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Europa im Kopf  —   6. Kapitel: Veneto

#6.7 Venedig satt

War es eine gute Idee, ausgerechnet den Sonntag für den Venedig-Ausflug vorzusehen? In all den Jahren sind wir frühestens gegen vier aufgebrochen, um nicht eher am ehrwürdigen, verhunzten Gestade anzulegen, als bis zumindest die Tagestouristen das Weite des Vorlandes gesucht und zweifellos auch gefunden hatten. Den Massen, die sich heutzutage aus den All-inclusive-Schiffen in die Serenissima ‚erbrechen‘, begegnete man damals noch nicht.

Fotos oben (2): H. R./Privatarchiv | Foto unten: Datsenko Maryna/Shutterstock

Es war Martins Abreisetag. Weil er zwei Übernachtungen in Meran einlegen wollte, reichte es für ihn, am Nachmittag aufzubrechen. Natürlich pflaumten Rafał und ich Martin an, dass er nicht für Bergeshöhen aus Drohnenblickwinkeln zurückfahre, sondern um in ‚La Perla‘ den letzten Rest seines Geldes – oder etwas weniger schlimm: seines Verstandes – einzubüßen. Er gab zu, dass er unsere Hänseleien ertragen müsse, aber um noch ein bisschen Venedig einzufangen, brauchten wir ihn doch. Also nahmen wir um 10.00 Uhr von der Anlegestelle Santa Maria Elisabetta die Linea Uno, das trödeligste Fährschiff, das Venedig zu bieten hat: Es hält überall; man kann sich gar nicht vorstellen, wie oft es hält. Ein Rüde lässt auch mal einen Baum aus, die Linea Uno nicht; immer habe ich sie gemieden, aber um den Canal Grande kennenzulernen und Martins Kamera zu beschäftigen, war sie zweifellos von Nutzen.

Foto: H. R./Privatarchiv

Wir überqueren die Lagune. Sant’Elena, Giardini, Arsenale zogen vorbei, trotz Biennale ging es bis dahin. Wir hatten uns gleich die letzten der raren Sitzplätze im offenen Heck erkämpft, der Blick war frei, das Leben schön. Dann wurde es immer voller, und Menschen, mit denen man nichts zu tun haben wollte, versperrten die Sicht. Ab San Zaccaria wurde meine Toleranzgrenze, die ohnehin sehr in Richtung Duldungslosigkeit tendiert, massiv angegriffen. Das ständige Zucken der Smartphone-Blitze, die Selfies, die Shorts, die Baseball-Kappen. Beim Blick auf die senfigen Touristenströme zwischen Seufzerbrücke und Dogenpalast durchschauerten mich Abscheu-Orgasmen. Ab San Marco der übliche Wechsel: Viele steigen aus, viele steigen ein. Ich versuchte, mich in Rafał hineinzuversetzen, der das alles zum ersten Mal sah, wie ich 1965. Damals schrieb ich gleich ein Gedicht mit zwanzig Strophen. Wer genügend Muße hat, dieses Gedicht zu lesen, der findet es hier in meinem Blog unter Lesesaal/Lyrik/Im Süden.

Foto: H. R./Privatarchiv

Das war schon damals nicht zeitgemäß, aber ist das Graffito, das die westlichen Städte verunstaltet und selbst vor den Palazzi hier nicht Halt macht, der Ausdruck des Volkswillens? Die Selfie-Pest, ist sie das Dokument unserer Zeit: ‚Ich bin hier und ich kann’s dir beweisen‘, wie Trophäenjäger in Afrika, die mit Wildkadavern posieren? Ekelhaft! Ja, dachte ich, wenn ich heute zum ersten Mal unter der Rialtobrücke durchführe, würde es mir wohl genauso imponieren wie damals.

