In einer geringen Entfernung von mir rang Claudia mit einem Mann. Sie wehrte sich oder er wehrte sich, aber beide gaben keinen Laut von sich. Sie schrie nicht um Hilfe, und ich hatte das Gefühl, sie versuchte auch gar nicht, davonzulaufen. Eher schien es, als kämpften sie verbissen um etwas, das ich nicht sehen konnte.
––Ich zögerte nur einen Augenblick. Nur zwei, drei Sekunden, in denen ich gegen den Wunsch ankämpfte, umzukehren und Claudia, die nichts von mir wissen wollte, ihrem Schicksal zu überlassen. Dann lief ich, so schnell ich konnte, auf die beiden zu. „Claudia!“, schrie ich, „Claudia!“
––Der Mann riss den Kopf herum, sah mich, ließ Claudia los und rannte davon.
––Ich war wie von Sinnen. Ohne Claudia zu beachten, lief ich an ihr vorbei, hinter ihm her. „Halt! Bleiben Sie stehen!“ Meine Lage war aussichtslos.
––Er war jung und schlank. Er trug keinen Mantel und war deshalb wesentlich gewandter als ich. Doch plötzlich glitt er aus und stürzte.
––Ich bemühte mich, noch schneller zu laufen, keuchend, verbissen. Der Fremde musste sich verletzt haben, denn er versuchte zwar, aufzustehen, sank aber wieder zusammen und griff, wie ich schon deutlich erkennen konnte, in seine Jacke.
––„Vater!“ Claudias Schrei kam so überraschend und war so voller Entsetzen, dass ich mich unwillkürlich umwandte. Im nächsten Augenblick hörte ich ein scharfes Geräusch. Ein brennender Schmerz durchriss mich. Ich verlor die Besinnung …
Seither bin ich an beiden Beinen gelähmt. Die Kugel hatte meine Wirbelsäule verletzt, und ich muss Gott täglich danken, wie sich eine ältere Schwester ausdrückt, dass ich überhaupt noch am Leben bin.
––Objektivität. Das Leben an sich vorbeiziehen lassen, unbeteiligt, von höherer Warte sehen und urteilen, unbeeinflusst von persönlichen Interessen und Gefühlen, unvoreingenommen nach Erkenntnis streben, die Wahrheit der Dinge suchen.
––Objektivität. Das ist es, was wir vom Alter erwarten und erhoffen. Denn all der Stoff, der sich im Laufe eines Lebens angesammelt hat, soll einer Läuterung unterworfen werden, zum eigenen Nutzen und dem der anderen. Aber das ist eine trügerische Sehnsucht. Denn wer kann gerecht sein, wer Beweggründe einer Tat nachempfinden, wenn er außerhalb des Lebens steht, kaum noch beachtet und sogar zusätzlich an einen Rollstuhl gefesselt?
––Erkennen und verstehen kann nur, wer unmittelbar beteiligt ist, wer leidet, lacht und die widersprüchlichen Empfindungen erträgt, denen Menschen täglich ausgesetzt sind. Verständnis entsteht nur aus dem eigenen Fühlen, aus der Subjektivität, die etwas tut, was den Menschen verzehrt und etwas geschehen lässt, was ihn aufreibt. Die Unlogik des Lebens ist nur der Unlogik des Lebenden zugänglich, und wer aus diesem Stromkreis ausgetreten ist, wen dieser Pulsschlag zwischen Plus und Minus nicht mehr zittern und triumphieren lässt, der mag sezieren und dozieren und sich dabei wichtig und erhaben dünken – in Wahrheit ist er nur ein Ausgeschlossener.
Ich habe nichts mehr zu hoffen, und ich hoffe nichts mehr. Natürlich gibt es unzählige Fragen. Ich kenne sie alle, in allen Einzelheiten, genauso, wie ich ihre möglichen Antworten kenne. An ein Zusammentreffen von mehr als drei Zufällen habe ich nie geglaubt.
––Den Mann, der, nach Claudias Schilderung, plötzlich aus dem Dickicht aufgetaucht war und nach dem Schuss ebenso plötzlich wieder im Dickicht verschwand, hatte Claudia ihn wirklich nicht gekannt? Hatte sie, wie sie behauptet, deshalb aufgeschrien, weil ihr jäh die Gefahr, in der ich mich befand, bewusst geworden war?
Von Christian habe ich nie wieder etwas gehört.
