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DIE ELF  —   9. Kapitel: SIEBENUNDSIEBZIG

#9.2 | Missverständnisse

Mit achtzehn schwärmte ich von der Vergangenheit weitaus mehr als von der Zukunft. Inzwischen sehe ich alle Defizite der Vergangenheit – besonders im Sozialen und im Medizinischen – ganz deutlich, ohne dass ich für die Zukunft sehr viel mehr als Interesse entwickeln konnte. Verantwortungsgefühl. Wie viele Lebewesen haben das? – Eine Frage des Bewusstseins. Der Gene? Der Erfahrungen? Vorfreude auf den Untergang. Kann man das lernen? Wäre im Führerbunker bestimmt sehr hilfreich gewesen und wäre es im Sterbe-Hospiz und im Schützengraben immer noch. Warum wollen Menschen, denen es schlecht geht, weiterleben? Wenn sie Talente oder Kinder haben, schon klar! Aber sonst? Das Leben der meisten Kreaturen ist überflüssig, aber das merken sie erst, wenn sie bereits tot sind, und nicht gleich, wenn sie auf einer Artenschutzliste auftauchen. – Zynisch? Ohne die Fortschrittsgläubigen gäbe es keinen Fortschritt, und so muss man die Irren und die Fanatiker unter denen wohl aushalten. Natürlich kann man sie stattdessen rechtzeitig eliminieren, aber vorher weiß man halt nie, ob man die Richtigen erwischt hat oder bloß die, die die Menschheit weitergebracht hätten.

Bild (Jan Luyken – ‚Verbrennung Salzburger Täufer im Jahr 1528‘): Gegor Helms/Märtyrerspiegel/Wikimedia Commons, gemeinfrei

Was man glaubt, was man weiß, was man fühlt. Kein Mensch wird derart programmiert geboren, dass er einen Penis oder eine Vagina genauso hübsch findet wie Bambi oder Barbie. Wenn er, oder auch sie, die Kraftausdrücke ‚Schwanz‘ und ‚Votze‘ im Kindergarten oder sogar noch später kennengelernt hat, dann dienen diese Vokabeln ja nicht gerade als Ermutigung dazu, das eigene oder – mehr oder weniger – andere Geschlecht zu verherrlichen oder gar zu verfraulichen. Geilheit ist eine Frage des Alters. Mal kommt sie mit zehn, manchmal mit zwanzig, aufhören tut sie, wie alles andere auch, wenn sie im Kopf nicht mehr stattfindet. Wie immer sind also Idee und deren Realisation eher Konkurrenten als Verbündete. Idealismus und Pragmatismus widersprechen einander. Bildung ist das oberste Gebot. Mag sein. Das Problem besteht aber weniger darin, dass Menschen gebildet oder ‚bildungsfern‘, also ungebildet, sind, sondern dass es intelligente und dumme Menschen gibt, was man natürlich nicht sagen darf. Gutwillig und böswillig spielen auch eine Rolle. Das darf man sagen.

Der Katholizismus hat mich die Macht der Symbole gelehrt. Früh schon fand ich weniger wichtig, was etwas ist, als was es bedeutet. Das gilt für das Kreuz genauso wie für das Hakenkreuz. Vor allem gilt das beim Sex. Meine Kurzgeschichte (‚Verkehrt‘), deren Ich-Person sich in das Verkehrsschild für Bauarbeiter verliebt, treibt diese Idee – ich nenne es: Einsicht – bis ins Groteske. Menschen lassen sich eher aufstandslos ihre Realität verändern, als dass sie sich ihre Symbole streitig machen lassen. Da können Karikaturen eine Revolution entfachen.

Ist ein gottloses Leben einfacher oder schwieriger als ein gläubiges? Aussuchen kann sich das ein denkender Mensch nicht. Wer dabei zu der Erkenntnis kommt, Gott gibt es nicht, der verliert seine Bürde, aber auch seine Bestimmung. Geborgenheit hat mir die Religion nie verschafft, höchstens Zuversicht, aber die war ja immer an Drohungen gekoppelt. Von Anfang an. Das unerträgliche Paradies musste verlassen werden, um endlich mal etwas Sinnvolles zu tun. Ist nicht geglückt. Na ja, doch. Aber nie auf Dauer. Dauer ist eben kein Maßstab. Ein Leben ohne Religion muss den Menschen zumutbar sein. Ist es aber wohl nicht. Programmierungsfehler der Evolution? – Gibt es nicht. Was sich nicht bewährt, wird einfach nicht weiterverfolgt und stirbt aus.

