Nachmittags zeigten Giuseppe und ich Rafał Bassano aus dem Blickwinkel des gusseisernen Generals. Ich hatte mal, zu Lebzeiten der Tata, die Idee, für ein Jahr nach Bassano zu ziehen und fließend Italienisch zu lernen. Ich wollte auch mal, 1992, eine Wohnung am Gendarmenmarkt haben. „Was willst du denn da?“, fragte Guntram erschrocken. In seinen Dreißigerjahren wohnte man dort nicht. Heute wäre die Wohnung das Zehnfache wert. Aber es geht auch so. Ich schlurfte in mein ‚Belvedere‘-Zimmer fern dem Fahrstuhl und sah aus mir raus und in mich rein, bis Giuseppe uns gegen neunzehn Uhr abholte. Er hatte sich ausgedacht, uns ins teure ‚Ca Sette‘ einzuladen, einer Veneto-Villa aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert; Gott belohnte Giuseppes Großzügigkeit mit der Abwesenheit von Silke und Martin.

Foto: Sean Pavone/Shutterstock

Die Terrasse des Anwesens grenzt an einen Rokoko-Garten mit gestutztem Buchsbaum in Kübeln und, eigentümlich in dieser Umgebung, Olivenbäumen, die schon ein bisschen Toskana vorgaukeln. Davon hatten wir aber nichts, das Wetter war zu schlecht. Drinnen war auch noch nichts los. Das Restaurant öffnet erst um acht. So etwas Vornehmes! Wenn jemand im Büro um zwölf Uhr mittags essen ging, sagte Guntram abschätzig „Proletenzeit!“, und anders habe ich es nicht gelernt. Dr. Friedel Grabau, schon wieder ein Prokurist, der diese frühe Essenszeit schätzte, entgegnete: „Du kommst ja erst gegen halb zehn, ich bin schon um acht hier.“ Dies bedarf dreier Erklärungen:

Foto: H. R./Privatarchiv | V. l. n. r.: Guntram, Dr. Grabaus Gattin Friedel

1. Wieso duzte Dr. Grabau meinen Vater?

Weil sie Schulkameraden aus Berlin-Lankwitz waren. Friedel ging, zusammen mit Peter von Siemens, in die Klasse des Ältesten, Achim, den einzigen seiner vier Söhne, den mein Großvater geliebt habe, behauptete Guntram. Achim heiratete eine Halbjüdin, ließ sich zwar von ihr scheiden, um in der Reiter-SS bleiben zu können, konnte aber nicht wirklich von ihr lassen und wollte sie dazu bewegen, im März 1945 von Berlin aus zum Gut ihres Stiefvaters nach Bückeburg auszubüchsen. Sie lehnte ab, Achim zog aus Verzweiflung zurück in den Krieg und fiel in den letzten Kriegstagen bei Sacrow, was meine Großmutter der Halbjüdin nie verziehen hat. Musste sie auch nicht: Die Geschiedene glaubte den Versprechungen eines australischen Offiziers, folgte ihm nach Melbourne und sollte dort in der Kneipe seiner Eltern animieren. Darüber wurde sie wahnsinnig und über die deutsche Botschaft wieder nach Hause verfrachtet.

Fotos oben (3): H. R./Privatarchiv

Achims Bruder Arwed, der Zweitälteste, war auch Jurist und Irenes Ansicht nach schwul, was damals nicht geschätzt wurde. Sie hatte ihn 1943 noch kennengelernt, bevor er im Elsass fiel, und zwar deshalb, weil er sich eine Kugel in den Kopf geschossen hatte.

Foto oben: Wikimedia Commons/gemeinfrei | Foto unten links: H. R./Privatarchiv | Foto unten rechts: Sergey Dzyuba/Shutterstock

Hasso überlebte als Chauffeur des Generalstabs in Paris und dann bei seinen Eltern in Schmalkalden in einem Rüstungsbetrieb. ‚Im Feld‘ war er nie, aber offenbar gut im Geschäft, jedenfalls musste er 1949 die Sowjetzone über Nacht und Hals über Kopf verlassen, seine Frau Victoria, eine Geborene von Beneckendorff und von Hindenburg, mit den beiden Töchtern verließ er dort notgedrungen also auch, tröstete sich aber mit der Lebedame Carola in Düsseldorf, bis die eines Nachts, morphium-umflort, an einem kalten Kartoffelpuffer aus ihrem Kühlschrank erstickte.

