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01 – Judas

#5

„Es wäre besser für mich gewesen, wenn ich später geboren worden wäre. Dann hätte ich nur glauben müssen, was ich nicht zu sehen brauche. – Und doch habe ich an ihn geglaubt, auch so. Als Gott? Ich glaube, dass er glaubt, Gott zu sein. Doch ich hatte eine so ganz andere Vorstellung davon, wie Gott sein würde, wenn er leibhaftig zwischen uns tritt. Hier wollte ich eine Welt mit ihm aufbauen, nicht dort, wo er mich nicht braucht und wo ich nicht hingehöre. Ich will nichts von seinem Wasser, nach dem einen ewig nicht mehr dürstet. Ich will Durst haben und trinken und wieder Durst haben und wieder trinken. – Vermessen, ich weiß. Deshalb ereilt mich auch die Strafe, weil ich hier will, was ich dort nicht haben kann. Einmal, als wir nicht weit von Tiberias entfernt waren, sagte ich: ‚Komm, lass uns in die Stadt gehen!‘ Ich war neugierig, denn ich wusste schon damals, dass Tiberias ein Erlebnis sein musste. Herodes Antipas hätte es nie gewagt, irgendeine Provinzstadt nach dem Imperator zu benennen, die dieses Namens nicht würdig gewesen wäre. Nur die Strenggläubigen betraten Tiberias nicht, weil es auf einem alten Friedhof erbaut worden sein soll. Warum überhaupt ist die Berührung mit dem Tod Sünde?
––Jesus lehnte schroff ab. Ich versuchte, ihn zu überreden. Da sagte er: ‚Ich weiß auch, dass die Welt schön sein kann, aber das ist nicht mein Geschäft. Ich habe meinen Auftrag zu erfüllen. Ich muss unnachsichtig sein. Gegen mich und gegen die, die sich mir in den Weg stellen. Verstehst du das nicht?‘
––Es war eine Bitte und zugleich eine Drohung. Es war ein Augenblick der Schwäche. Begann damals seine Feindschaft gegen mich? Er merkte, dass ich etwas nicht begreifen wollte, mich gegen etwas wehrte, was seinen Fischern und Tagelöhnern selbstverständlich war. Von da an fingen unsere Wege an, auseinanderzulaufen. Und je fester ich ihn zu halten versuchte, desto mehr entglitt er mir. Das Wort ‚Heuchler‘ kam immer häufiger über seine Lippen. Er begann, mehr und mehr anzuklagen: die Schriftgelehrten, die Reichen, die Ungläubigen. Ich liebte ihn noch wie vorher, aber etwas in mir war enttäuscht worden. Er brauchte die Schwachen, die Kranken und die Dummen. Ich sehnte mich nach den Reichen und Mächtigen. Es hatte mir eine Zeit lang gefallen, dass er mit den Zöllnern und mit den Ausgestoßenen trank. Aber wo blieben die Taten?“

25Aber Jesus rief sie zu sich und sprach: Ihr wisset, daß die weltlichen Fürsten herrschen und die Obersten haben Gewalt.

Quelle: ‚Die Bibel‘ – Matthaeus 20,25

„Ja und? Er hatte versprochen, Israel zu befreien. Stattdessen predigte er.“

39[…] so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar.

