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Europa im Kopf  —   6. Kapitel: Veneto

#6.3 In richtig feiner Umgebung

Wir waren um acht die ersten Gäste, aber der lang gestreckte Raum füllte sich schnell. Alle waren elegant gekleidet und sahen aus, wie man es aus Lifestyle-Magazinen kennt, die Wissbegierige beim Friseur durchblättern, um das Lebensgefühl von Frauen zu ergründen, die sich einbilden, in diesen Magazinen das Lebensgefühl reicher Leute aufzuspüren. Es ärgerte mich, dass ich dauernd dachte: ‚Das hier würde Silke gefallen.‘ Aber ich konnte nicht anders.

Foto oben: ASjack/Fotolia | Fotos unten (2): Minerva Studio/Fotolia

Nach dem Essen fuhr Giuseppe uns an die Brücke, die über die Brenta führt. Sie wurde 1569 nach Plänen von Palladio gebaut, und sie zu überqueren ist immer wieder ein Genuss. Auf der Stadtseite führt die Straße steil nach oben. Dort spielten Musikanten, und eine Menschenmenge aus jungen Leuten hörte zu und tanzte. Ich stand da, umringt, das rechte Bein war angespannt, aber nicht verkrampft; die Dunkelheit war so freundlich und die Luft so lau. „Wie früher“, dachte ich, „wie früher!“ Wir gingen zurück zur Brücke; die Menschen wichen rücksichtsvoll vor mir aus. Ein Grappa in der Taverne am anderen Ufer; „wenn ich den austrinke, bin ich betrunken“, sagte Rafał. Das hatte Roland auch immer gesagt. Kein Tourismus, keine City, keine Bedrängnis. Eine ruhende Zeitlosigkeit und ein paar Stimmen, aus der Tiefe der Straße, aus dem Lautsprecher. ‚L’importante è finire‘, Mina, 1975.

Foto: M-baldi/Shutterstock

Um halb zehn am nächsten Morgen drängte ich Rafał, Martin anzurufen. Wir standen vor dem ‚Belvedere‘, der Himmel war wolkenlos. Na, um sieben war er nicht losgefahren, aber um acht, er sei jetzt bei Trient. Ich traute weder Martin noch dem Navi im alten Mercedes: „Da muss er runter von der Autobahn, Richtung Padova.“ Rafał gab es weiter. Wir setzten uns auf eine Bank, an der oberen Promenade mit Blick auf die Brücke in der Tiefe und warteten. Gegenüber die Berge, gegenüber gestern ein Unterschied, nicht wie Tag und Nacht, aber wie Regen und Sonne. „Das sieht heute alles völlig anders aus“, bestätigte Rafał. Nach einer Stunde schlug ich vor, Martin wieder anzurufen; er musste ja nun bald kommen. Erst meldete er sich gar nicht, dann machte er merkwürdige Angaben, dann sagte er, in zehn Minuten sei er da. Wir gingen zurück zum Hotel.

Foto oben links: Aleksandr Obenko/Shutterstock | Foto oben rechts: underworld/Shutterstock | Foto unten: travelview/Shutterstock

Die Restaurantterrasse ruhte sich immer noch ferragostrig aus, aber daneben lag eine Bar, es war zwölf, eine Zeit, zu der Rafał einen Espresso und ich einen Campari vertragen konnte. Nach zwanzig Minuten war Martin immer noch nicht da. Rafał bemühte erneut sein Handy. Er sei irgendwo anders, gab Martin zu und an, da sei wohl auch ein Hotel ‚Belvedere‘, das Navi habe das verwechselt. Verwechslungen haben ja schon oft zu Unannehmlichkeiten geführt, in Shakespeare-Dramen auch zum Mord. Martin erwähnte Schio und einen Brunnen. „Er lügt!“, dachte ich. Er liegt noch im Bett. Er ist noch gar nicht losgefahren. Rafał lief hin und her und rauchte. Ich setzte mich auf das Podest des Generals, der den langen Mantel geöffnet hielt, um seine ganze Pracht zu zeigen. Giuseppe musste zum dritten Mal vertröstet werden und sagte: „Pazienza! Aspetto.“ Es war heiß, und ich war wütend, dass ich nun seit Stunden nichts Sinnvolleres – was eigentlich? – tat als zu warten, während sich Martin wohlig im Bett wälzte. Andererseits: Schio gibt es wirklich, auch wenn man es nicht so wie Martin ausspricht, sondern ‚Skio‘. Der Name wäre ihm nicht eingefallen. Gleich hier in den Bergen heißt ein Ort ‚Rotzo‘ – wer kommt denn auf so was?