––Meine Haushälterin schwört, er sei an jenem Abend nicht mehr erschienen.
––Voriges Jahr las ich durch Zufall in einer Zeitung, er sei tot aufgefunden worden, die Obduktion sollte die Todesursache klären. Ich habe die Notiz nicht weiter verfolgt. Ich bin mir noch nicht einmal darüber klar, ob Claudia mehr weiß als ich. Wir haben eigenartigerweise nie mehr über Christian gesprochen wie über so vieles nicht.
––Vielleicht war die Erzählung von Claudias Abtreibung nichts weiter als ein Mittel, um mich unter Druck zu setzen. Aber soll ich sie tatsächlich danach fragen? Ich glaube, ich könnte die Antwort, gleich, wie sie ausfiele und ob sie wahr wäre, nicht ertragen. Das ist sicherlich eine Schwäche, doch ich meine, ich zeige schon genügend Stärke, indem ich die Ungewissheit hinnehme.
Etwas anderes aber macht mir am meisten zu schaffen: Ich bereue, dass ich in den Kampf eingegriffen habe. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich meiner Tochter zu Hilfe gekommen bin. Ich kann mir meinen Einsatz nicht verzeihen, der mein Leben zerstört hat. Ich weiß, ich habe das einzig Richtige, das Selbstverständliche getan, aber ich habe mich damit zum Krüppel gemacht, und das werde ich mir niemals verzeihen können. Ich wehre mich verzweifelt dagegen, aber ich beginne, meine Tochter zu hassen. Dabei pflegt sie mich aufopfernd.
––Vor einigen Tagen ist mir bewusst geworden, dass auch sie mich hasst, schon seit Langem, vielleicht schon seit damals. Ihr Leben ist nicht weniger trostlos als meins, denn sie widmet sich nur mir. Es ist zwecklos, sie davon abbringen zu wollen. Sie betrachtet dieses Opfer als Pflicht, gewissermaßen als notwendige Rückerstattung eines von mir geleisteten Einsatzes, und die Leute geben ihr recht. So als hätte ich Forderungen zu stellen, so als könnte auf diese Weise ein Ausgleich geschaffen werden. Ein Ausgleich, ja genau das ist es, was sie sich wünscht, was sie befreien würde.
––Eine einmalige Leistung, Folter, Steinigung, aber dann gelöst von allen Verpflichtungen. Ihre Folter dauert genauso lange wie meine: bis an mein Lebensende.
––Sie ist nicht in der Lage, sich über die grausame Forderung der Nächstenliebe hinwegzusetzen, und ich muss ihre Schwäche respektieren. Sie wäre nicht glücklicher, wenn sie von mir ginge. Die Verantwortungslosigkeit und Undankbarkeit mir gegenüber würde sie unaufhörlich quälen. Ihr Los ist schlimmer als eine nächtliche Vergewaltigung im Park, und ich verstehe, dass sie mich hasst.
––Unser Gefühl für Pflicht und Anstand hat uns aneinandergekettet. Hilflos ertragen wir einander und erzählen uns oft, wie glücklich wir sind, einander zu haben.
––Manchmal bin ich fast so weit, sie wegzuschicken, um ihrer selbst willen, aber ich weiß, ich werde es nicht tun. Sie hat ja genauso wenig zu hoffen wie ich. Wir haben wirklich nur noch einander. In letzter Zeit erscheint sie mir oft in einem eigenartig benommenen Zustand zu sein, doch ich wage es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken.
––Obwohl ich an den Rollstuhl gefesselt und deshalb sehr gehemmt bin in meinen Unternehmungen, langweile ich mich nie. Ich lese viel, fast den ganzen Tag. Abends sehe ich meist fern. Manchmal besuchen uns auch Freunde, deren Achtung wir uns schämen müssen, weil wir gegen unseren Willen diese Achtung zum Maßstab unseres Handelns erhoben haben. Wenn ich weiterhin viel lerne und mir große Mühe gebe, erreiche ich vielleicht noch den Zustand, den man als ‚weise‘ bezeichnet.
––Warum leiden wir so, wenn wir wunschlos sind?
Titelillustration mit Bildmaterial von Shutterstock: Carolyn Franks (Mann), Pru Studio (Hand mit Stift) und Arkadiusz Fajer (Spritze), iodrakon (Augen), Juta (Frau mit Tasse), seligaa (Frau im Mantel), unsplash/Doug Maloney (Rollstuhl)
Moment moment, wo kam denn nun dieser Schuss her? Also aus welchem Grund?