Fotos (3): H. R./Privatarchiv

Zu meinem Missfallen wurden wir an der Piazzale Roma genötigt, auszusteigen, und mussten für den Rückweg einen anderen Vaporetto nehmen; der fuhr nicht den Canal Grande entlang, sondern außen herum; Sitzplätze gab es nur drinnen – vertane Zeit! Na ja, nach zwölf Stationen hielten wir bei San Giorgio, dann ging es nur noch rüber auf die andere Seite, und wir konnten bei San Zaccaria aussteigen. Ich kam mir vor wie der Esel, dem es zu wohl ist und der deshalb aufs Eis Tanzen geht: Was ich mich traute! Die für meine früheren Verhältnisse nicht der Rede werte Strecke zur Piazza San Marco schaffte ich im Strom der Passanten fast besser als Rafał, der beim Stillstand auf dem Ponte della Paglia mit erhofftem Blick auf die Seufzerbrücke fast Platzangst bekam.

Foto oben: Jaro68/Shutterstock | Foto unten: jajaladdawan/Shutterstock

Im ‚Caffè Florian‘ einen Platz zu bekommen, war weniger schwierig. Die Preise verhindern, dass sich Rucksacktouristen hier breitmachen, reiche, vulgäre Russen schon. Champagner in Kübeln, ‚Cerruti‘-Tüten unterm Tisch. (Ist gar nicht italienisch, kommt aus Paris, blöde Kuh!) Der Blick ist, vorbei am Gesocks, dessen Recht, hier zu sein, ich respektiere, unvergleichlich. Zum ersten Mal nach meinem Schlaganfall habe ich mich wieder durch das Menschengestrüpp auf diese von Salonmusik umschmeichelte Oase getraut. Ein Negroni musste es sein. Der Kellner war hübsch und brachte gleich alles Mögliche. Süß und salzig schon vor zwölf erschreckt meinen Gaumen, aber Martin aß dankbar die Schale mit Kartoffelchips leer. „Ungarische Rhapsodie Nummer zwei“ und Schuberts „Moments Musicaux in f-Moll“. Die Kapelle des ‚Florian‘ ist mindestens so berühmt wie die Wiener Philharmoniker und viel kleiner. Vielleicht wird die untergehende Musik, der ich den größten Teil meines Lebens gewidmet habe, doch das noch überleben, was mir meine polnische Mutter und mein goethesüchtiger Klassenlehrer einst als Ideal des Deutschen vermittelten: eine Sprache, die präzise formulieren kann und die die Fantasie beflügelt.

Ja, Goethe war auch hier im ‚Florian‘, vorher schon Casanova und Goldoni und dann Lord Byron, Balzac, Proust, Richard Wagner, Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal und Jean Cocteau. Das ‚Florian‘ wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Treffpunkt der italienischen Patrioten, während sich die ‚Österreicher‘ gegenüber im ‚Quadri‘ trafen. Mit solchen Einzelheiten verschonte ich meine Begleiter, zumal Martin sicher mehr Interesse an Kartoffelchips als an Balzac hatte. Ich erwähnte auch nicht, dass Floriano Francesconi das ‚Caffè‘ am 29. Dezember 1720 mit dem Zusatz eröffnete ‚Alla Venezia Trionfale‘: das erste Café Italiens. Was ich aber doch sagte, war, dass Napoleon die Fassade gegenüber dem Dom errichten ließ und dem Platz dadurch sein jetziges Gesicht gab. ‚Den schönsten Festsaal Europas‘ nannte er ihn, dann verlor er seine Kriege und wurde 1815 nach St. Helena verbannt, zweifellos nicht das schönste Eiland im Atlantik. Damals wurde Venedig für mehr als vierzig Jahre österreichisch. Das war immer schon so: Sobald ich nur das kleinste bisschen zu wissen glaubte, habe ich sofort das Gefühl gehabt, der Welt etwas mitteilen zu müssen. Gleichzeitig weiß ich, dass die Welt meine Sicht der Dinge gar nicht wissen will, sondern nur das, was ihr in den Kram passt, und das sind tausende von unterschiedlichen ‚Kramen‘.