Fotos oben (2): H. R./Privatarchiv | Foto unten: Sea Wave/Shutterstock

Guntram, der Jüngste, hatte wegen der dauernden Umzüge der einzelnen Familienmitglieder, bevor sie alle in Berlin sesshaft wurden, die zehnte Klasse nicht geschafft, so dass mein Großvater am Weihnachtsabend ausrief: „An unserem Tisch sitzt ein ehrloser Lump!“ Meine Großmutter war etwas praktischer und brachte Guntram als Lehrling bei den Kokswerken unter, deren Generaldirektor sie vom Tennisclub her kannte. So machte mein Vater Karriere und war der Einzige, von dessen Geld sein lebensuntüchtiger Vater lebte, nachdem dessen Militärlaufbahn friedenshalber zu Ende war.

Fotos (3): H. R./Privatarchiv

Guntram hatte zwischendurch Martha geheiratet, die in Minneapolis studiert hatte und deshalb perfekt Amerikanisch sprach. Das prädestinierte sie dafür, als Nazi-Sprecherin Gräuelpropaganda für US-Soldaten über Funk zu verbreiten. Nach dem Krieg nutzte sie ihre Sprachkenntnisse, um sich den Siegermächten als Dolmetscherin anzudienen, was wiederum Guntram die Gelegenheit bot, sie unter der Ankündigung, sie andernfalls auffliegen zu lassen, um die Scheidung zu bitten. Wie schon erwähnt wurde ich dadurch nachträglich ein eheliches Kind, dessen jüdische Vorfahren keine entscheidende Rolle mehr spielten.

Anders zehn Jahre zuvor: Im Gegensatz zu Achim und Arwed hatte Friedel Grabau sein Jurastudium, obgleich bereits Doktor, wegen einer jüdischen Großmutter nicht als Assessor beenden und nicht mal im Krieg fallen dürfen, weil er Vierteljude und damit nicht ‚wehrwürdig‘ war. Stattdessen holte Guntram ihn, nochmal zehn Jahre später, als seinen Stellvertreter nach Hamburg, wo Friedel zuständig war für, wie er selbst es ausdrückte, ‚Zahlen und Gerechtigkeit‘, Guntram stand für Auftritte und höhere Ziele.

Fotos (3): H. R./Privatarchiv

2. Wieso konnte Guntram erst um halb zehn im Büro erscheinen?

Deshalb eben. Ich bekam morgens um Viertel nach sieben von der Hausangestellten meinen Haferbrei, bevor ich in die Schule abgeschoben wurde. Guntram und Irene frühstückten gegen halb neun. Guntram aß immer ein halbes Brötchen mit Käse und Schwarzbrot, ein halbes, mit Konfitüre. Die Reihenfolge weiß ich nicht, ich war ja nie dabei. Ein Ei gab es nur sonntags. Mit Roland habe ich jeden Morgen ein Ei gegessen, dazu Toast mit Schinken. Nach Rolands Tod wurde das Frühstück von mir als Mahlzeit gestrichen. Guntram ließ sich mittags vom Chauffeur nach Hause bringen, und ich dachte natürlich, das sei so üblich. Während des Essens ging es immer darum, was Herr Keltsch von den Hamburger Elektrizitätswerken gesagt und was Herr Mägdefrau von der Soltauer Zuckerfabrik gedacht hatten. Nachdem Guntram aus dem Berufsleben ausschied, kommentierte er Irenes und meine angeregten Diskussionen darüber, ob Theater noch zeitgemäß sei und ob Rut Brandt eine repräsentativere First Lady gewesen sei als Jacqueline Kennedy, sparsam. Abends gab es ‚kalten Dreck‘ und danach Schallplatten. Meine Mutter hatte mich seit meinem fünften Geburtstag mit Beethoven und Mozart versorgt. Manchmal schmuggelte ich ein bisschen Caterina Valente ein, aber danach glich ich schnell mit Bruchs Violinkonzert aus, dessen zweiter Satz Guntram von Beerdigungen her geläufig war.

Fotos oben (2): H. R./Privatarchiv | Foto unten: Keystone/Getty Images

3. Wann isst Giuseppe?

Zu Hause morgens um halb acht, abends fast überhaupt nicht mehr, mittags um zwölf. „Sono contadino!“ – ich bin ein Bauer –, erklärt er mir. Wenn wir zusammen sind, stellt er sich auf meinen ‚Halb-zwei-Mittag‘ um und auf den ‚kalten Dreck‘ zur ‚Tagesschau‘ um acht.

