Teilen:

2809
4. Berlin-Reise / 2008

#4.02 | Weihnachtsland im Mai

Die Bäume am Leipziger Platz sind noch zu schmächtig, und es gibt nur ein einziges Café, aber immerhin: Das Achteck ist schon klar konturiert, und die Idee, das fertige Gebäude auf die Planen vor den Baugerüsten zu malen, ersetzt die Wirklichkeit, ohne dass man die wahren Bauten, die man ja sowieso nicht betreten hätte, vermisst. Nun kann man vom Potsdamer Platz aus zur Friedrichstraße oder zum Brandenburger Tor laufen, und es kommt einem nicht mehr alles wie Großbaustelle vor. Natürlich sind die Befürworter des Unfertigen in der Überzahl, sie beklagen verständlicherweise das Vollendete, an dem nichts mehr abzuleisten ist, aber genau da schlägt bei mir ein Hausfrauenherz: Ich habe es gern ordentlich. Auch an der Spree entlangzugehen, ist jetzt ein Vergnügen, besonders wenn man, wie ich früher, die Strecke zwischen Bahnhof Friedrichstraße und Friedrich-Ebert-Palais zum ‚Volkseigenen Betrieb Deutsche Schallplatten‘ zwischen 1976 und 1989 durch Dreck und Trümmer zurücklegen musste und jenseits des Palais erst die Mauer und dann den verkohlten Reichstag sah. Ja, wer das Elend nicht kennt, hat weniger Freude am Genuss. So ist das nun mal. Silke wollte ein Eis, ich was Spritzigeres. Wir befanden uns in einer Körperhaltung, für die es keinen Ausdruck gibt, in einer hollywoodschaukelähnlichen Sitzliege-Gelegenheit auf üppigen Kissen. Vor uns lagen Leute und die Spree. Die Museumsinsel sah schon ziemlich nach Weltkulturerbe aus und das Publikum um uns her nach Studenten ohne BAföG-Probleme. Ein Ampelmann-Segel flatterte im Wind, und auch auf allen Kissen, Liegestühlen und Sonnenschirmen war das Ampelmännchen aufgedruckt: mal rot stehend, mal grün gehend, aber immer mit Erich-Honecker-Hut. Silke, die eine Schwäche für Corporate Identity hat, drängte mich zum Ampelmann-Shop, der unweit des Lokals in den Hackeschen Höfen alles feilbietet, was nur irgendwie mit Ampelmännern zu schmücken ist: Dosen, Tassen, Servietten, Flaschenöffner. Im Grunde kann man so jeden Gegenstand nehmen, bepflastern und verkaufen, und weil der Ampelmann die Passanten inzwischen auch im Westen Berlins dazu einlädt oder daran hindert, die Straße zu überqueren, hat die spießige Requisite nicht mal mehr etwas mit Ostalgie zu tun. Oder doch? Ein T-Shirt mit Aufdruck ‚DDR‘ trägt heute auch schon ein FDP-Wähler unter dem Seidensakko. Wo alles Spaß ist, ist alles beliebig – aber wer wünscht sich deshalb die Stasi zurück, um für Gesinnung zu sorgen?

Am Abend trafen wir Ilse Biberti im Restaurant gegenüber unserem Hotel. Wir saßen gut gelaunt draußen und redeten über alles, was uns sagenswert erschien. Dabei ging es besonders um ihren neuen Film und das aufregende Casting, weniger um Altenbetreuung, und das war gut so. Schwarz-Weiß stand ihr. Es passt zu den Schattierungen ihrer Seele. Lebensfreude und Tapferkeit – angeboren oder erlernbar?

Für Donnerstag hatte ich Potsdam als Ausflugsziel auserkoren. Ein Maitag, schön genug, um draußen zu sein, aber noch nicht so massenverdächtig wie das Wochenende. Tatsächlich störte am Cecilienhof eine französische Gruppe nicht weiter, zumal Sprache besonders nett ist, wenn man sie nicht gut versteht, selbst wenn das unserem Stiftungsgedanken widerspricht. Jedenfalls ist eine diskrete Geräuschkulisse für jede Touristenattraktion unerlässlich, sonst könnte man ja gleich zu Hause bleiben.
Den weitläufigen Park mit seinen verschlungenen Pfaden durchstreiften wir orientierungslos, besonders während wir über den Jungfernsee blickten, ich aber glaubte, es handle sich um den Heiligensee, sodass Silke mich fortwährend fragte, welches denn nun die Villen von Joop und von Jauch seien. Ansonsten war sie überwiegend mit einem Stich beschäftigt, den eine Mücke ihrer Stirn zugefügt hatte und dessen Schwellung der Stelle an ihrer Wade ernsthafte Konkurrenz machte, die nach einem lustigen, kleinen Biss von mir praktisch nicht mehr zu sehen war. Ich hatte die Zähne am Pfingstmontagnachmittag fast gar nicht in ihr Fleisch gedrückt, aber am Dienstag behauptete Silke, die Bisswunde sei rot, am Mittwoch schien sie ihr blau, und heute zog sie den Strumpf herunter und glaubte ihre Haut grün. Da bot der Mückenstich eine willkommene Abwechslung von dem normalen Verlauf eines – wenn auch eingebildeten – Blutergusses. „Es juckt nicht mehr, nicht?“, fragte ich gierig, und Silke antwortete bereitwillig: „O doch, und wie!“ So lenkte ich davon ab, dass ich überhaupt keine Ahnung hatte, wie wir jemals aus dem menschenleeren, sehr schön gelegenen Gelände herausgelangen sollten.

