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Kaum einer will ja noch weiterdenken als bis zur nächsten Wahl oder weiterlesen als bis zum Ende des Displays. Stimmt eigentlich nicht. Viele machen sich Sorgen: um manipulierte Nahrung, um abgeholzte Regenwälder und abgeschmolzene Polkappen, um Diesel und Feinstaub, um rechtes Gedankengut, um Altersarmut in dreißig Jahren, um die Zukunft also. Andere haben Sorgen: in der Gegenwart. Sie wollen über den nächsten Tag kommen und hoffen, dass es dann auch übermorgen klappen wird, mit der Nahrung, mit der Fortpflanzung. Oder sie wollen bei der nächsten Wahl selber siegen und hoffen, dass es dann auch einen Weg geben wird, um ihre Versprechungen zu erfüllen oder vergessen zu lassen, so kurzlebig, wie alles geworden ist – außer den Menschen, jammern die Versicherungen. Aber das Gedächtnis der Menschen, in dem sie ohnehin nichts mehr aufbewahren, was man, wenn es denn sein müsste, ergoogeln könnte, schrumpft entweder wegen Unbenutztheit oder ertrinkt in Überflutung.
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Ich alter Mann habe mir, wenn ich früher mein Leben festhalten wollte, die Motive genau ausgesucht und überlegt, was ich fotografiere oder filme, bevor ich die Rollen hoffnungsvoll zur Entwicklung brachte. Heute hat man es gut, filmt drauf los und löscht, was nichts geworden ist. Der Augenblick wird zum Kamerablick. Alles kann ich festhalten, aber auch loslassen. Ohne Risiko, ohne Verpflichtung. Zivilisationskritiker würden sagen, mit Lebensmitteln und Beziehungen läuft es genauso: ausprobieren, und was nicht schmeckt, wird weggeschmissen. Dumm gekaufte Kleidung kann man sogar noch nach Afrika verschenken und sich dadurch beliebt machen, wenn auch nicht bei den afrikanischen Textilherstellern; trotzdem bringt es Facebook-Likes, wenn man es aufschreibt, und was schreibt man nicht auf, facebookmäßig?
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Briefe schreibt man ja nicht mehr. Zu langsam. Und lesen? Wer liest noch Romane von Tolstoi oder Thomas Mann? Zu lang. Als Filmvorlage für ‚arte‘ vielleicht. Aber wer sieht das dann auf dem Bildschirm aufmerksam hintereinander weg bis zu Ende? Bei den Privaten geht es sowieso nicht wegen der Werbepausen, die Öffentlich-Rechtlichen langweilen, und so ist Zappen zum abendlichen Gestaltungsmittel geworden für die Zurückgebliebenen, die sich noch vom regulären TV-Programm bedienen lassen. Umfangreiche Handlungen werden am besten auf Daily-Soap-Format gestutzt. Sich wirklich auf etwas einzulassen, lange, vielleicht lebenslang, ist selten geworden. An die Stelle einer Entdeckungsreise sind sechs Kurzurlaube getreten.
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Das ist ja nicht schlecht, zumal sowieso schon alles entdeckt worden ist, von den Meerestiefen bis zu den Himalajagipfeln, und Neues findet man überall, wenn man nur danach sucht, kann man sich einreden. Neugier belebt, und Glauben tut so gut. Zynismus ist böse und macht hässlich, zumindest die Seele, falls es sie gibt. Jeder, der nicht geboren wurde, ist zu beneiden, vor allem, weil er nicht sterben muss. Wer aber lebt, was zurzeit mehr als sieben Milliarden Menschen tun, dem hilft es, gute Gene, gutes Geld und ein gutes Herz zu haben. Gottvertrauen liegt nicht allen, doch was für eine Gnade ist es! Beten und zu wissen, mein Schöpfer ist nicht nur ehrlich interessiert an dem, was ich armer Sünder da murmele, er wird auch seine Planung mir zuliebe umstellen, wenn er der Meinung ist, ich habe triftige Gründe für meine Bitten; und wenn ich bloß ein paar Rosenkränze abgearbeitet habe, ist er besonders gerührt, und die Engel sind es erst recht. Glaubenssicherheit ist ein Trumpf. Aber welchen Wert hat er? Wird er helfen, die Menschen einsichtig und umsichtig zu machen? Oder befindet sich dieser Trumpf in der Hand von zügellosen Richtigspielern? Macht der Seligkeitsanspruch humorlos, fanatisch und lebensfremd, weil es ja erst später so richtig losgeht: nach dem Tod?
