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0510
4. Berlin-Reise / 2008

#4.05 | Verblüht

Am Abend hatten wir Pech. Es fing an zu regnen, und der Spaziergang vom Gendarmenmarkt zum Alexanderplatz, der ohnehin über städtebaulich heikles Terrain führt, bereitete Silke die Qual, feucht zu werden. Ich kaufte einen ganz drolligen Schirm mit Berlin-Ansichten, der es Silke gestattete, ihren eigenen Schirm allein zu benutzen, und ihr rechter Ärmel und mein linker Ärmel wurden nicht länger durchnässt. Wir nahmen noch die U-Bahn bis Rosenthaler Platz, aber dann doch lieber eine Taxe, weil wir weder wussten, wo nun genau in der näheren Umgebung die Linienstraße war, noch gar deren haushohe Nummer 154.

Auf dem Tisch stand eine bombastische Torte, sonst war es eher leer. Andys Vernissage. Aufreizende Frauen, die aber bei aller sexuellen Eindeutigkeit eher unterwürfig daherkommen: Das sind seine handkolorierten Fotos. Er selbst stand milde lodernd mit hagerem Gesicht und grauem Vollbart zwischen seinen Exponaten und der schütteren Besucherschar, und zum ersten Mal nahm ich ihm diese Bilder ab. Ich hätte mir eines seiner Modelle im gelbgelben Rapsfeld gewünscht: blond, mit blutigem Haar. Silke wollte etwas Scharfes, Mexikanisches, und weil alle Kinos am Potsdamer Platz bereits zeitgleich ihre Vorstellungen begonnen hatten, aß sie am Olivaer Platz nachgewürzte Enchiladas, während ich das halbtrockene ‚Rotkäppchen‘ von der Linienstraße mit einem Schluck Tequila wegspülte.
„Sieh mal!“, sagte Silke vor dem Mercedes-Haus. Im Schaufenster standen lauter schicke Autos und in der angrenzenden Bar ‚Benz‘ saßen lauter schicke Menschen. „Früher hab’ ich mir nie vorstellen können, warum man ein Auto nicht einfach kaufen und mitnehmen kann.“
„Es gibt doch Vorführmodelle“, antwortete ich.
„Ja“, sagte Silke ein wenig bekümmert, „ich habe auch ein Vorführmodell.“
Dieser Überschwang, früher! Tagsüber die grellen Felder, Pläne, Taten. Nachts das grelle Neon, Drängen, Träumen. Leben mit weit geöffneten Armen.
Wut tut gut, letzte Glut. Aus dem Reim, aus dem Leim.
Nicht mehr gewollt und nichts mehr wollen, letztes Grollen, ohne Mut.
„Hast du was?“
„Ja. Nutzlose Verse.“
Wir gingen zum Schlafen in unsere engen Zimmer.

Am anderen Morgen fuhren wir zurück nach Hamburg, also Silke fuhr, ich döste daneben. Die womöglich verräterische Serviette lag unter den Schuhen in meinem Koffer. Der Himmel wurde immer wolkiger. Soll man noch mal in etwas Wichtiges investieren? Geld ausgeben, um etwas Gutes zu tun? Oder um seine eierige Biografie mit ein paar Kaviarkrümeln zu garnieren? Schmeckt sie dann interessanter? Die Deutschen werden immer älter und dementer, sie bekommen aber keine Kinder – bald können die Alten nicht mehr von den nächsten Generationen versorgt werden. Um sie doch noch versorgen zu können, müssen die Jungen gut verdienen, dazu brauchen sie eine solide Ausbildung, dazu gehört auch eine manierliche Sprache. Jobbende Studenten. Chemie pauken, Champagner ausschenken. „Darf es noch ein Gläschen sein?“ – Sprache! Anette findet das soziale Anliegen unserer Stiftung unglaubwürdig. Michael sieht wohlgemeinte Absichten an der Realität des Schulbetriebes scheitern. Thomas wünscht sich, Gutes zu tun und Gutes zu erfahren: am eigenen Leibe. In Afrika bekommen die Menschen viel mehr Kinder als bei uns. Die Jungen können nicht mehr ernährt werden. Die Alten sollen nicht mehr sterben, die Jungen sollen nicht mehr sterben. Was denkt sich die Medizin eigentlich? Und die Kirche erst!

