Sie aß das Brot in großen Bissen.
––„Auf Boulevard-Zeitungsformat gestutzt könnte ich über meine Ehen sagen: Meinen ersten Mann habe ich geheiratet, weil ich ihn bewundert habe. Geliebt habe ich ihn nicht.“
Sie zuckte die Achseln.
„Ich war noch sehr jung, und er war sehr charmant. Er sah gut aus, und er war ein glänzender Geschäftsmann, ein richtiges Finanzgenie. Aber in was für ein dürres Gestrüpp hatte sich das Genie da eingenistet! Es brütete nie etwas anderes aus als Zahlen. Ich mühte mich ab, mir etwas vorzumachen, ich wollte mich lieber belügen als zugeben, dass ich mich geirrt hatte. Er strahlte so viel Wärme aus wie ein Eiswürfel. Dabei hat er mich wohl wirklich geliebt, soweit er das konnte, aber das sehe ich jetzt erst. Dauernd hat er es mir gesagt: ‚Ich liebe dich‘, aber es klang wie der Börsenbericht. Nicht ein einziges Mal sagte er: ‚Es ist schön, mit dir zusammen zu sein.‘ Das wäre schon nicht mehr abstrakt genug gewesen. Trotzdem: Er liebte mich, wie ein Mann eben lieben kann, und ich fand mich mit dieser Liebe ab wie mit einer unheilbaren Krankheit. Aber irgendwann begann ich ihn zu hassen für all die Unabhängigkeit, die er mir nahm. Wann immer ich mir zaghaft ein kleines bisschen Eigenleben zu schaffen versuchte, hat er das mit Macht verhindert. Unter seinen Blicken wurde mein Leben zur Geheimniskrämerei. Das Einzige, was ich durfte, war, Geld ausgeben. Na, das tat ich dann auch ausgiebig. Wer die Gabe hat, Geld zu verdienen, hat ja selten auch die Gabe, es auszugeben. Er verdiente, ich gab aus. Aber es machte mir keine Freude; ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich immer verschwenderischer wurde und ihn immer weniger liebte. Nach fünf Jahren fand ich endlich die Kraft, ihn zu verlassen. Er fiel aus allen Wolken, und dass es keinen anderen Mann in meinem Leben gab, machte ihn noch ratloser. Ich ging, ohne einen Pfennig von ihm zu nehmen. – Heute denke ich, die ganze Misere war mehr meine als seine Schuld: Ich hätte nicht so jung heiraten dürfen, nicht schon, als ich nur wusste, was ich wollte; ich hätte warten müssen, bis ich mir auch sicher gewesen wäre, was ich nicht wollte.“
Sie ließ den kalten Kaffee stehen und trank einen Schluck von dem Weinbrand.
„Mein zweiter Mann war ganz anders. Von meinem ersten Mann hatte ich gelernt, Geld auszugeben, ohne nach dem Preis zu fragen, von meinem zweiten lernte ich, nach dem Preis zu fragen, ohne Geld auszugeben: Er war Makler, und ich musste für ihn spionieren, getarnt als Interessentin. Für ihn habe ich wirklich etwas empfunden – vorwiegend Eifersucht, denke ich heute. Jede Frau war meine potenzielle Gegnerin und Feindin. Dabei hatte es so verheißungsvoll begonnen: Wochenlang haben wir darüber nachgedacht, was wir Wichtigeres tun könnten, als miteinander zu schlafen, aber es fiel uns einfach nichts ein. Und dann – wie das bei Männern so ist: Plötzlich war Schluss. Er war lieb und fürsorglich. Aber sexuell war ich für ihn tabu wie eine leprakranke Nonne. Erst war er abends immer müde, dann sagte er was von ‚Impotenz‘, dann sagte er überhaupt nichts mehr. Ich wäre auch bereit gewesen, mich abspeisen zu lassen, wenn ich nur überhaupt gespeist worden wäre. Dafür fütterte er andere Vögel. ‚Versteh doch, ich liebe dich wirklich‘, sagte er, als ich dahinterkam, ‚aber ein Mann braucht nun mal seine kleinen Freiheiten.‘ – Ich verstand ihn gut und nahm mir meine große Freiheit. Ich flog nach Ibiza. Da ist es so schön, da vergisst man alle Krisenherde, da wird man selber einer. Ich zog mit einem jüngeren Mann zusammen, der lebte derart gesund, dass er sogar sein eigenes Marihuana anbaute. Er brachte mir bei, dass man sich nur dann in einer Gemeinschaft zu Hause fühlen kann, wenn man einer verschworenen Minderheit angehört, mit der man sich rückhaltlos identifiziert. Aber unsere Vorstellungen darüber, was das für eine Minderheit sein sollte, begannen bald auseinanderzuklaffen. Seine wurden die Anarchisten, meine schrumpfte auf mich selbst zusammen. Ich packte, was es noch zu packen gab, und reiste ab. Er war der letzte Mann gewesen, von dem ich mir etwas hatte weismachen lassen.“
Ihre rechte Hand fuhr wie zur Bestätigung durch die stickige Luft.
