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Europa im Kopf  —   6. Kapitel: Veneto

#6.8 Abhängig sein

Am Montag war schlechtes Wetter. In Meran auch. Martin filmte nicht, sondern fuhr gleich zurück nach Hamburg. Unterwegs bekam er Fieber und legte sich eine Woche lang ins Bett. „La Perla!“, sagte Rafał. Dass Martin sich dort den Tod geholt hatte, leuchtete mir zwar sowohl vom medizinischen wie vom moralischen Standpunkt aus ein, aber ich war der Meinung, dass Filzläuse, Krätze oder Maul- und Klauenseuche nicht zu erhöhter Temperatur, sondern zu Juckreiz und eitrigen Schleimhäuten führen. Dass eine der ‚Perla‘-Nutten gewiss stundenlang mit entblößtem After auf Martins Gesicht herumgerutscht war, wurde zwischen Rafał und mir immer wieder besprochen; es war fast wie ehedem mit Harald. Wer früher mal fromm war, neigt anschließend zu den schlimmsten Sauereien.

Foto oben links: MNBB Studio/Shutterstock | Foto oben rechts: UfaBizPhoto/Shutterstock | Foto unten: H.R./Privatarchiv, Zeichnung von Harald

Wir fuhren ans südliche Ende der Insel, viel zu sehen war da nicht, aber es war hübsch, unterwegs zu sein und sich nichts aus dem Regen zu machen. Außerdem stellte ich fest, dass es eine Autofähre nach Chioggia gab. Die brauchten wir jetzt nicht, aber wenn ich im nächsten Jahr meinen Traum verwirklichen sollte, alle Orte in Italien, die mir etwas bedeuten, noch einmal aufzusuchen, dann war es gut zu wissen, dass man von Ravenna aus nicht die langweilige Strecke um die ganze Bucht herum fahren muss, sondern den Lido auch von Süden her mit dem Auto erreicht.

Foto: Malamocco, M.Fuksa/Shutterstock

Wir fanden in Malamocco, auf halbem Rückweg, sogar das Lokal, das ich mir ergoogelt hatte. Martin hatte es geschafft, mein zunächst störrisches Notebook ans Internet anzuschließen, wofür ihm alle versifften Nutten, die je auf seinem Gesicht gesessen haben, während er Red Bull Wodka trank, verziehen sind. Dass Jugendliche in Panik geraten, weil sie sich wie in der Isolationszelle vorkommen, wenn sie ihr Handy nicht dabei haben, ist etwas, das in meiner eigenen Jugend noch nicht passieren konnte; trotzdem habe ich Abhängigkeiten immer schon sehr zu schätzen gewusst, weil ich früh Janis Joplin vertraut habe, dass „Freedom just another word for nothin’ left to lose“ sei. Heute Fünfzehnjährige können sich eine Mauer mitten in Berlin nicht mehr vorstellen, und ich bin kühn-naiv genug, mich zu fragen, ob sich in ein paar Generationen Menschen nicht mehr vorstellen können, warum zwischen arabischen und jüdischen Semiten ein Streit um Jerusalem entbrannte.

Foto oben: mrkornflakes/Shutterstock | Foto Mitte: Ash Pollard/Shutterstock | Foto unten: Mopic/Shutterstock

Nicht ohne Internet auskommen zu müssen, finde ich wirklich großartig. Sicher, Goethe hat auch 83 Jahre ohne Internet zugebracht und dabei noch Gedichte geschrieben, aber Klopapier gibt es erst seit 1857, und die erste Narkose wurde wenig früher am 21. Dezember 1845 vor einer Operation verabfolgt. Wer möchte vor diesem Zeitpunkt gelebt haben? Mancherorts wurde nach Verrichtung der Notdurft lebendiges Federvieh zur Säuberung herangezogen. All das kann man, wenn man will, im Internet nachlesen. Wir haben die vollkommene Verfügbarkeit von Wissen; allerdings auch von Pornos, Beleidigungen und schlechten Witzen. Ich lese in den Witzrubriken herum, in denen Schwule Arschficker sind, Frauen Fickfotzen und Schwarze Rußlatten. Jeden Morgen lese ich, welche Sendungen am Abend zuvor beliebt waren und verstehe nicht, wieso Guckern von den Geissens und ‚Bauer sucht Frau‘ nicht das Wahlrecht entzogen wird. Auch Angela Merkel soll sich ja sehr um Volksmeinung kümmern und ihre Politik danach ausrichten. Immer noch?