Foto oben links: RussieseO/Shutterstock | Foto oben rechts: underworld/Shutterstock | Foto unten: Shyripa Alexandr/Shutterstock

Gegen eins sah ich meinen alten Wagen auf den General zurollen. Martin hatte die Abfahrt in Trient verpasst und war ab Rovereto durchs Hochgebirge gefahren, sicher eine schöne Strecke für ihn – wenn er weniger verkatert wäre –, aber nicht für meine Nerven. Martin war so niedergedrückt, nahezu schuldbewusst, dass er sich zum ersten Mal in unser beider Leben entschuldigte oder zumindest sagte, dass es ihm leidtue.

So kamen wir gerade zu meiner – nicht zu Giuseppes – Mittagszeit bei Giuseppe an. Er freute sich über seine Schmutzwäsche, die er drei Tage lang hatte entbehren müssen. Martin baute auf, filmte auf dem Dach den Blick und im Wohnzimmer den Nippes, dann gab es Nudeln und danach Meringue-Torte, so süß, wie ich das Leben liebe.

Foto: elleon/Shutterstock

Mit Giuseppe führte ich das letzte Interview für den 1989er-Film. Nun geht es an die Verarbeitung. Erst mal aber ging es nach Marostica: Die Piazza ist wie ein Schachbrett gestaltet. Alle zwei Jahre bewegen sich dort lebendige Figuren über die weißen und schwarzen Platten, in mittelalterlichen Kostümen und auf Anweisung der beiden Kontrahenten. Das hat eine Geschichte: 1454 sollen zwei Ritter an dieser Stelle um die Tochter des Burgherrn gespielt haben, was ich einerseits außerordentlich großzügig finde. In Anatolien hätte es für die Schöne höchstens zwei Ziegen gegeben. Andererseits: Wie ich solchen Machismo verabscheue! Zum Feministen hat es trotzdem nicht gereicht bei mir. Dieses politisch Korrekte, Weiße nur ‚Unschwarze‘ nennen zu dürfen und statt ‚Schwanz‘ ‚Männermuschi‘ sagen zu müssen, das liegt mir einfach nicht.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Eigentlich war es zu heiß für Negroni; ich bekam trotzdem einen und Martins Drohne einen Eindruck vom Italien des Rinascimento Urbano. Nachdem sie auch die Sehenswürdigkeiten Bassanos mit Martins allmählich wieder erstarkender Hilfe aufgefangen hatte, fuhren wir nach Asolo.

Fotos oben (2): Martin Deja/Privatarchiv H. R. | Foto unten: Privatarchiv H. R.

In Asolo liegt Eleonora Duse begraben. Sie war, zusammen mit Sarah Bernard, die bekannteste Schauspielerin ihrer Zeit. Noch in meiner Kindheit sprach man ehrfürchtig von ‚die Duse‘, so wie man damals von Papst Pius oder Adenauer sprach, sie alle waren mehr Institutionen als Personen, und in meiner Erinnerung änderte sich das erst mit Elvis Presley, dem ersten Helden zum Begrabschen. Er konnte Caterina Valente nicht von ihrem Thron in meinem Herzen stoßen, aber mit der Vinyl-Single von ‚Tutti Frutti‘ zeigte ich mich Neuem gegenüber aufgeschlossen: Vinyl, nicht Schellack; Elvis, nicht Valente; ‚A wob bopa loom alop bam boom‘ statt ‚Tschi-Bam, Tschi-Bam-Bo-Bam-Billa‘.

Heute kennt man die Duse wohl nur noch in Asolo.