Die Politiker reden wahl-weise von Steuererleichterungen und Gerechtigkeit. ‚Besserverdiener‘ – was für ein Wort! Jetzt schon langweilen sich bei Gucci die Verkäufer mit den Türstehern um die Wette, und es will mir scheinen, als sei das einzige Geld, das seinen gerechten Weg findet, meine Münze in die Mütze des Bedürftigen. Schwarzer Hunger frisst weißen Luxus. Wie lange noch, bis es so weit ist? Ich brauche mich nicht zu sorgen: Meine Kinder sind ungeboren, wie Silkes. Lust am Wegschmelzen oder Verantwortungsbewusstsein. Menschen nicht als Bedrohung empfinden, sondern als Aufgabe. Nicht ängstlich sein, sondern liebevoll.

Neben der Straße verblühte der Frühling. Ich sehnte mich danach, Zärtlichkeit zu empfinden und Zärtlichkeit zu geben. Würde ich wohl jemals wieder weinen können? Worüber? Mitleid, Trauer, das Ende aller Illusionen. Ich bin Tourist in meinem Leben. Silke ist meine Reisegefährtin: gleichaltrig und viel jünger.

„Weißt du“, sagte Silke, ohne den Blick von der mäßig befahrenen Autobahn zu wenden, „dieses CLK Cabriolet, gestern im Schaufenster, das möchte ich gern haben.“
„Warum?“, fragte ich. „Dein BMW ist doch völlig in Ordnung.“
„Ja“, sagte Silke, „aber irgendwas da hinten klappert. Hörst du es nicht?“
„Nein, ich hör’ nichts.“
„Ich brauche ein Auto, das funktioniert. Du sitzt zu Hause in deinem Studio. Ich mache die ganzen Einkäufe … und ich bringe deine Hosen in die Reinigung.“
Es fing an zu regnen.
Silke sagte: „Ich stell’ die Scheibenwischer noch nicht an, sonst gibt es so ein Geschmiere.“
„Hm.“
Silke lächelte ein wenig. „Ich glaube, wir fahren bald nach Rom.“
Der Raps fing an, blass zu werden.

25 Kommentare zu “#4.05 | Verblüht

      1. Ja, ich erinnere mich sehr gut. Mir fiel nur gerade auf, dass ich viel zu lange nicht dort war.

      2. Das stimmt. Das digitale Leben gehört heutzutage ja fast genauso zum Leben, wie das ‚richtige‘.

      3. Wie ich lese, sollen Geschäftsreise aus Kostengründen stark eingeschränkt werden. Ich war als Angestellter noch überall… Eine Menschheit, die sich nicht mehr begegnet, sondern sich nur vom Bildschirm und von exotischen Rezepten her kennt, wird eine andere sein. Der viel diskutierte Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland hat auch mit vierzig Jahren Reise(un)freiheit zu tun.

      4. Gilt das nicht hauptsächlich für innerländische Flüge? Kurze Tagestrips lassen sich seit Zoom ja wirklich vermeiden. Alle anderen Kundentermine und Treffen lassen sich ja schwer ersetzen.

      5. Wie bei allem, was das Internet betrifft, kommt es sicher darauf an, wie man es nutzt. Zoom-Meetings können ja super hilfreich sein. Aber wer versucht, den kompletten Kundenkontakt digital abzuwickeln, der wird sicher nicht dasselbe Vertrauen aufbauen, wie jemand, der sich persönlich kümmert.

    1. Ach was, man ist ja auch mit derselben Garantie abgesichert, wie bei jedem anderen Wagen. Im Zweifelsfall kümmert sich der Verkäufer eben.

  1. Die Menschen werden älter. Gut. Mit den Kindern sieht es überall unterschiedlich aus. Ja in Afrika werden mehr Kinder geboren als hier. Dafür ist die Kindersterblichkeit auch deutlich höher. Aber warum soll sich die Gesellschaft überhaupt an das soziale System anpassen? Sollte es nciht andersherum sein?

      1. Das tut sie ja auch ohne Frage ständig. Ob man mit der Art der Entwicklung auch einverstanden ist, muss man dann für sich selbst entscheiden. Als einzelner kann man ja höchstens minimal an der Veränderung mitwirken.

  2. Etwas Gutes klingt doch immer nach einer guten Idee. Mal tut man sich selbst etwas Gutes, dann wieder den Anderen. Aber es entsteht doch immer ein Gefühl, das sich lohnt.

      1. Putin tut sich selbst was Gutes. Für die restlichen Russen möchte ich nicht sprechen.

      2. Ob Putin an seiner Glorifizierung oder an seinem Untergang arbeitet, ist ihm inzwischen wohl selber nicht mehr klar. Morgen hat er 70.Geburtstag. Wäre schön, wenn der wie Hitlers Geburtstag im April 1945 geriete.

      3. Ich bin auch noch gar nicht so sicher, ob er sich etwas Gutes tut. Es kann auch ziemlich böse für ihn enden.

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