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Darüber darf man nicht spotten, schon gar nicht in islamischen Ländern. Am südlichen Mittelmeer wurden Amerikaner umgebracht, weil in Los Angeles ein unbeholfener Film gedreht worden war, den kaum jemand gesehen hat. Aber er soll Mohammed verunglimpft haben. Das ist, als würden in Afrika Deutsche abgeschlachtet, weil irgendwo einem schadstoffmanipulierten Volkswagen der Keilriemen gerissen ist. Unerträglich! Selbst die Frauen von Pussy Riot leben immer noch, obwohl sie nicht nur im Film, sondern persönlich in der orthodoxen Kirche anwesend waren, um zu provozieren.
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Der Stammtisch und alle, die an ihm sitzen, könnten sich darauf verständigen, dass zehn Prozent der Menschheit ausgerottet werden müssen, bevor diese zehn Prozent die Menschheit ausrotten. Wer allerdings die todbringenden zehn (oder auch vielleicht zwölf) Prozent sind, darüber gehen die Meinungen an westlichen und an nahöstlichen Stammtischen auseinander.
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Keiner ist sich einig, aber alle sind sich sicher: Gott ist groß. Und wie groß! Es kann einfach nicht sein, dass seit Menschengedenken alle immer wussten, das Leben ginge weiter, wenn es vorbei ist, fasteten und Grabmäler bauten, und dann haben sich vom Assyrer bis zum Papst alle geirrt? Kann nicht sein. Irgendwas wird dann doch noch kommen. Irgendetwas muss doch kommen! Oder war der Augenblick wirklich nur der Kamerablick: Abbild einer Vorlage, die wir leider erst in ihrer Reproduktion wahrgenommen haben? Zu spät fürs Original, für Ausdauer. Für die Ewigkeit.
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Anderen Gutes tun, und sich selbst vervollkommnen. Das gilt vielen als Bestimmung, doch wie schafft man das? Handeln macht schuldig, Nichthandeln auch. Keine Beschneidung des Körpers oder des Geistes kann die Erbsünde, mit einem Gewissen gestraft zu sein, tilgen. Hoffnungslos? Glücklicherweise hat jede nächste Generation den Wunsch, die Welt vorwärtszubringen, was sowohl in den Faschismus als auch in die Demokratie geführt hat. Doch Unwissenheit wächst nach wie Bartstoppeln, und das Modell, das nach dem Untergang der Sowjetunion gottgewollt schien, ist inzwischen für die meisten Menschen Teufelswerk. Also programmieren sie ihr Smartphone um und vertrauen auf die App, die das Navi hat, das die Route bestimmt, die ihnen den Weg weist, der zu dem Ziel führt, das sie nicht kennen. Alles ist abgesichert, aber was ist die Währung, in der entschädigt wird? Das Ausmaß an Angst wird nicht geringer.
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Vielleicht wird die Menschheit an ihrer Unfähigkeit, langfristig, geschichtsbewusst und zukunftsorientiert zu denken, zugrunde gehen. Warum eigentlich? Sind die Eidechsen daran zugrunde gegangen? Sie leben seit 190 Millionen Jahren, denken gar nicht, und wenn man nach ihnen greift, behält man nur den Schwanz in der Hand, wie bei manchen Männern. Pessimisten behaupten, dass Eidechsen weder mit dem Bau von Atomkraftwerken angefangen noch mit dem Briefeschreiben aufgehört hätten.