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Da es aber im ‚Ca Sette‘ erst halb acht war, mussten wir einen Aperitif an der Bar nehmen. Ich habe mir den Fernet Branca vor dem Essen angewöhnt wie das Händewaschen nach dem Pinkeln; beides ist inzwischen mehr Ritus als Schutz vor Unbill: Mein Appetit wird nicht größer, meine Finger nicht appetitlicher. In Spanien habe ich immer das ganz späte Essen geliebt. Gar nicht zu essen wäre natürlich noch schöner gewesen.

23 Kommentare zu “#6.2 Aufklärung

  1. Wie schnell ein Lump doch zum erfolgreichen Unternehmer werden kann. Eine Lehre für alle Eltern und die, die’s noch werden wollen…

  2. Eine Wohnung am Gendarmenmarkt wäre ist heute ja fast unbezahlbar. Erschreckend und wahrscheinlich gleichzeitig auch ganz normal, wie sehr sich das raue Berlin mittlerweile an die anderen Großstädte angepasst hat.

    1. Teurer als nach der Wende ist’s allemal. Die Menschen unterscheiden sich trotzdem von denen in München oder Erfurt oder Hamburg oder Duisburg würde ich sagen.

  3. Ich habe von meinen Eltern mal gelernt: Je reicher einer ist, desto leichter ist es für ihn, ein Lump zu sein. Mittlerweile würde ich das allerdings in Frage stellen. Lump sein kann jeder.

    1. Ist der Lump nicht ziemlich aus der Mode? Als Definition lese ich im Duden: “Männliche Person, die als charakterlich minderwertig, betrügerisch, gewissenlos handelnd angesehen wird“. Wikipedia sieht mehr aufs Äußere: „Schimpfwort für einen Habenichts, zumal, wenn er in abgerissener Kleidung daherkommt.“

  4. Zum Glück sind die Zeiten, wo’s nur mal am Sonntag ein Ei gab vorbei. Ich schlemme immer eher mit 3 Rühr- oder Spiegeleiern. Die kleinen morgendlichen Sünden…

  5. Was für eine Familiengeschichte. Genug Material für mindestens einen Roman. Oder heute eher für fünf Staffeln Serienspaß auf Netflix.

  6. Proletenzeit! Hahaha! Ich finde ja feste Essenszeiten grundsätzlich nervig. Zum Beispiel in Frankreich, wo es nach 14 Uhr außer Kebab nichts mehr zu essen gibt, oder in Spanien, wo man nachmittags gefälligst zu schlafen hat…

    1. Stresst mich auch. Bei meinen Eltern gibt’s um 13h oder eine Stunde nach Proletenzeit Mittag. Wehe früher oder später. Warum isst man nicht einfach wenn man Hunger hat?!

      1. Für die Restaurants lohnt es sich oftmals einfach nicht den ganzen Tag aufzubleiben, nur weil 2-3 Leute am Nachmittag essen möchten. Das sind am Ende ganz einfach wirtschaftliche Gründe. Niemand möchte Sie absichtlich hungern lassen.

      2. Essen ist wie die Messe ein Ritual. Für eine Gemeinschaft ist das gemeinsame Essen ein wichtiges Bindeglied. Der Symbol-Gehalt ist genauso wichtig wie die Mahlzeit. Auf englischen Schlössern trug man dafür Smoking. Heute reichen Jeans zu Fish and chips.

      3. Stimmt. Nur wird das Bindeglied immer schwächer, wenn Fleischesser, Vegetarier, Veganer, Paleo-Anhänger, Laktose-Intolerante, Gluten-Intolerante und ketogene Esser aufeinander treffen.

      4. Ach du lieber Gott, bei solcher Gästekonstellation reiche ich nichts als Rotwein. Bio natürlich.

  7. Mir fehlen die Details von Guiseppes Frühstück morgens um halb acht!
    Leider wurde in meinen jungen Jahren das Wort Frühstück allzuwörtlich genommen: Ein Stück in der Frühe! Da kann aus dem Menschen nur schwer etwas werden. Also haben wir uns schon damals für ein zweites Stück engagiert. Und sind über diesen Umweg doch noch zum Menschen geworden.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

17 − elf =