„In Deutschland zog ich erst mal zu einem alten Freund, ein harmloser, sanftmütiger Mensch, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte, die musste immer ich erschlagen. Abends zog er sich in sein Zimmer zurück und schrieb blutrünstige Schauerromane über abgeschlachtete Jungfrauen, die dann in Groschenheften erschienen. Mord geht immer. Ein blutiges Messer in der Hand und frisches Farbband in der Schreibmaschine: Der schnellste Weg zum Erfolg. So hielt er sich und mich eine Zeit lang über Wasser. Ich suchte händeringend nach einem Job und kam schließlich bei einer Zeitung unter, von der konnte sogar mein gutmütiger Freund noch dazulernen, wie man Scheußlichkeiten ausbreitet. Ich hatte einen meterdick aufgetragenen Ibiza-Bericht verfasst, der passte gut in das Blatt, und sie stellten mich ein. Aber ich kam immer mehr herunter. Nichts, was ich tat, schien mir wert, getan zu werden, ich wurde richtiggehend krank davon. Einer Kollegin, der einzigen, die ich mochte, klagte ich mein Elend. Sie war sehr verständnisvoll, sie richtete mich wieder auf. Sie bot mir an, zu ihr zu ziehen. Mehr Geld als ich hatte sie auch nicht, aber eben eine Wohnung. Wir haben uns sehr viel gestritten, aber das machte nichts. Zum ersten Mal habe ich erlebt, wie wohltuend es sein kann, Meinungsverschiedenheiten unter gleichberechtigten Partnern auszutragen. Und falls ich schon vorher jemals gleichberechtigt gewesen sein sollte, dann hatte ich es jedenfalls nicht gemerkt. Eines Tages sagte sie zu mir: ‚Du gehst kaputt an dem, was du machst. Das bringt dich doch nicht weiter. Du solltest deinen Stil ändern und vor allem deine Themen. Du musst in ein anderes Ressort, und du musst vor allem zu einer anderen Zeitung. Ich glaube, du solltest mehr über Menschen und ihre Probleme schreiben, das würde dich weiterbringen. So könntest du etwas machen aus all der Traurigkeit, die in dir steckt.‘ Ich sagte: ‚Ach lass mich in Ruhe, ich bin nicht ehrgeizig, ich bin nur geldgierig.‘ ‚Du verkommst‘, sagte sie, ‚aber vielleicht ist das der einzige Weg für dich, damit noch mal was aus dir wird.‘ – Die Probleme brauchte ich nicht bei fremden Menschen zu suchen, unsere eigenen wurden auch immer größer: mit der Wohnung, mit dem Geld, mit uns. Wie oft wollten wir uns trennen – und blieben doch zusammen. Probleme sind leichter zu lösen als Beziehungen. Eines Tages war sie tot. Schlaftabletten. Da war ich dann wirklich am Ende. Ich hatte mich gerade auf die Anzeige einer kleinen Tageszeitung im Badischen beworben und war abgelehnt worden. Erschöpft und verzweifelt saß ich in der Bahnhofshalle und wartete auf den Zug nach München. Da sprach mich diese Frau an, von der ich vorhin erzählt habe. Wir fuhren die Strecke gemeinsam – und das taten wir eigentlich von da an bis heute. Ich hörte auf, geldgierig zu sein, und wurde ehrgeizig. Ich ging tatsächlich den Weg, den meine Kollegin für mich gesehen hatte. Damals fing ich an, mit Menschen zu sprechen, für die eine Schüssel Reis ein Tag Leben bedeutet, und mit Menschen, die so an Überdruss litten, dass sie sich vor Restaurants ekelten und nur von einer Bude schwärmten, in der es die beste Currywurst der Welt gibt. So verlor ich langsam das, was meine Kollegin ‚Traurigkeit‘ genannt hatte, weil ich merkte, dass ich etwas tun konnte. Dass ich helfen konnte zu helfen – durch Aufklärung. Unwissenheit ist das Schlimmste. Nur wer genügend weiß, kann sich entscheiden. Und nur wer erfährt, dass jemand in Not ist, kann helfen.“
Sie legte die flache Hand mit gespreizten Fingern auf den Tisch und sah auf ihren Handrücken, als versuchte sie, aus ihm die Zukunft zu lesen.
