaft der Toten nicht sehr erstrebenswert, aber immer noch besser als die Hölle.

Zu Lebzeiten ist es sogar noch wahrscheinlicher, als Null bezeichnet zu werden, als hinterher. Mein Vater, der ein hervorragender Geschäftsmann war, äußerte mehrfach, dass er im Berufsleben die Anrede: „Sie Null!“ als ausgesprochen ehrenrührig empfand. Niemand will eine Zahl sein, schon gar nicht eine Null, aber Erster zu sein, gefällt (außer bei der Hinrichtung) jedem. Das Mittelfeld kann sich dagegen nicht mal damit trösten, dass laut Matthäus (19,30) die Ersten die Letzten sein werden. Na ja, Mitte ist zwar sehr ausgeglichen, aber doch etwas fad. Wir streben nun mal nach mehr, es sei denn, wir sind ein Null-Bock-Typ.

Ach, manchen Menschen gelingt einfach alles – oder zumindest das, was ihnen lebenswichtig erscheint, ganz gleich, ob sie nun erfolgreich, reich oder gläubige Christen sein wollen. Andere Menschen nullen sich gerade mal so durchs Leben. Diese Subjekte sind in den Augen derer, die es wissen müssen, ausgesprochen nullig. Nicht nur hauptschulabschlusslose Migrantenkinder sind nullig, sondern gerade auch dünkelhafte Nachkommen von Würden- und Bedenkenträgern, es sei denn, sie sind erfolgreich, reich oder gläubig, falls das ihr Lebenszweck ist, was aber die, die es wissen müssen, nicht wissen können.

Foto links: Von NiglayNik/Shutterstock | Billion Photos/Shutterstock

Ja, die einen fordern sich oder ihren Mitarbeitern das Äußerste ab, mit null Toleranz gegenüber Gelassenheit (auch Faulheit genannt). Schon mein Klassenlehrer Herr Doktor Reinicke, von dem ich in der Unterstufe des Gymnasiums mehr Ohrfeigen bekam als von Irena während ihrer gesamten Laufbahn als meine Mutter, verkündete vor der Rückgabe von Klassenarbeitsheften in dräuendem Ton: „Müßiggang ist aller Laster Anfang und der direkte Weg zum Galgen.“

Wir mussten den unheilschwangeren Satz mehr oder weniger gottesfürchtig nachsprechen, erst dann gab es die zensierten Aufsätze zurück.

Die anderen tendieren schicksalhaft – blöd oder bewusst – gegen null.

Müßiggang war in undemokratischen Zeiten ein Vorrecht von Adel und Klerus, für Sklaven und Lohnabhängige nicht vorgesehen. Noch früher wurde gejagt, geackert oder … also, was taten die Leute eigentlich in ihrer Freizeit, bevor es Gladiatorenkämpfe und Computerspiele gab?

Heute ist Nichtstun kein Privileg mehr. Hartz IV oder gut geerbt: „Null Problemo“, wie kein Evangelist, sondern Alf in der deutschen Synchronisation der gleichnamigen Sitcom sagt. Doch leider: Alles ist ein Problem. Man muss es nur dazu machen.

Bei null Grad Celsius schmilzt oder entsteht Eis, je nachdem. Bei Fahrenheit ist das viel komplizierter, da ändert das Wasser den Aggregatzustand bei 32°.

Beim Roulette ist die Null ein Reinfall für alle – außer für die Bank (fast wie beim Euro). Doch auch unserem Finanzminister Scholz macht die schwarze Null mehr Freude als anderen Kontoinhabern.

Die griechische Regierung dagegen würde nach einem Schuldenschnitt sehr gern wieder bei null anfangen. Beim Skat kann der Spieler den ‚Null‘ sogar gewinnen. Glück und Geschick gepaart, so, wie es die Evolution vormacht: Pinguin in den Tropen stirbt außerhalb der Zoos aus. Papagei im Iglu kann überleben.

Breitengrad 0 ist einfach: der Äquator. Längengrad 0 ist die Mittelachse eines Teleskops des Observatoriums in Greenwich, also wie so viele Nullpunkte zwischen Leben und Tod willkürlich festgelegt: Irgendwo muss man ja anfangen, in der Philosophie und erst recht in der Vermessung.

Und irgendwann muss man wieder aufhören. Dass man die genaue Mitte nicht bestimmen kann, weil man den Schlusspunkt nicht kennt, steht einer geordneten Lebensplanung im Wege. Andernfalls hätte Leopold Mozart seinem Sohn 1774 sagen können: „Komponier mal etwas g‘schwinder, Wolferl, die Hälfte deines Lebens ist itzo um.“

Die einen bereiten sich ihr ganzes Leben lang auf diesen letzten Augenblick vor und schaffen bis dahin Längerfristiges wie Kinder oder Steingärten, die anderen lassen das Ende auf sich zukommen, gefasst darauf, das Unfassbare über sich ergehen zu lassen. Und dann? Vielleicht sind ‚null‘ und ‚unendlich‘ ja dasselbe.

Foto: Oxygen64/Shutterstock

14 Kommentare zu “Null

  1. So viel Null war lange nicht. Ich hätte gerne ein paar davon auf meinem Konto. Hinter dem bereits vorhandenen Betrag wohlgemerkt.

  2. Und wer Null noch nicht durch Null geteilt hat, sollte dringend mal Siri um Rat fragen 😉 Ist ja mittlerweile schon fast ein Klassiker…

    1. „Stell dir vor, du hast Null Kekse und verteilst die gleichmäßig auf null Freunde. Wie viele Kekse bekommt jeder? Siehst du, das macht keinen Sinn. Und das Krümelmonster ist traurig, weil es keine Kekse mehr gibt und du bist traurig, weil du keine Freunde hast.“ Hahahahahaha

  3. Gerade gefunden: Unsere Ziffer 0 (Null) ist schon ziemlich alt, sie stammt aus dem zweiten Jahrhundert vor Christus. In mathematischen oder astronomischen Texten aus Griechenland findet sie sich als kreisförmiges Lückenzeichen – das ist gleichsam die Urahnin unserer Null.

  4. Bei so viel Wortwitz auf einer einzigen Seite kann ich wohl nicht mehr mithalten. Aber vielen Dank für die interessanten Zusammenhänge.

  5. In dem Zusammenhang kann ich dem passionierten Theaterbesucher übrigens Herbert Fritschs neuen Abend „Null“ an der Berliner Schaubühne ans Herz legen.

    1. Oh war der nicht bisher an der so leidenschaftlich umkämpften Volksbühne? Ich hinke immer ein bischen hinterher…

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