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Pünktlich um sechs Uhr dreiundfünfzig, wie immer, stand das unappetitliche, fromme Fräulein auf, wusch sich nicht, putzte sich nicht die Zähne, zog sich etwas Hässliches an, aß eine Scheibe Roggen-Mischbrot mit Pflaumenmus und trank dazu eine Tasse mit warmem Wasser aufgegossenen Instant-Kaffee.
Dann ging es zu seiner Arbeitsstätte. 53 Minuten zu Fuß.
Das unappetitliche, fromme Fräulein war in einem Betrieb mit 179 Mitarbeitern beschäftigt.
Dort verwaltete es die Portokasse, was ihm viel Freude bereitete, weil es immer ein paar Gulden für Büchsenmilch zu seinem Pulverkaffee unterschlug, was aber nicht auffiel, da niemand das unappetitliche, fromme Fräulein beachtete, zumal längst schon seine Aufgabe von einer Frankiermaschine übernommen worden war, so dass das unappetitliche Fräulein seine Abzweigung nicht beichten zu müssen meinte, obwohl es so fromm war. Eine kleine Verstohlenheit eben.
Die Gewerkschaften hatten in langwierigen Verhandlungen durchgesetzt, dass das unappetitliche, fromme Fräulein aus übergeordneten Erwägungen heraus bis zum Rentenalter in genau seiner Funktion beschäftigt werden musste, selbst wenn die Firma aufgelöst und aus dem Grundbuch getilgt würde.
Eines Tages ging das unappetitliche, fromme Fräulein bei „Rot“ über die Chaussee-Kreuzung, weil es so mit dem Gedanken befasst war, sich am nächsten Tag wieder nicht die Haare zu waschen, dass es seine Umgebung kaum mehr wahrnahm.
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Dabei wurde es vom Dreirad eines Kleinkindes erfasst und verstarb noch an der Unfallstelle. Das Kleinkind übrigens auch.
Die Eltern setzten sich über den Protest vieler Zombies hinweg und bestatteten beide Toten gemeinsam im selben Massengrab, in dem schon Mozart und die Gefallenen des Ersten Weltkrieges ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Dann ließen sie sich scheiden und heirateten jeweils andere Partner.