Ruhm dauerte früher länger. Mit dem Kino, dem Fernsehen und dem Internet wird man viel schneller bekannt, aber weil das Gedächtnis sinnvollerweise aussortiert, auch viel schneller wieder vergessen. Die Duse hat gegen Ende ihres Lebens in einem einzigen Stummfilm mitgespielt; ansonsten musste sie sich ihren Ruhm auf Tourneen bewahren. Das führte dazu, dass sie ausgerechnet in Pittsburgh starb, was ich fast schlimmer finde, als in Wurzen geboren zu sein. Ihr Sarg wurde verschifft und, weil sie in Asolo gelebt hatte, dort versenkt.

Foto links: pixinoo/Shutterstock | Foto rechts: Privatarchiv H. R.

Mit all diesen Informationen belästigte ich Rafał und Martin jedoch nicht, sondern führte sie gleich durch die ‚Villa Cipriani‘, am rosenbewachsenen Brunnen vorbei in den Garten. So stellt man sich italienische Landhäuser vor: etwas abgeblättert, sehr erhaben und mit einer Sicht in die Weite der dunstigen Hügel. Die Hotelleitung verkündet selbstbewusst: ‚We remind to our guests that in the hotel public areas we respect a smart casual code.‘ Das kann ich verstehen. Wenn Menschen nur Staffage sind und ich nichts mit ihnen zu tun bekomme, ziehe auch ich gute Kleidung einem guten Charakter vor.

26 Kommentare zu “#6.3 In richtig feiner Umgebung

  1. Smart casual code klingt allerdings eher langweilig. Wenn ich Menschen eh nur anschauen und nicht mit ihnen interagieren will, dann schon lieber volle Kanne Haute Couture 😉

      1. Zugegebener Maßen recht selten. Manchmal hat man in der ein oder anderen Großstadt Glück.

  2. „Kein Tourismus, keine City“ stimmt sicherlich. Manchmal stimmt aber auch „zu viel Tourismus, keine City“. Venedig ist ja eher Disneyland. In Porto wohnt auch kaum mehr ein Portugiese. Jedenfalls wenn man sich die Zentren anschaut.

      1. Wenn man vom Zentrum um den Markusplatz absieht, ist das sicherlich richtig.

      2. Mein Freund aus Rom sagt immer „das schlechteste Essen auf der Welt gibt’s in England und in Venedig“. Bisher habe ich noch nicht herausgefunden ob’s wirklich stimmt.

      3. Wenn man bereit ist, die Preise von Harry’s Bar zu zahlen oder im Da Fiore Glück hat, kann man sich das Essen in Venedig auf der Zunge zergehen lassen. Mehr darüber in den nächsten Blog-Beiträgen.

  3. Was als politisch korrekt oder neudeutsch „pc“ angesehen wird, kann mitunter wahnsinnig ermüdend sein. Aber ist Gleichberechtigung (was ist Feminismus anderes?) denn wirklich Veranlagungssache?

    1. Ich habe das Gefühl, es wird sich viel zu viel im politisch Korrekten verheddert und darüber die eigentlich wichtigen Kämpfe vergessen.

    1. Wie schon gesagt, Fernsehen und Internet machen es durch ihre Reichweite sicherlich um einiges leichter. Gleichzeitig wird natürlich auch die Konkurrenz größer…

    2. Das Konzept „Famous for 15 minutes“ ist mittlerweile auch schon wieder 50 Jahre alt. Das britische „Nine days‘ wonder“ sogar noch um einiges älter. Richtig ändert sich da nie etwas.

      1. Aufwendig und langwierig. Vielleicht lasse ich das Berühmtsein doch lieber bleiben.

  4. Also um die Reise mit Martin beneide ich Sie nicht. ZUmindest kommt er wirklich nicht besonders gut weg in diesem Reise-Tagebuch.

  5. Mit Lifestyle-Magazinen kenne ich mich nicht aus. Mit gutem Geschmack (meiner Meinung nach) schon. Den kann man sich mit Geld leider bisher nicht kaufen.

      1. Da möchte man hinzufügen: wer reich und gleichzeitig schlau ist, gönnt sich einen Stilberater

    1. Wenn’s für bittersüßen Negroni zu warm ist kann man ja zum Glück immer auf nen knackigen Weisswein oder gleich auf GinTonic ausweichen 😉

      1. Ein dankenswerter Hinweis. Es ist eigentlich auch nicht wirklich zu heiß, sondern höchstens zu früh für Negroni. Eine Aussage, die meine Mutter als „ehrpusselig“ abgetan hätte.

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