Nach solch grundsätzlichen Erwägungen war es nur folgerichtig, dass es mich zu Historischem drängte. Ich fragte den Kellner nach dem Weg zum Belvedere, wobei ich volkstümlicherweise das Endungs-e mitsprach. „Acht Minuten zu Fuß“, sagte er, und mit dem Auto wäre es auch gar nicht gegangen. Der Pfad war sehr staubig, weil es ja schon länger nicht mehr geregnet hatte, und Silke findet so etwas wegen ihrer modischen Schuhe immer etwas beeinträchtigender als ich. Wir näherten uns dem Bau von rückwärtiger Seite, wo sich auch die Kasse befand. Der Eintrittspreis von fünf Euro schien mir etwas übertrieben, zumal mir keine rechte Ausrede für die Ermäßigung auf vier Euro einfiel. Es fügte sich aber, dass im luftigen Inneren des Säulenganges eine Hochzeitsgesellschaft Prosecco einnahm. Heiteres Gemurmel. Obwohl ich keinen dunklen Anzug trug, sondern eine sehr oft geflickte Armani-Jeans und einen Kaschmirpullover von unerhörtem Blau, fühlte ich mich irgendwie zugehörig und machte das auch durch meine selbstverständliche Gehweise deutlich. Silke folgte mir zögerlich. Sie mag keine Lügen, auch die unausgesprochenen verabscheut sie. Prosecco wurde mir nicht angeboten, ich hätte auch keinen genommen. Stattdessen erklomm ich die Treppe zum ersten Stock, sah runter in viele Bäume ohne Laubenkoloniedächer und fragte Silke, ob sie auch die Treppe zum zweiten Stock emporschreiten wolle. Silke wollte nicht, und ich war mir nicht sicher, ob wegen des misstrauisch blickenden Wärters, der gern Eintrittskarten abgerissen hätte, wegen ihrer staubigen Schuhe, die sie deutlich von der Hochzeitsgesellschaft unterschieden, oder weil sie sich nie einschleichen würde, wo sie nicht willkommen ist. Ich mutmaßte, dass von höherer Warte die Bäume etwas kleiner aussähen, dass aber keine weiteren Erkenntnisse die Sinne beflügeln würden, und so folgte ich Silke nach unten. Wir verließen die Feiernden, sahen einen Catering-Wagen, der offensichtlich einen befahrbareren Weg als unseren gefunden hatte, und gingen auf den kleinen Pavillon zu, der als Schinkels erstes ausgeführtes Bauwerk gilt. Wir umrundeten den zierlichen Pomonatempel, die Bäume des Abhangs waren nun wirklich sehr nahe, dann entdeckte ich ganz hinten eine Tür, von der ich sicher war, sie sei verschlossen. War sie aber nicht. Während wir die Wendeltreppe hinaufstiegen, knallte ein Korken. „Oh!“, machte Silke, das Geräusch war ihr gar zu vertraut. 1965 bin ich mal während eines Versteckspiels im Wald auf einen verlassenen Anstand gestiegen, der Steinhummeln als Nest diente. Die wütenden Angriffe dieser aggressiven Insekten waren nichts im Vergleich zu der mit Schürzchen Uniformierten, kaum dass ich durch die Tür trat.