Quelle: ‚Die Bibel‘ – Matthaeus 5,39

„Er widersprach sich, und ich wusste nicht mehr, worauf er hinaus wollte. Wollte er an der Spitze einer Bewegung stehen, die Veränderungen schaffen würde, oder wollte er das, was er ins Leben rief, niederreißen, sobald es zur Bewegung wurde? Auch das wäre einleuchtend gewesen. Denn eine Bewegung, die siegt, setzt sich bald ins Unrecht. Wollte ich Sieg? Wollte ich ihn an der Spitze? Oder etwa mich? Ich selbst tauge nicht dazu, an der Spitze zu stehen. Führer kann ich nicht sein. Mitläufer will ich nicht sein. Wahrscheinlich will ich gar nicht sein. Ich glaube, das, was ich eigentlich wollte, war, dass es weiterginge wie bisher. Ohne Kampf, ohne Frage. Und doch bedeutete jeder Tag Sieg oder Niederlage, weil ich nicht aufhören konnte, zu kämpfen und zu fragen. Ich war zu Hause zum Außenseiter geworden, weil ich mich zu entziehen versucht hatte. Nun geriet ich innerhalb der Außenseiter noch mehr in die Einsamkeit, weil ich mich auch hier zu entziehen versuchte. Jesus hätte das ändern können. Aber das war nicht seine Aufgabe. Ich hätte die Römer aus Galiläa vertrieben, wenn er es mir befohlen hätte. Aber er hat mir befohlen, meine Feinde zu lieben, und ich war hilflos. Seine Lehre, war sie wirklich so einmalig? – Eigentlich nicht. Aber er hatte diese Gedanken als Erster ausgesprochen. Und er hatte genügend Menschen gefunden, die ihm zuhörten. Drohungen und Versprechungen waren seine Waffen. Das hatte Erfolg bei den einfachen Leuten. Doch jetzt? In Galiläa ist er gescheitert. Selbst in seinem Kapernaum. Er hat die Städte beweint und verflucht. Aber das nutzte ihm wenig. Die Menschen sind ihm davongelaufen und jubeln anderen Wundertätern zu, die auch die Hand auflegen. Er hat nur noch eine einzige Möglichkeit – seine letzte: Jerusalem. Die Hauptstadt. Und dazu braucht er mich. Nicht den winselnden Johannes und nicht den säbelrasselnden Petrus, sondern mich, den Sonderling. Mich fordert er heraus, nur mich, weil er weiß, dass nur, wer so liebt wie ich, genügend hassen kann. Leidenschaften sind zähere Freunde als Menschen. Sie werden nicht gemessen an Gut oder Schlecht. Da zählt nur: Fressen sie mich oder fresse ich sie? – Wahrhaft wölfisch.“

28[…] Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.

Quelle: ‚Die Bibel‘ – Mattaeus 5,28

„Was für eine Forderung! Hätte ich ein Herz, das ‚Ehebrechen‘ wäre meine vordringliche Beschäftigung, so oft werfe ich begehrliche Blicke. Was um alles in der Welt verlangt er? Was maßt er sich an? Die Thora verbietet nur, sich nackt zu zeigen, er verlangt – er verlangt alles!“
––Judas starrte auf die fleckige Tischplatte. Die niedrige Decke, der unebene Boden, die ganze Armseligkeit des Raumes.
––„Mein Gott, warum wage ich nur, so viel zu denken und so wenig zu tun? Warum ist es nicht umgekehrt? Ich habe alles verloren und war so voller Hoffnung. Ein Aufbruch. Wir lebten zusammen, ja, wie Brüder und vermissten nichts. Wir aßen die Ähren von den Feldern und … Es war eine Qual.“

12Etliche enthalten sich der Ehe, weil sie von Geburt an zur Ehe unfähig sind; etliche enthalten sich, weil sie von Menschen zur Ehe untauglich gemacht sind; und etliche enthalten sich, weil sie um des Himmelreichs willen auf die Ehe verzichten. Wer’s fassen kann, der fasse es!

Quelle: ‚Die Bibel‘ – Das Evangelium nach Matthaeus 19,12

„Ich bin von Jesus zur Ehe untauglich gemacht worden und zu jeder Art menschlichen Zusammenlebens auch.“

8Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. Also ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist.

Quelle: ‚Die Bibel‘ – Johannes 3,8

„Maria, wie denkst du über das Blasen? Maria!“ Er sprang auf. Er hatte nicht bemerkt, dass sie eingeschlafen war. „Maria!“ Er schüttelte sie. „Maria, komm, lass mich bei dir schlafen!“
––„Gib doch Ruhe! Du bist ja betrunken!“
––„Ja, natürlich bin ich betrunken, was sonst? Ich brauche dich. Bitte! Ich brauche deine Wärme. Außer dir habe ich niemanden mehr.“ Er umschlang sie und presste seine Lippen gegen ihre Haut.