Foto links: Everett Historical/Shutterstock | Foto rechts: Von Big Pants Production/Shutterstock

So starre ich auf den Bildschirm und frage mich: „Zoten und Quoten – ist das unser Leben?“ Aber ich finde eben auch ‚Da Scarso‘, wo man das totale Kontrastprogramm zum ‚Excelsior‘ genießen kann: helle Holzbänke, grüne Plastiktischdecken, weiße, klitzekleine Papierservietten, in einem Raum, dessen Wände Geschichten erzählen – vom Fischen, vom Trinken, vom Bewirten, vor langer, langer Zeit. Fellini war damals auch hier. Rafał und ich teilten uns eine Portion von allem Kleingetier, das die Adria zu bieten hat: Muscheln, Calamari, Sepien, Sardinen. Es sah sehr eigenwillig aus auf der Schale, der gelbe Wein aus der Karaffe machte Mut, die Zitrone würzte vor, die Zwiebeln würzten nach, und die lauwarmen Köstlichkeiten flutschten die Kehle runter. Ekel war gestern, heute wird gefeiert. Rafał, der mit solchen Genüssen weniger vertraut ist als ich, ließ sich trotz seines geringeren Weinkonsums – wegen Diesel – von Atmosphäre und Geschmack mitziehen.

Die Italiener um uns her schienen alle Stammgäste zu sein. Erst kam für uns ein silbrig-grauer Fisch aus dem Ofen, dann ein beige-braunes Dolce aus dem Kühlschrank, und dann kam eine chinesische Familie. Die Globalisierung macht wohl vor gar nichts Halt.

Foto links: Peacorx/Shutterstock | Foto rechts: Monkey Business Images/Shutterstock

Am Nachmittag nutzte Rafał eine weitere Errungenschaft oder Kuriosität des Internets: Man gibt ein, wo man ist und worauf man Lust hat, und dann melden sich Menschen, die in der Nähe sind und ähnlich gelagerte Wünsche haben. Wenn es das in meiner Glanzzeit schon gegeben hätte! Ich bin doch – typisches Schwulenproblem – in den Kneipen manches verflixte Mal deshalb leer aus- und rausgegangen, weil ich mich innerhalb des Angebots nicht entscheiden konnte, wie Zonen-Gabi im ‚KaDeWe‘. Und nun diese Auswahl. Auf Rafałs Handy habe ich als anteilnehmender Greis schon mal den ein oder anderen Kopf oder Schwanz betrachten dürfen. Ratschläge zu geben, erdreiste ich mich natürlich nicht. Dennoch bestimmen Bilder, nette Bilder, schräge Bilder, mein Leben inzwischen mehr als Töne. Ich liebe das Medium Film, aber ich liebe auch den Stillstand: ein Bild ansehen, minutenlang. Die Städte in Europa, mit denen ich am meisten verbinde, sind auch die Städte, deren Gemäldesammlungen mir am meisten bedeuten: Madrid, Paris, Amsterdam, London. Und dazu die Straßen Roms zwischen Piazza del Popolo und Piazza Venezia, die Gesichter, die Umrisse der Körper. Europa im Kopf. Der Alltag ist mit der Majestät des Wirklichen über meine Triumphe und Niederlagen, meine Begehrlichkeiten und Gleichgültigkeiten von damals hinweggeschritten, als hätte es all das nie gegeben und sei jetzt erst recht nicht vorhanden. Es ist ungewiss, ob ich eine dieser Städte, dieser Stätten, je wiedersehen werde oder ob das hier mein Abschied ist. Ich weiß nicht mal, was ich mir wünsche.

Zur Abwechslung aßen wir zur üblichen Zwanzig-Uhr-Zeit bei ‚Mabapa‘ drinnen. Die Abwechslung war nicht unserer Laune, sondern dem Wetter geschuldet. Gegenüber früher hatte sich der Speisesaal, eher ein großes Zimmer, verbessert: Was zu ‚Babys‘ Zeiten noch ein unwirscher Hinterraum gewesen war, strahlte jetzt eine moderne Eleganz aus: ‚Best Western‘.

Rafał würde zu keiner Tageszeit seine Pflichten zugunsten eines Dates vernachlässigen. Das ist für mich sehr beruhigend, für seine Interessenten weniger. Früher bin ich so gut wie jeden Abend gegen zehn mit dem Vaporetto nach Venedig gefahren. Manchmal kam ich gegen drei zurück, manchmal erst am nächsten Morgen. Eigentlich erstaunlich, dass mir am Ende einer versteckten ‚calle‘, am Eingang eines düsteren Hinterhofes, unterwegs mit einem wilden Fremden, nie etwas Schlimmes passiert ist. Im Gegenteil: So habe ich Giuseppe wiedergefunden.