Fotos (2): gemeinfrei/Wikimedia Commons

Foto links oben: Jean Cocteau, 1920 | Foto links unten: Thomas Mann, 1929 | Foto rechts: Hugo von Hofmannsthal/alle gemeinfrei/Wikimedia Commons

Fotos (2): H. R./Privatarchiv

Ein zweiter Negroni war erforderlich, dann der kürzere Weg zur Anlegestelle San Marco: durch ein paar Gassen, vorbei an ein paar Luxusgeschäften, alles das, was ich noch gut genug in Erinnerung hatte, um mir meine rechthaberische Schneise durch die geschichtsvergessene Gegenwart zu bahnen. Um zwei Uhr waren wir wieder bei ‚Mabapa‘, da aßen wir etwas, mit Blick auf die fernen Umrisse der Bauten, die dem Trubel standhalten mussten, dem wir entronnen waren. Martin nahm die Fähre zurück aufs Festland, Rafał ein Bad in der etwas übersichtlicheren Menschenmenge der Gran Viale Santa Maria Elisabetta – von uns immer schon ‚die Reeperbahn‘ genannt – und ich meinen Mittagsschlaf. Als der Aperitif an der Gartenbar ausgetrunken war, aßen Rafał und ich am selben Tisch, an dem wir schon mittags gegessen hatten – jetzt bloß mit Beleuchtung, aber ganz dezenter.

22 Kommentare zu “#6.7 Venedig satt

  1. Mehr noch als die Touristenmassen in der Stadt haben mich bei meinem letzten Besuch die riesigen Kreuzfahrtschiffe mitten in der Stadt geschockt. Da ist dann wirklich jede Idee von Romantik dahin.

    1. Im Artikel tauchen sie ja auch auf. zumindest auf den begleitenden Fotos. Ich dachte allerdings, dass die im letzten Jahr verboten wurden!?

      1. Das wird unterschiedlich wahrgenommen. Der Maler Henri Matisse hat gesagt: „Nur die Schönheit von Mestre und Marghera entschädigt für das schreckliche Venedig.“

  2. Graffiti verhunzen wirklich jede schöne Ecke. Ich wundere mich immer, dass die sogenannten Street-Art-Künstler nicht gegen solchen Dreck auf die Barrikaden gehen.

      1. Und ich sehe noch einen Unterschied zwischen Buchstaben-Geschmiere und misslungenen Kunstwerken. Auffällig, dass es im Ostblock damals kein Graffiti gab: die bessere Erziehung oder die präsentere Staatsmacht?

      2. Es muss ja nicht gleich jeder unbegabte Künstler erschossen werden. Nicht mal jeder unbegabte Street-Artler.

      3. Die Motivation hinter dem Geschmiere bleibt mir auch verborgen. Ich rede natürlich nicht von Banksy. Aber wer dumm Wände besprüht fällt wohl wirklich nicht in die Kategorie untalentierter Künstler.

  3. Ich erinnere mich sowohl an die unglaublich langsame Vaporetto-Fahrt, wie auch an die unglaublich saftigen Preise dafür. Aber wahrscheinlich ist in dem Falle alles was ein paar Touristen fern hält erlaubt.

    1. Hohe Preise sind immer undemokratisch. Die Hoffnung, dass, wer mehr Geld hat, sich besser kleidet und benimmt, wird bisweilen enttäuscht, aber mehr Ruhe und mehr Komfort kann man sich schon erkaufen. Wie gesagt: sehr undemokratisch.

      1. Und Ruhe und Komfort gehört heutzutage doch zu den höchsten Luxusgütern.

  4. Vendedig österreichisch?! Das ist doch spannender als der Bellini-Wikipedia-Eintrag. Die Episode ist mir tatsächlich entgangen.

    1. Harry’s Bar war immerhin Stammkneipe von Hemingway und Orson Welles. So uninteressant ist das auch wieder nicht.

      1. Selbst die Wikipedia ist ja subjektiv. Jeder Schreiber entscheidet ja selbst, welche Fakten in den Artikel kommen und welche nicht.

  5. Gedichte habe ich nach meinen Venedigbesuchen (und auch sonst) nie geschrieben. ‚Steinfassaden blühn‘ trifft es aber genau auf den Kopf. So ist Venedig.

  6. Venedig nimmt jetzt Eintritt um mit den Touristenströmen klarzukommen. Nachvollziehbar und trotzdem absurd, dass man Eintritt für eine Stadt zahlen soll.

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