Sie fuhr mich an, dass hier gleich eine Gesellschaft erwartet würde, Silke trat sofort den Rückweg an. Die Wächterin sah aus wie eine Geisteswissenschaftsstudentin, ganz hübsch, kühl und energisch blond, eine Frau, vierzig Jahre jünger als ich, die hier jobbte und genau wusste, was sie wollte und wen nicht. Ich trat drei Schritte an ihr vorbei, sah die Champagnerflasche in ihrer Hand, die Bäume jenseits der Balustrade, maigrün, hörte sie zischen, dass sich Touristen heute einfach alles erlaubten, hemmungslos, und sah gelb. Ich sah das schrille Gelb eines Rapsfeldes über mir zusammenschlagen, riss ihr die leere Flasche aus der Hand und schrie: „Ich bin kein Tourist, du Drecksau!“, dann knallte die Flasche auf ihren Kopf. Die anmaßende Stimme versickerte. Blut und etwas, das vielleicht Hirn war, trat aus einer Wunde, es war ziemlich unappetitlich. Ich schlug noch zweimal heftig zu, um sicher zu sein, dass sie tot war: Sie durfte mich nicht identifizieren. Mit einer der gestärkten Servietten wischte ich die Flasche ab und stopfte mir dann die immer noch vergleichsweise weiße Serviette unter meinem Pullover in die Hose. Mein Bauch wirkt sowieso beträchtlich, aber das ist nur schlechte Haltung: mein Hohlkreuz. „Verhungertes Negerkind“, sagte mein Vater gern scherzhaft herablassend. Ich wunderte mich, dass meine Finger nicht zitterten. Kein Entzug. Ein paar Gläser waren zerbrochen bei ihrem Sturz. Champagnerpfützen, rosa. Die Gesellschaft war von ferne zu hören, es gab beschwingte Musik und Fingerfood. Der Höhepunkt hier oben würde ausfallen. Das Rot sah sehr dekorativ aus im Blond der herabgefallenen Haare. Schinkel hätte es gemocht. Es war tröstlich, ihr Gesicht unter den langen Strähnen nicht sehen zu müssen. Mein Hemd? – Nichts. Meine Jeans: zwei Spritzer, kaum zu bemerken. Ich ging die Treppe herunter. Silke wartete vor der Tür. Ihre Ohren waren bei der Hochzeitsgesellschaft. Sehnsüchte verkraftet sie schwerer als Demütigungen.
„Lass uns weggehen!“, sagte ich.
„Was ist?“
„Nichts. Warum?“
„Du bist ganz rot.“
„Ich hab’ mich geärgert.“
„Sie war wirklich sehr unfreundlich. Dann hätte sie eben abschließen müssen.“
„Sie hätte sagen können: ‚Oh, tut mir leid, hier kommt gleich eine Hochzeitsgesellschaft. Bitte bleiben Sie nur kurz! Möchten Sie ein Glas Champagner?‘“
„Na ja, zumindest hätte sie nicht gleich so auf dich losfahren müssen.“
„Der Ausblick war nicht besonders.“
„Ich bin ja gleich umgedreht.“
„Warum eigentlich?“
„Ich stör’ nicht gern.“
„An deinem guten Benehmen würde jede Revolution scheitern.“
„Du hast dich bekleckert.“
„Ja, ich weiß. Die Spargelbutter.“
Sie nahm es hin. „Fett geht schwer raus.“
„Kommt nicht drauf an bei der Hose. Nur für dich ist jeder Fleck eine Katastrophe.“
„Ich bin eben gern sauber“, sagte Silke, während sie mit einem Druck auf ihren Schlüssel die Wagentüren öffnete. Ihr langes, blondes Haar, frisch gewaschen, luftgetrocknet. Niemals wäre sie grob. Ich strich die Serviette unter meinem Pullover glatt. Silke ist bedingungslos loyal, ich vertraue ihr vollkommen. Dabei kennt sie die Macht der Gefährdung. Schmutz ist für sie unerträglich, aber ihre makellose Kleidung bietet ihr wenig Schutz: Die Verletzlichkeit bedroht nicht nur ihre Haut, sondern auch ihre Garderobe.
Wir verloren uns im Gewirr der Schotterwege. Ich fühlte mich schuldbewusst. Mein Stadtplan zeigte nicht, wie löcherig die Strecke war. Natürlich hätte ich Silke längst ein Gerät schenken müssen, das exakt angibt, was einem unterwegs alles passieren kann, nicht bloß das Ziel und dessen Vergeblichkeit. Villen in prunkvollen Gärten waren abgelöst worden von sandiger Brache mit Brennnesselgestrüpp. Hügel, Hütten.
„Potsdam hört schnell auf“, sagte ich.
„Die Stoßdämpfer sind hin“, antwortete Silke. Die resignierende Art, wie sie das sagte, machte mich wie immer wütend, aber ich schwieg, bis wir wieder Asphalt erreichten.
„Nichts ist hin“, sagte ich. Jähzorn zu beherrschen ist eine große Herausforderung, aber manchmal ist es herrlich, sich gehenzulassen.