„Wir Journalisten haben ja bei vielen Menschen, besonders bei Politikern, einen schlechten Ruf“, sagte sie. „Schwarze Schafe gibt es überall: in der Seelsorge, in der Justiz und natürlich auch in der Presse. Aber – überspitzt formuliert – die Presse schreibt auch Wahres. Eine Inszenierung muss nicht gut sein, weil sie verrissen wurde. Genauso wenig, wie jemand unschuldig sein muss, weil er im Gefängnis sitzt. Ich habe etwas gegen Verallgemeinerungen. Öffnet die Knäste? Nein, danke! Vielleicht im Iran, hier nicht. Es gibt keine einfachen Wahrheiten, die Aufgabe der Journalisten ist es, den Menschen das Komplizierte zu erklären und ihnen zu helfen, es zu ertragen. Da können Sie sich denken, was ich von manchen Blättern halte.“
––Das Mädchen sah inzwischen nicht mehr widerwillig, sondern eher neugierig, fast bewundernd auf die Frau. Es war der Frau offenbar gelungen, das Mädchen für sich einzunehmen.
„Wissen Sie, ich bin jetzt Anfang vierzig. Bis man dreißig ist, bedeutet Älterwerden Erweiterung. Spätestens ab vierzig bedeutet älter zu werden Einschränkung: Zuerst kann man nicht mehr so lange tanzen gehen wie früher, dann kann man nicht mehr so lange in die Sonne gehen wie früher, dann kann man nicht mehr so lange gehen wie früher, und schließlich kann man überhaupt nicht mehr richtig gehen, sondern nur noch seinem Tod entgegenschleichen. Die wenigsten Menschen haben die Gabe zu erkennen, was an ihrem jeweiligen Zustand einmalig ist. Erst wenn er vorbei ist, dann merken sie es. Mit der DDR wird Ihnen das genauso gehen. Plötzlich vermissen Sie Dinge, die Ihnen immer selbstverständlich waren. Tja, das ist dann zu spät. Aber dafür kommt anderes: Sie haben gar keine Lust mehr zu tanzen, Sie kaufen sich einen Sonnenschirm, und Sie können sich häufiger eine Taxe leisten.“
Sie trank ihren Weinbrand aus, mit einer entschlossenen Bewegung. Sie schien wirklich sehr zufrieden mit sich zu sein. Plötzlich merkte sie das selbst, und es war ihr ein bisschen peinlich.
„Vielleicht denken Sie jetzt: ‚Was geht mich das alles an? Warum erzählt sie mir das alles?‘ – Sie sind unglücklich. Und ich glaube, es ist gut, wenn zwischen uns geredet wird. Sie tun es nicht, also tu ich es. Wissen Sie, in meinem Beruf verliert man die Scheu vor dem Unglück Fremder, aber auch die Gleichgültigkeit. Man wird – ja, demütiger. Ich habe mit Menschen gesprochen, die kurz vor dem Tod standen, und mit anderen, die gerade eine Katastrophe überlebt hatten.“
––„Der Tod, das ist, glaube ich, nicht schlimm“, sagte das Mädchen. „Da ist alles ruhig. Das ist doch eigentlich sehr schön.“
––„Vielleicht ist es schön. Aber das Leben auch. Besonders dann, wenn man der Bedrohung nicht ausweicht, sondern ihr ins Auge sieht. Ich beneide Sie um Ihre Unerfahrenheit. Was kennen Sie bisher? Die Fußgängerpassagen in Rostock? In Leipzig? In Erfurt? Ihnen stehen noch so viele erste Male bevor! Vielleicht die Via Appia Antica in Rom. Oder der Rodeo Drive in Los Angeles. Oder die Via Dolorosa in Jerusalem!“
––„Ich versteh’ nicht, warum Sie jetzt von diesen Städten anfangen“, sagte das Mädchen.