Foto links: Lukasz Janyst/Shutterstock | Foto rechts: aaron choi/Shutterstock

Dagegen gehe ich nun auf mein Zimmer am Fahrstuhl und lese im ‚Spiegel‘. Ich denke an Silke. Sie hat sich nicht gemeldet, und Rafał, der besorgter ist als ich, hat sie nicht erreicht. Ich habe Geld am Automaten abgehoben und den ‚Spiegel‘ selber bezahlt. Ja, so selbständig bin ich geworden. Wer nicht verwöhnt wird, wird unabhängiger, auch wenn das keinen Spaß macht, höchstens das Ergebnis. Ich hatte immer alles, aber verwöhnt wurde ich nie. Erst Pali hat damit angefangen, und heute ist es leichter, mich wie eine törichte Frau im Pelz zu beschimpfen als jemanden aus der intellektuellen Motorgang, der nicht sehr viel mehr nachgedacht hat als ich, aber seine ledernen Erkenntnisse so ehrfurchtgebietend philosophisch unters Volk streut, dass niemand sich traut, ihm den Status einer moralischen Instanz abzusprechen. Man kann sich noch über Kleinigkeiten aufregen. Dass sie keine ‚Großigkeiten‘ waren, merkt man erst, wenn die richtig schweren Geschütze auffahren. Aber das kommt ja erst noch: „Wir schaffen das“, Brexit und Trump waren ja noch ungeahnt.

Foto links: selivanoff1986/Shutterstock | Foto rechts: nito/Shutterstock

21 Kommentare zu “#6.8 Abhängig sein

  1. Dass Menschen leicht in Panik geraten wenn sie ohne Handy unterwegs sind, kann ich ganz gut nachvollziehen. Dass Leben heute ist ohne Frage schneller, es gibt mehr Informationen zu verarbeiten, mehr Termine einzuhalten etc. Dass Jugendliche sich ohne Handy langweilen, verstehe ich hingegen nicht. Langweiliger ist die Welt ja sicherlich nicht geworden.

    1. Man fragt sich trotzdem welche Sucht schlimmer ist. Der ständige Blick auf’s Mobiltelefon oder der andauernde Trieb, der einen in’s La Perla bringt 😉

  2. Hahaha der Abschnitt über die chinesische Familie im Da Scarso und das darauf folgende Foto haben mich sehr amüsiert. Vielen Dank dafür.

  3. Beleidigungen und schlechte Witze gab es auch in Prä-Internet Zeiten. Die Anonymität kitzelt die schlechtesten Seiten natürlich noch mal deutlicher hervor. Fortschritt muss trotzdem sein.

  4. Zwei sich irgendwie widersprechende und trotzdem völlig richtige Sätze vom großen Noam Chomsky:
    – The Internet has compromised the quality of debate.
    – The internet could be a very positive step towards education, organisation and participation in a meaningful society.

      1. Ganz genau. Was zum Schluß führt, dass das Internet weder gut noch schlecht ist. Es ist ein reines Werkzeug. Und es kommt darauf an, wie und wozu wir es benutzen.

  5. Man gibt ein, wo man ist und worauf man Lust hat, und dann melden sich Menschen, die in der Nähe sind und ähnlich gelagerte Wünsche haben. LOL, so hat das wahrscheinlich noch niemand beschrieben 😉

    1. Klingt auf dem Papier gar nicht so dumm. Im richtigen bzw. virtuellen Leben funktioniert das manchmal eher begrenzt.

  6. Respekt für die Abenteuer im düsteren Hinterhof bei Nacht 😉 Venedig in der Dunkelheit kann sehr unheimlich sein. Ich hätte ind er Situation wahrscheinlich der Vorsicht den Vorzug gegeben.

  7. Ich habe fast das Gefühl, dass die Folgen des Brexit zwar nicht mehr ungeahnt sind, aber dimmer noch irgendwie ausgeblendet werden. Die Wirtschaft muss erst auseinander brechen bevor man einsieht, dass die Entscheidung unsinnig war. Trump muss erst in’s Gefängnis bevor man einsieht, dass man falsch gewählt hat.

      1. Um Gottes Willen. So schlimm wird es hoffentlich nicht werden. Zumindest im Falle Trumps scheinen die Ermittlungen ja immer deutlicher auf nachweisbare Vergehen hinzudeuten.

      2. Im Moment sieht es aber doch so aus, dass die „Checks & Balances“ in den USA greifen und dass Trump eben nicht einfach tun und lassen kann was er will. Bisher hat er jedenfalls nicht geschafft Obamacare abzuschaffen. Das Geld für seine idiotische Mauer bekommt er wohl auch nicht zusammen. Und die Ermittlungen gehen immerhin weiter voran. Aber besorgt bin ich auch, keine Frage. Die Entwicklungen der letzten paar Jahre zeigen, dass sich Geschichte sehr wohl wiederholen kann.

      3. Man kann wirklich nur hoffen. Momentan scheint es, die Demokratie ist weltweit sehr viel fragiler als sie sein sollte.

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