Die Natur war dem Menschen nie eine Verbündete. Die Natur ist mitleidslos. Leiden, Schmerzen, Qualen kümmern sie überhaupt nicht. Das Einzige, was sie will, ist Fortpflanzung. Wobei: ihr einen Willen zu unterstellen ist genauso albern, wie sie als Mutter oder als vom Menschen geschändet anzusehen. Als Gott-Ersatz allerdings taugt sie: Beide gibt es nicht und beide befriedigen das Bedürfnis nach einer Instanz außerhalb der eigenen Wahrnehmung. Nicht wissen müssen, sondern glauben dürfen – das gefällt vielen. Im Mittelalter widersprach Forschung nach Ansicht vieler Gläubiger Gottes Geboten, heute gilt die Weiterentwicklung künstlicher Intelligenz als gefährlich. Beides ist berechtigt, weil es die Auslöschung der Menschheit beflügeln kann. Jede Entdeckung birgt auch Gefahren. Atompilz, Fliegenpilz. – Na ja. Wer nichts zu sich nimmt, kann sich nicht vergiften, aber so wäre niemals die Lasagne erfunden worden. Traditionen bewahren, Neues ausprobieren. Das widerspricht einander nicht unbedingt, aber einen Grund, sich gegenseitig zu beschimpfen und zu bekämpfen, bietet es allemal.

Die Menschen unterscheiden sich von (Kenner sagen: ‚anderen‘) Tieren vor allem durch ihr Bewusstsein, auch wenn alle Tierliebhaber das so weit wie möglich herunterzuspielen versuchen: Bruder Wurm. Trotzdem macht sich kein Schwein Gedanken darüber, mit wie viel Zwiebeln im Hackepeter es später am besten schmecken wird. Das ist unbestreitbar. Unbestreitbar ist aber auch, dass wegen des leidigen, wissenschaftlich nicht einmal belegbaren, Bewusstseins der Mensch mit seiner Endlichkeit nur schwer zurechtkommt, selbst dann, wenn er will, dass es so, wie es gerade ist, möglichst nicht bleiben soll.

Die Behauptung ‚Das Leben ist schön‘ taugte nie zu mehr als zu den Parolen, Gassenhauern oder Schlagern der jeweiligen Zeit. Immer brauchte es auch etwas, woran man sich weiterhangeln kann, Tag für Tag. Das Beliebteste dafür war schon immer ‚Gott‘, gern auch im Plural. Das half den Herrschenden dabei, einfach weiterzumachen wie bisher, und den Beherrschten dabei, das auszuhalten. Inzwischen sind allerdings längst andere Zukunftsziele als jenes, nach dem Tod nicht bestraft zu werden, ins Bewusstsein der Menschen gerieselt, besonders im Westen, dessen ehemals kolonialistisches Gebaren ja die Aussicht auf Hölle nach christlichen Vorstellungen durchaus wahrscheinlich gemacht hätte, es sei denn, der Gläubige hat genügend Heiden bekehrt, versklavt oder abgeschlachtet. Damals. Heute keine Option mehr. Heute sind Karriere, Sex und Umwelt wesentliche Etappenziele, um weiter ambitioniert durchs Leben zu robben. Dass dabei das Digitale so wichtig geworden ist, spielt meiner Schwerbeweglichkeit in die alternden Hände.

Das Digitale räumt mit einem Missverständnis auf: Wir sind nicht begeistert von Rom, sondern von unserer Vorstellung (hübscher noch: Erfahrung) von dem, was wir dann Rom nennen. Die Erfahrung ‚Rom‘ ist ansprechender, wenn sie digital daherkommt, gespeist von einer nagelneuen Dokumentation bei Netflix, als wenn sie unauslöschlich verknüpft ist mit einem analogen Abkotzen vor dem uralten Kolosseum nach dem Genuss von ebenfalls uralten Scampi.

Inzwischen lebe ich mehr in meinen seltsamen Ideen als in der Wirklichkeit. Ich kann der Wirklichkeit entfliehen. Viele Menschen fühlen sich von ihren Wirklichkeiten überfordert: Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Umweltkrise, Corona, Inflation, Ukraine-Krieg, Krieg im Nahen Osten. Das nehme ich ja auch alles zur Kenntnis. Am Rande. In der Mitte sitze ich. Vor einem Bildschirm oder vor einem Teller. Rafał, mein Betreuer aus den Zehner-Jahren, ist seit Ende August zurück. Eine große Erleichterung.