Irgendwann sah ich in der Ferne wieder den Cecilienhof mit seiner charakteristischen Tudor-Architektur, sodass ich es schaffte, zu der nicht allzu weit entfernten Mauer vorzustoßen, hinter der sich Silkes Wagen befand. Wir liefen, beeinträchtigt durch eine riesige Baustelle, so gut es ging, neben der Mauer her, wenn auch in verkehrter Richtung. Trotzdem fanden wir einen Ausweg und wenig später Silkes in der Sonne reflektierenden BMW. Eigentlich könnten wir die Strecke zum Pfingstberg zu Fuß bewältigen, fand ich anhand meiner Karte. Silke fand das nicht und hatte recht. Ich hatte die Entfernung erheblich unterschätzt. Wir hielten auf dem Parkplatz des Restaurants, und weil widerrechtlich Parkende mit Abschleppen bedroht wurden, rannten wir hastig auf die Terrasse des Ausflugslokals, das nicht aussah, als hätte es sich seit DDR-Zeiten grundlegender Veränderungen unterwerfen müssen. Meine Cousine Marina hatte den Blick von hier aus gepriesen, und wirklich nahm ich zwischen den zahlreichen Sträuchern hügelabwärts die Dächer etlicher Schrebergartenhäuser wahr. Doch blieb es uns versagt, am Rande dieser Pracht Platz zu nehmen. Der eine Tisch war schon mit ausgelassenen älteren Herrschaften besetzt, der andere war reserviert. Aber in der zweiten Reihe war es auch sehr hübsch, zumal man ja beim Essen auf seinen Teller gucken soll. Silke hatte für ihre Bestellung ein besonderes Lob parat: „Mit Verlaub, ich habe noch nie so ausdruckslos schmeckenden Spargel gegessen.“ Ich wollte das nicht steigern, obwohl ich es gekonnt hätte: Silke kennt dank ihrer noblen Herkunft kein Dosengemüse.

„Wir waren noch nie auf den Osterinseln, aber jetzt sind wir auf dem Pfingstberg“, plauderte ich, wie das so meine Art ist, wenn ich den Wein zu spüren beginne.
„Gibt es ein Weihnachtsland?“, fragte Silke. Sie geht immer auf mich ein, bei allem.
„Pfingsten ist doch das schönste Fest“, wurde ich theologisch. „An die jungfräuliche Geburt Jesu an Heiligabend kann ich nicht glauben. Dass Gott ein Stück seiner selbst zum Festnageln auf die Welt geschickt hat, damit er zu Ostern den Menschen, die er vermurkst hat, ihre angeblich freie Willensentscheidung verzeihen kann, mag ich nicht glauben. Weihnachten und Auferstehung: tröstliche, aber unwahrscheinliche Botschaften. Pfingsten – die Zurücknahme der babylonischen Sprachverwirrung, alle reden mit einer Zunge: Das ist eine Verheißung, die mir gefällt. Alles wird so gesagt, wie es gemeint ist, und wir verstehen einander.“

Dazu gibt es nicht viel zu erwidern, und Silke weiß, dass es mir bei meinem Gegenüber mehr ums Zuhören als ums Antworten geht.
Am ehemals reservierten und jetzt besetzten Nebentisch sprachen die Leute mal Englisch, mal Deutsch. Silke konzentrierte sich darauf, herauszufinden, welche der Eisbeinesser Ausländer waren. Sie liebt Sprachen und beurteilt Menschen danach, wie sie sich ausdrücken. Silke unterhält sich gern in Holländisch, Französisch, Englisch und Deutsch, das Thema ist nicht so wichtig. Worte sind Waffen. Der richtige Satz lässt Herzen schmelzen, der verkehrte kann das Leben kosten.

26 Kommentare zu “#4.02 | Weihnachtsland im Mai

  1. Nun ist der Leipziger Platz wohl fertig und die schlimmsten Befürchtungen sind wahr geworden. Man will genauso wenig hin wie zum Potsdamer Platz gleich daneben.

  2. Aber es fährt sich netter dran vorbei als an der Brache vorher. Und das Oktogon ist wiederhergestellt. Ein bisschen Boulevar-Atmosphäre wäre natürlich hübsch gewesen …

      1. Das Angebot dort ist in der Tat völlig verzichtbar. Da kann man bei Amazon bleiben. Und die ‚aufregenden Toppings‘ des ‚Frittenwerks‘ brauche ich alter, weißer, (noch) zahlungsfähiger Mann auch nicht.

      2. Den Trend verstehe ich auch nicht. Auf der Friedrichstraße gibt es auch solch eine Pommesbude, die anscheinend ungemein populär ist.

  3. Potsdam muss ich beim nächste. Berlinbesuch auch unbedingt mal einplanen. Bisher habe ich das nie geschafft. Für einen langen Spaziergang soll es sich ja doch lohnen.

      1. Der Blick von der Terrasse über den Park hinweg auf einen monströsen Plattenbau – den würde ich Putin erlauben abzubomben, statt woanders Unheil anzurichten.

      2. Ja man schaut schon lieber auf Sanssouci als von Sanssouci auf die Umgebung. Aber so ist’s doch häufig.

      1. Dafür freut sich der ein oder andere witzig aufgelegte Touri. Man kann ja nicht alles haben.

      2. Wer da sentimental wird, dem ist wahrlich nicht zu helfen. Wer die DDR einfach „cool“ findet … dem sicher auch nicht.

      1. Von meinen Eltern habe ich mir immer anhören müssen, wie trostlos schwarze Kleidung doch ist. Schön, dass jemand auch mal das Gegenteil behauptet.

      2. Und der Schwarze Peter freut sich ebenso wenig darüber, dass man ihn möglicherweise für besonders lebensfroh hält.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

sechzehn + 12 =