34[…] In derselben Nacht werden zwei auf einem Bette liegen; einer wird angenommen, der andere wird verlassen werden.

Quelle: ‚Die Bibel‘ – Lukas 17,34

„Du kannst ruhig mit mir schlafen, Maria. Ich bin derjenige, der verworfen wird. Ich bin es. Nicht du. Du nicht!“
––Sie riss sich los und lief zur Tür. „Geh jetzt!“
––Er ließ sich wortlos aufs Bett fallen.
––Sie seufzte und schloss die Tür wieder. Einen Augenblick lang sah sie auf ihn herab, fast zärtlich. Er wirkte plötzlich friedlich, wie er dalag, reglos, mit geschlossenen Augen. Die Anspannung schien nur noch Erschöpfung.

Titelgrafik mit Material von Shutterstock: rudall30

26 Kommentare zu “#5

  1. Nur glauben müssen, was ich nicht zu sehen brauche. Toll. Erinnert mich ein bisschen an Messiah auf Netflix.

    1. Habe ich auch gesehen. Was für ein spannendes Gedankenspiel, zu schauen wie es wäre wenn auf einmal ein neuer Messias unter uns wäre.

  2. Irgendwann sagt sich jeder, es wäre besser für mich gewesen, wenn ich wann anders geboren worden wäre. Wahrscheinlich hätte man einfach andere Probleme. Einfacher wäre das Leben sicher nie.

      1. Nicht alle haben diese Sehnsucht. Manche lieber knifflige Probleme. Sie zu lösen stärkt ihr Selbstwertgefühl. Nordkora war für Trump etwas zu knifflig. Gut, dass diese Pleite sein Selbstwertgefühl nicht beschädigt hat.

      2. Trumps Selbstwertgefühl ist auch nicht viel weiter verkleinerbar. Jedenfalls wenn meine Hobby-Psychologie stimmt.

      3. Ach Gott, es gibt ja kaum eine erfolgreiche Person, die ein kleineres Selbstwertgefühl hat als Trump.

      4. „Narzisstische Persönlichkeiten streben nach Macht, weil sie auf diese Art und Weise andere Menschen veranlassen oder in gewisser Weise auch zwingen können, ihnen Anerkennung zu geben. Narzissten wollen bewundert werden. Und wenn sie Macht haben, dann können sie sich sozusagen diese Anerkennung und Bewunderung von anderen Menschen kaufen. Und deswegen sind Macht und Narzissmus sehr eng miteinander gekoppelt.“ (https://www.br.de/puls/themen/welt/interview-donald-trump-ist-ein-extremer-narzisst-100.html)

    1. Oh so einfach ist das meistens nicht. Jedenfalls nicht in meiner Erfahrung. Die Gedanken können noch so klar sein, bis zur Tat ist es oft ein komplizierter Weg.

      1. Ach was, das ist übertrieben. Es gibt immer viel schwarz und viel weiss. Heute gibt es dummen Populismus im gleichen Maße wie aufgeweckten Aktivismus.

  3. „Er widersprach sich, und ich wusste nicht mehr, worauf er hinaus wollte. Wollte er an der Spitze einer Bewegung stehen, die Veränderungen schaffen würde, oder wollte er das, was er ins Leben rief, niederreißen, sobald es zur Bewegung wurde?“ Hmmm, ist den Widerspruch immer gleich Richtungslosigkeit? Dann wäre Populismus ja doch der einzige Ausweg…

    1. Dass Judas es nicht weiß, heißt ja nicht, dass auch Jesus nicht wusste, was er wollte. Die Idee der permanenten Revolution hat allerdings 1900 Jahre später Mao und seine Jünger in den Untergang getrieben. Bevor die Revolution ihre Kinder frisst, frisst sie erst mal ihre Großväter. Populismus ist schwer zu definieren. Unterstellt wird er immer nur den anderen.

      1. E geht allerdings in der Stelle um das innere Begehren, nicht um das bloße Anschauen einer Frau.

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