Es macht keinen Spaß, um alles bitten zu müssen, aber man gewöhnt sich daran. Genauso wie an Nervenschmerzen, die nicht zu behandeln sind. Gesundheit und Freiheit – erst wenn sie weg sind, weiß man, was man an ihnen hatte. Ein Trost ist das nicht, aber eine Gewissheit in einer Zeit ohne Gewissheiten. Beobachtung und die leidige Selbstbeobachtung. Jeder Mensch ist ein Kosmos: Gedanken, Gefühle, Leiden, Freuden. Die Tage sprudeln über vor Inhalt oder sie verrinnen gleichförmig und gemächlich. Dieselben Tage, nur unterschiedlich empfunden. Ein ereignisloses Dasein schafft die besten Voraussetzungen für ein langes Leben. Bloß, dass es dann natürlich nichts zu erinnern gibt. Macht nichts. Ich klage nicht. Wäre ich lieber flott zu Fuß, aber arm? – Nicht in meinem Alter.

Menschen genießen das Zusammensein. Ich zwinge mich, das Alleinsein zu genießen. Das ist machbar. Je weniger andere Möglichkeiten es gibt, desto mehr leuchtet einem der eigene Zustand ein.

Ich habe genug zu essen. Mein Darm scheidet vernünftig aus. Meine Blase auch. Schmerzen habe ich keine. Ich muss zufrieden sein, sagen die einen. Die anderen sagen, wenn ich nichts getan habe, um das Dasein der Menschheit zu verbessern, lebe ich umsonst. Und das wird teuer: moralisch gesehen. Aber wer sieht was als moralisch an? Die einen schämen sich dafür, heterosexuelle Weiße, womöglich auch noch Männer, zu sein, die anderen wollen die Ukrainer von den jüdischen Nazis befreien. Das läuft auf die Frage hinaus: Muss ich mich mehr um mich selbst kümmern oder um die anderen? Das eigene Seelenheil oder die Nächstenliebe? Die eigenen Eindrücke und Erfahrungen oder der Dienst an der Gemeinschaft? – Möglichst beides, war immer schon die Hoffnung der Begabteren. Dem Volk dienen, das Volk führen. Auslegungssache. Die Lebenssuppe ist mit zu viel Schlagwort-Gelatine angereichert. Sie fließt nicht mehr, sie stockt, und jeder kann sich eine Scheibe abschneiden, um zu verkünden, wie ungenießbar die Sülze sei.

35 Kommentare zu “#9.2 | Missverständnisse

  1. Ich finde man kann sich erst um die anderen kümmern, wenn man sich um sich selbst gekümmert hat. Wer zu viele eigene Baustellen hat, der wird keinen Raum für viel anderes haben.

    1. Das mag stimmen, aber es gilt wahrscheinlich eher, wenn man besonders viele Probleme mit sich selbst hat. Ansonsten kann man schon auch ein wenig Zeit und Aufmerksamkeit für die Probleme anderer haben. Sowas ist doch im Freundeskreis normal.

      1. Manche Menschen kümmern sich aber um andere, um – vielleicht unbewusst – den eigenen Problemen auszuweichen. Ein gutes Gewissen schafft das immerhin, und mal geht es gut, mal nicht.

  2. Ein gottloses Leben ist wohl besonders für die einfacher, die eh nicht an Gott glauben. Die Gläubigen tun sich, meiner Meinung nach, so oder so schwer.

    1. ‚Gottlos‘ ist ja ein Schimpfwort. Manche Menschen glauben so ganz fraglos vor sich hin. Andere würden gern glauben, aber können es nicht. Einfach ist nichts, wenn man anfängt nachzudenken.

  3. Thema Rom: Da gibt es doch auch das Paris-Syndrom unter Japanern. Angeblich träumen viele Japaner ihr Leben lang von eine Reise nach Paris. Wenn sie dann vor Ort sind, kann die Realität ihren Erwartungen nicht standhalten und sie stürzen in ein tiefes Loch. Anscheinend ist das wirklich ein Krankheitsbild. So sagt es jedenfalls auch Google.

    1. Ich kenne Paris ziemlich gut. Mit Tokio kann es durchaus mithalten. Wer vor seinem Eintreffen an der Place de la Concorde zunächst durch die Banlieue fährt, kann seine Erwartungen sicherheitshalber schon mal etwas runterschrauben. Klar: wer jahrelang auf das Paradies hingearbeitet hat, wird von einem etwas verwahrlosten Garten enttäuscht sein. Das tiefe Loch entsteht, wenn Phantasie auf Wirklichkeit trifft.