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Endzeitszenarien gibt es zwar, seit Menschen es donnern hörten, aber ihr eigener Beitrag zum Untergang wird auch ohne Teufels Werk immer effektiver. Das Jüngste Gericht, selbstgekocht. Jeder kümmert sich gerade noch um die Letzten Dinge: den SMS-Eingang prüfen, einen neuen Klingelton aufs Handy spielen, Popcorn aus dem Karton fingern – und dann beginnt der ultimative Katastrophenfilm in 3D.
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Na schön, wenn sich die Menschheit also tatsächlich aus Unachtsamkeit oder Nachlässigkeit auslöscht oder weil einige Ungeduldige das nächste, bessere Leben einfach nicht abwarten wollten – was wäre daran so schlimm? Das Universum ist lange ohne die Erde ausgekommen, die Erde lange ohne die Menschen. Es wird auch ohne Menschen weitergehen. Wenn nicht, fände ich das ärgerlich, aber – mein Gott! – es merkte ja keiner.
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– E N D E –
Ich habe das Gefühl, dass beides wahr ist: man macht sich Sorgen und möchte trotzdem nicht weiterdenken. Ist es nicht so?
Viele dieser Sorgen scheinen mir auch lediglich eine Modeerscheinung zu sein. Viele entscheiden sich vegan zu leben weil’s gerade in Mode ist, nicht weil sie überzeugt sind. Viele springen auf den #MeToo-Wagen ohne wirklich zu differenzieren worum es da geht.
Ich würde anmerken, dass die Aktionen von Pussy Riot eher Protest als reine Provokation sind.
Aufmerksamkeit wecken sie jedenfalls.
Wie toll, dass heutzutage jeder jeden Moment mit seinem Smartphone festhalten kann. Wie schade, dass die Fotografie dadurch auch irgendwie an Bedeutung verliert.
Einmaligkeit und ständige Verfügbarkeit schließen einander aus.
Man schreibt natürlich alles auf, also facebookmäßig. Wie geht der Spruch? Wenn es nicht auf Facebook steht, ist es nicht passiert.
Spätestens wenn unser Planet nicht mehr bewohnbar ist, wird man sehen, dass die Menschheit an ihrer Unfähigkeit zugrunde gegangen ist.
Wenn unser Planet unbewohnbar ist, wird man gar nichts mehr sehen, allenfalls noch das Jenseits.
Stimmt, leider wird es dann ein kleines wenig zu spät für solche Einsichten sein.
Über Religion darf man nicht spotten, weil man quasi den ganzen Lebensentwurf eines Menschen in Frage stellt. Den ganzen Sinn seines Daseins. Ich verstehe schon, dass das ein sensibles Thema ist. Ein bischen Entspannung würde wohl trotzdem allen gut tun.
Man sollte über alles lachen dürfen. Wie schwer zu ertragen will man das Leben denn noch machen? Ein bischen Humor macht doch alles soviel leichter.
Über etwas lachen oder über etwas spotten sind allerdings auch zwei Paar Schuhe. Wobei im Falle der Religion meist beides nicht toleriert wird.
Will wirklich jede Generation die Welt vorwärtszubringen? Wollen nicht zumindest die meisten „Führer“ ihre eigenen Interessen vorwärtsbringen?
Vielleicht. Aber das geben die meisten nicht mal vor sich selber zu.
#Trump
Macht der Seligkeitsanspruch humorlos, fanatisch und lebensfremd? Man kann nur hoffen, dass diejenigen, die denken es gehe erst nach dem Leben richtig los, am Ende nicht ihre Zeit auf der Erde vergeudet haben.
Wer nicht merkt, dass er sein Leben vergeudet hat, der hat es nicht vergeudet.
Das stimmt natürlich. So habe ich das noch nicht gesehen.
Und da fragt man sich gleich wieder wie sehr man Menschen missionieren darf oder muss bzw. ob man sie einfach in ihr (subjektiv gesehenes) Unglück laufen lässt.
Jeder ist für sein eigenes Leben verantwortlich. So einfach ist das meiner Meinung nach.
Wenn man jemanden liebt, schafft man es nicht, still zu halten. Bei anderen sollte man sich vielleicht lieber nicht einmischen.
Zusammen sind wir allerdings für die Entwicklung unseres Landes verantwortlich. Da muss man sich schon einmischen.