Im Park von Sanssouci saßen wir auf hartem Stein in der Nähe eines Springbrunnens. Aus allen vier Himmelsrichtungen mündeten Wege in unsere Lichtung, Hecken um uns her. Ich zählte die stillen Sekunden, bis wieder ein paar Menschen auftauchten: atemlose Kinder, die vorbeirannten, ältere Frauen, die stehen blieben und vom Brunnen aus beeindruckt auf das Schloss blickten, das wir von unserer Bank aus nicht sehen konnten. All die Schönheit, all die Bitterkeit. Friedrich, der Einsame.
„Pensionierte Studienrätinnen“, sagte ich. Ich war ganz ruhig, und höchstens das quälte mich. Wir gingen zum nächsten Brunnen, der gewaltigen Fontäne. „Als Fünfjähriger war ich zum ersten Mal hier, damals gab es noch Goldfische in dem Brunnen.“ Ich sah hinab in das Wasser. Da schwammen immer noch rote Fische, sie erschienen mir größer als damals und tiefer rot. Vielleicht Zierkarpfen. „Kois“, sagte Silke. So etwas weiß sie.
Ich aß mit ihr ein Eis im ‚Mövenpick‘: Lust am Wegschmelzen im Schatten jener berühmten Mühle, deren Räder sich nicht vergeblich drehen, weil sie die Touristen erfreuen. Blühende Kastanien, die roten sind schöner als die weißen, und in der nächsten Woche ist alles vorbei.
Titelbild mit Material von Suse/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0 (Pomonatempel), TUBS/Wikimedia Commons, CC BY-SA 2.0 (Karte Potsdam, bearb.), Kiwihug/unsplash (weißes Papier)
„Potsdam hört schnell auf“ Hahaha, stimmt!
Man muss ja nicht lange dort bleiben. Für einen einzelnen Tag ist es ein schönes Ausflugsziel, finde ich.
Und im Speckgürter wohnt es sich für Prominente akzeptabler als im Gentrifizieren.
5€ geht doch sogar noch. Da gibt es dreistere Eintrittspreise. Aber es macht natürlich immer Spaß sich unter eine Gesellschaft zu schummeln. Gerade bei Hochzeiten funktioniert das doch gut.
Funktioniert nur für Menschen, die nicht gern im Mittelpunkt stehen wollen.
Ja, die anderen schmeißen ja wahrscheinlich eh ihre eigene Party 😉
Fällt das nicht sofort auf? So etwas würde ich mich nicht trauen.
Die Hochzeitsgäste kennen sich untereinander doch oft gar nicht. Da kommen ja verschiedene Freundeskreise zusammen, oder allein schon die ferneren Familienangehörigen von Braut und Bräutigam.
Naja. Aber wenn man nun Hunger hat: auf Mahlzeiten oder Menschen? Um etwas zu erreichen, muss man sich (fast immer) überwinden.
Gern sauber bin ich auch. Da kann man ja nicht viel gegen sagen.
Ja klar, aber man kann sich auch nicht wegen jedem kleinen Unglück den Kopf zerbrechen.
Man kann, aber der Kopf ist dann bald Klakelee.
In den Nachrichten stand neulich noch, dass das Alzheimer-Risiko deutlich steigt, wenn man sich zu viele Sorgen macht. Also daher…
Ich dachte man muss für ein erhöhtes Risiko wirklich Depression sein!?
Jeden Tag ist etwas Neues ‚erhöhtes Risiko‘. Heute ist es Fleisch, morgen Gemüse.
Auch wieder wahr. Je mehr man sich davon stressen lässt, desto schneller altert man. Einfach nicht hinhören und sein Ding machen, würde ich sagen.
…das Ziel und dessen Vergeblichkeit…
Bei der Formulierung muss man erst einmal schlucken
Interessant! Auf den Mord nimmt niemand Bezug.
Hahaha, ich habe mich gerade durch 10 Folgen Serienkiller-Drama auf Netflix gearbeitet. Da habe ich die Szene so gut wie überlesen. Ich würde trotzdem gerade noch so Totschlag sagen. Es scheint ja eher eine Affekthandlung gewesen zu sein 😉
Dabei hat sie auch nur ihren Job gemacht. Wenn sie wohl auch recht unhöflich war.
Und wer hat nicht schon mal gedanklich gemordet?