    2. Ich mag Paris wirklich sehr. In Europa ist es sicher eine meiner liebsten Städte. Aber wenn man bedenkt, dass in Tokyo so gut wie kein Krümel Müll oder Dreck auf den Straßen liegt, dann kann ich schon nachvollziehen, dass man als japanischer Tourist zumindest verwundert ist.

  4. „Inzwischen lebe ich mehr in meinen seltsamen Ideen als in der Wirklichkeit.“ Tun wir das nicht alle? Spätestens seitdem wir alle mehr aus Instagram leben als im eigentlichen Leben?

    1. Weltweit trifft das, glaube ich, eher nicht zu. Und wie seltsam die Ideen sind, hängt davon ab, was man für normal hält.

    2. Das halte ich auch für übertrieben. Social Media hat natürlich einen wichtigen Stellenwert, aber wer nicht gerade Vollzeit-Influencer ist, der muss ja weiterhin mit der Wirklichkeit umgehen können.

  5. Ich treffe immer mal wieder Menschen, bei denen Geilheit nicht im Kopf sondern ausschließlich in den Geschlechtsorganen stattzufinden scheint. Ich verstehe es ja nie so richtig.

      1. Hmmmm, auch alleine braucht man doch den Kopf, nicht? Sonst wirds doch sofort stumpf.

  6. Mit 18 wusste ich weder wohin ich wollte, noch konnte ich mit der Vergangenheit allzu viel anfangen. Ich war irgendwie im hier und jetzt verloren. Möglicherweise war das noch ein wenig Spätpubertät.

    1. Die Vergangenheit ist ja immer nur so lange toll, bis man tatsächlich in ihr leben müsste. Selbst die MAGA-Amerikaner können doch kaum sagen wann America denn zuletzt so besonders great gewesen sein soll.

      1. Bei der kommenden Wahl natürlich unter Trump. Auch wenn das bei den meisten Themen nicht wirklich stimmt.

      2. Wenn wir die Zukunft kennen würden, würden wir wohl große Teile von ihr vermeiden wollen. Aber die Vergangenheit ohne WC und Narkose war schlimmer.

      3. So sehe ich das auch. Wer würde heute nochmal ohne Internet leben wollen? So sehr Twitter auch nervt. Auch AI hat riesiges Potential. Und Impfungen, ja genau Impfungen, sorgen dafür, dass wir nicht schwerst erkranken. Also bitte!

  7. Schämen muss man sich, wenn man andere Menschen verletzt, wenn man rücksichtslos und kalt ist. Die Welt verbessern muss und kann nicht jeder. Wenn man die Ansicht vertritt, dass wir alle einzigartig sind, dann kann man auch nicht erwarten, dass wir alle gleich ticken.

    1. Das ist schon richtig. Jeder tut halt auch das was er oder sie kann. Man muss nur aufpassen, dass man nicht teilnahmslos zusieht was auf der Welt geschieht. Auch das kann etwas sein, das sich am Ende als rücksichtslos herausstellt.

      1. Die meisten teilen einfach performativ ein paar kritische Posts in den sozialen Medien und gut ist. Wenigstens ist dann das schlechte Gewissen beruhigt.

  8. Das Leben der meisten Kreaturen ist sicher überflüssig, aber diese Einsicht ist für unseren Alltag nicht besonders relevant. Ein Leben wird dadurch nicht unwichtiger oder weniger lebenswert. Im Gegenzug machen die „Unwichtigen“ Dinge im Leben eine Existenz oft viel reicher.

      1. Was überflüssig ist, entscheide doch ich selbst. Das Überflüssige kann mehr Spaß machen als das Notwendige. Geniale Ideen entstehen oft aus einem Sich-treiben-lassen und nicht unbedingt aus angestrengtem Suchen. Nicht alles muss einen Sinn haben. Mehr Mut zum Unsinn!

  9. Als irre und fanatisch wird ja erstmal gerne bezeichnet was man nicht versteht. Ohne diese Leute wäre Fortschritt bestimmt tatsächlich schwer. Solange jemand nichtvgefährlich ist … das wäre für mich eine Grenze, die sinniger erscheint.

    1. Fortschritt war immer gefährlich: für die Stehengebliebenen, dass die Zeit sie wegfegt, für die Weitsichtigen, dass sie von Fanatikern umgebracht werden, für die Mediziner, dass sie an iher Experimenten sterben.

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