Ob das wohl noch weiter aufgeklärt wird?
Oh Mann, und man dachte die ganze Zeit es passiert Christian oder Claudia etwas Schlimmes 😳
Damit hätte ich definitiv auch nicht gerechnet!
Das war wohl auch genau der Plan. Je höher die Sympathie für den Hauptdarsteller, desto größer der Einschlag wenn der Schuss fällt.
Das kommt bestimmt in den folgenden Kapiteln noch. Nach all dem Aufbau kommt bestimmt noch ein großer Paukenschlag.
Da hat man die ganze Zeit über ein Gefühl wohin dieses Geschichte führen könnte und dann gibt es eine Wendung, die alle bsiherigen Gedankengänge komplett über den Haufen wirft. Vielen Dank für die Überraschung!
Eine Überraschung war das in der Tat. Aber ich wollte doch so gerne mehr über die Beziehung zwischen Tochter und Vater wissen. Am Ende bleibt doch alles unausgesprochen und im dunklen.
Was für eine Geschichte! Man ist nach der Auflösung ähnlich verwirrt wie vorher.
Erst durch den letzten Satz wird ja der erste Satz des Kapitels verständlich. 1967 habe ich ihn geschrieben. Peter Handke hat „Wunschloses Unglück“ 1972 herausgebracht. Wer zu spät veröffentlicht, den bestraft das Leben.
Zufrieden und doch enttäuscht. Es bleiben ja doch so viele Fragen offen.
Es gibt ja auch noch vier Kapitel!
Ach was! Ich hätte auch schwören können, dass diese überraschende Entwicklung das Ende der Erzählung war.
Noch ist ja auch niemand vom Turm gesprungen 😉
Verständnis entsteht nur aus der Subjektivität!
Das ist natürlich eine kühne Behauptung des Ich-Erzählers. Die geschilderten Räusche des süchtigen Christian habe ich alle durchlebt. Ganz ohne Drogen. Nachts im Bett beim Phantasieren der Geschichte.
Eine kühne Behauptung, aber durchaus interessant. Gerade deshalb lernt man doch aus eigenen Fehlern am ehesten.
Ich glaube euch, dass da viel dran ist. Der Mensch ist ja eher träge wenn es um das erlernen von Neuem geht. Die eigene Erfahrung ist da oft ein guter Beschleuniger.
Einander ertragen klingt erst einmal sehr hart, aber manchmal ist es schon ein Trost nicht allein sein zu müssen. Ganz egal was einen da aneinander bindet.
Es gibt Leute die brauchen sogar solch eine Reibung um sich lebendig zu fühlen. Andere leiden unter der ständigen Anspannung.
Leiden und brauchen schließen einander nicht aus.
In der Tat. Wenn Gefühle so einfach wären würden wir ja sicherlich leichter durchs Leben kommen. Jedenfalls gäbe es weniger Missverständnisse.
Das Leben ist unlogisch. Eine schwierige Einsicht, aber wenn man sie einmal akzeptiert hat, ist das auch sehr beruhigend.
Trotzdem versuchen wir ja immer, eine Art Logik in unseren Lebenslauf hinein zu interpretieren. Bei meinen ausgedachten Geschichten klappt das natürlich besser.
Klar, wir suchen uns ja auch unsere eigene Logik im manchmal unlogischen Leben. Sonst wäre man ja komplett orientierungslos.
Ob das wirklich Hass ist was der Vater da spürt? Man könnte ja nachvollziehen, dass die Tochter ihr Leben, bzw. ihre Rolle als Pflegerin des Vaters hasst. Aber doch wahrscheinlich eher nicht ihn als Person.
Da müssten wir sie fragen … Hass ist ein dynamischeres Gefühl als Gleichgültigkeit.
Witzig wie viele Leser gleich dachten die Geschichte sei hier bereits zu Ende. Zuzutrauen wäre es Ihnen natürlich , Herr Rinke 😉 Bin aber auch gespannt was nun in den nächsten Kapiteln mit der Tochter passiert.
Interessant doch auch, dass dieser mysteriöse junge Mann ebenfalls in sich zusammensackte. Hat die Tochter vielleicht ebenfalls eine Waffe bei sich gehabt?