––„Ich auch nicht. Ich versuche nur, mir gerade vorzustellen, wie das ist, wenn man alles noch vor sich hat. Ob es sich lohnt, sich darauf zu freuen. Wahrscheinlich lohnt es sich immer, sich auf etwas zu freuen – ganz egal, was aus der Vorfreude wird.“ Sie sah in ihr leeres Glas wie auf den Grund der Meere. „Ich hole mir noch einen Cognac. Möchten Sie auch etwas?“
––„Nein, danke.“
Titelfoto/Collage und Abschlussfoto mit Material von Shutterstock: hanohiki (Marihuana), Mitch Saint (Räuber), leonori, baibaz (Puzzleteile Obst)
Für mich bitte auch einen Cognac.
Ich nehme auch einen
Seinen Ehemann (oder gleichermaßen die Ehefrau) zu bewundern, ist vielleicht gar kein so schlechter Grund. Es gibt jedenfalls schlimmere Gründe zu heiraten.
Das mag grundsätzlich sein. Die Beschreibung oben klingt allerdings nicht nach einer interessanten Ehe.
Die Ehe ist ein Versuch, zu zweit wenigstens halb so glücklich zu werden, wie man allein gewesen ist. Wilde.
Und doch will kaum einer alleine durchs Leben gehen. Ist halt doch am Ende langweilig.
Ich mag Wilde sehr, aber am Ende muss da doch jeder selbst sehen wie er am glücklichsten durchs Leben kommt. Entweder man akzeptiert die Kompromisse einer Ehe (oder jeden anderen Beziehung) oder man muss sich alleine durchs Leben schlagen. Beides hat Vor- und Nachteile.
Neben der maßvollen Entscheidung zur Partnerschaft gibt es glücklicherweise auch das Überwältigtsein, das einem in die Strategie reinpfuscht.
Nach dem Tod ist alles ruhig. Auf der Zielgeraden kann es aber auch nochmal ziemlich brutal zugehen.
Angst habe ich auch. Ich bin aber gar nicht sicher, ob es Angst vor dem Tod oder Angst vor dem Alter ist.
Beides sicher realer als eine Ansteckung mit der Modekrankheit Corona. Etwas, wovor man sich fürchten kann, ist leicht zu finden. Furchtlosigkeit gelingt nur den Phantasielosen.
Unglücklich zu heiraten ist traurig. Man brauch sich aber sicher auch nicht für eine Scheidung schämen. Besser als noch weitere verlorene Jahre.
Tut die Dame in der Geschichte ja auch nicht. Aber im Grunde stimme ich zu. Sowohl Ehe wie auch Scheidung werden meistens viel zu wichtig genommen.
Das Titelbild lässt Böses für die kommenden Teile erahnen…
Moment, hab ich die Stelle mit dem Marihuana überlesen?
Ich auch
Dritter Absatz, dreizehnte Zeile
Manchmal ist man wohl einfach blind
Blutrünstige Schauerromane über abgeschlachtete Jungfrauen 🧐 Ich wäre interessiert. Hahaha
Da brauch man wahrscheinlich einfach nur mal im Supermarkt in die Groschenroman-Ecke schauen.
Man muss sich immer auf irgendetwas freuen, egal was. Das hält jung und munter.
„Ab vierzig bedeutet älter zu werden Einschränkung.“ NEIN, sagen Sie das nicht!
Es geht darum, ein Bild dieser Frau zu zeichnen, nicht darum, etwas Wahres zu sagen.
Ich weiss, ich weiss. Aber das kleine Fünkchen Wahrheit, welches man mit Anfang vierzig tatsächlich ein wenig spürt, ignoriere ich trotzdem lieber.
Der Bedrohung ins Auge sehen, dem Leben ins Auge sehen. Das geht auch mit vierzig noch wunderbar 😉
Schlaftabletten, wie schlimm. Zum großen Glück gab es in meinem Freundeskreis bisher keinen solchen tragischen Fall. Selbstmord macht einen so wahnsinnig hilflos.
Ein Tod ist für die Hinterbliebenen immer am schlimmsten. Keine Frage.