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05 – Die Hostie

#10 – Fruchtsaft

Die Frau trank ihr Glas leer. „Gott wird mir schon verzeihen, ich habe ja sonst nicht viel Schlimmes angerichtet und bin jeden Sonntag brav mit der Familie in die Kirche gegangen, um das Glaubensbekenntnis zu sprechen. Wenn er es so weit mit mir treibt, dass ich es nicht mehr aushalten kann – zack! Vorbei: mein erstes und mein letztes Aufbegehren gegen seinen weisen Ratschluss. Dabei habe ich mal gelesen, dass es zwar kurz, aber ziemlich qualvoll ist. Man windet sich in Krämpfen, man erstickt. Die Augen quellen heraus. Schaum tritt vor den Mund.“
––„Lassen Sie das!“, sagte das Mädchen. „Ich will das nicht mit anhören. Außerdem muss ich gehen.“ Sie griff nach ihrem Rucksack.
––„Einen Augenblick noch bitte!“, sagte die Frau schnell. „Bitte lassen Sie mich ein Bild von Ihnen machen.“
––„Wozu?“, fragte das Mädchen.
––Die Frau holte einen Fotoapparat aus dem Koffer, stand auf und trat ein paar Schritte zurück.
––Das Mädchen sah ratlos in die Kamera.
––Es blitzte.
––„Zur Erinnerung an Sie“, sagte die Frau, während Sie sich wieder hinsetzte. „Ich werde den Film gleich morgen entwickeln lassen, dann habe ich im Hotel wenigstens ein Gesicht um mich, das ich schon kenne: Das Gesicht einer Frau, die von zu Hause weggelaufen ist, weil ihr etwas anderes wichtiger war als ihr Zuhause. Erinnerungen fangen an, kostbar für mich zu werden. Ich will sie festhalten. Früher habe ich nie einen Fotoapparat mitgenommen. Ich fand das lächerlich. Von allem, was man fotografieren könnte, gibt es professionellere Bilder an jedem Stand. Von Ihnen nicht. Wahrscheinlich wird man Sie gar nicht erkennen können. Entweder habe ich überbelichtet oder unterbelichtet. Angeblich kann man nichts verkehrt machen bei diesem Apparat, aber der Hersteller hat sicher nicht mit mir gerechnet.“

Sie fuhr sich von den Schläfen aufwärts durchs Haar, als wollte sie eine Krone ablegen.

„Ich werde wieder das Meer sehen, das wird schön. Ich liebe die Weite so. Als Kind habe ich mich oft auf den Rücken gelegt und das Treppenhaus hinaufgestarrt, bis oben zur Decke. Das Entfernte und das Vertraute gleichzeitig. – Wollen Sie nicht doch mitkommen? Kommen Sie doch mit!“
––„Ich geh’ jetzt“, sagte das Mädchen, „es tut mir leid.“
––„Bitte nicht“, die Frau nahm ihre Hand. „Ihr Freund wird doch gleich kommen. Wissen Sie was? Wir nehmen ihn mit. Wir fahren zu dritt. Vielleicht war er auch noch nie in Venedig. Stellen Sie sich vor: Sie beide endlich zusammen, und dann in Venedig!“
––„Nein, das geht nicht“, sagte das Mädchen hilflos.
––„Warum denn nicht? Das ist eine einmalige Gelegenheit für Sie beide. Es soll ein wunderschönes Hotel sein, ein alter Palazzo mit Blick auf die Lagune. Ich lade Sie ein. Solange es Ihnen Spaß macht. Wir sehen uns alles an: den Markusplatz, den Dogenpalast, Rialto, die Seufzerbrücke … Ich störe Sie auch gar nicht, ich werde … – verzeihen Sie mir! Entschuldigen Sie meine Aufdringlichkeit. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.“ Sie schwieg einen Augenblick und sah auf die Dose. „Ich hab ja meine Begleitung.“ Sie stand auf, ein bisschen unsicher, strich ihren Rock mit fahrigen Bewegungen glatt und ging zum Büfett. Sie stützte sich leicht an das Plastikgeländer, während sie auf einen Fruchtsaft wartete. Als sie gezahlt hatte und sich wieder umsah, war das Mädchen weg. Sie schrak zusammen. Wenn das Mädchen nun ihre Kapsel mitgenommen hatte! Sie hatte sich so an den Gedanken geklammert, diesen Schutz zu haben. Nicht hilflos preisgegeben zu sein, der Angst, den Schmerzen, der ganzen Ausweglosigkeit.

Die Dose war leer.
––„O mein Gott, nein, bitte nicht! O Gott, nein“, stammelte sie. Bis zum Schluss hatte sie doch die Zügel in der Hand halten wollen, ihr Schicksal selbst bestimmen. Und nun? Die Schlange in Kenia, das gestürzte Pferd. Sie sah zum Nebentisch. „Haben Sie gesehen, wo das Mädchen hingegangen ist, das an meinem Tisch gesessen hat?“
––„Ja. Geradeaus zu den Gleisen.“
––Sie dankte nicht, sondern griff nach ihrem Koffer und lief hastig, in größter Aufregung und Verwirrung hinter dem Mädchen her.

Titelfoto/Collage und Abschlussfoto mit Material von Shutterstock: Nejron Photo (Frau mit Kamera), Bon Appetit (Orangensaft), vetre (Puzzleteile Bierglas)

27 Kommentare zu “#10 – Fruchtsaft

      1. Planen macht wahnsinnigen Spaß. Man darf eben nur nicht verzweifeln, wenn es dann doch alles anders kommt.

    1. Die Frau tut mir auf alle Fälle leid. Hier geht es ja nicht um eine Notlösung falls das Leben wirklich mal nicht mehr lebenswert wäre, z.B bei diagnostizierter schwerer Krankheit. Sondern eher scheint mir die Zyankalikapsel der letzte Halt vor dem Alleinsein.

      1. Und die Frage ist nun: was ist ein lebenswertes Leben?! Wahrscheinlich fallen die Antworten sehr unterschiedlich aus.

      2. Anscheinend hat das junge Mädchen auch eine recht düstere Antwort darauf.

      3. Lebenswert? Bismarck, Hitler und Adenauer fanden ihre Leben bestimmt lebenswert. Höcke und Trump sehen das heute genauso. Liebenswert macht sie das nicht. Ist denen aber auch egal (gewesen).

    2. Wer auf der einen Seite glaubt, dass Gott unsere Schicksal bestimmt, auf der anderen Seite aber selbst die Kontrolle behalten möchte, hat auf alle Fälle ein kleines Problem.

      1. Gott bestimmt unser Schicksal und bestraft unser Fehlverhalten. Diesen Widerspruch muss er uns – Gott sei Dank – erst später im Himmel erklären.

      2. Ha! Den Gedankengang mag ich! Widersprüchlich ist das in der Tat. Ich bin schonmal auf die entsprechende Erklärung gespannt…

  1. Sind Fotos wirklich = Erinnerungen? Heute hat sich das durch die Handys ja nochmal verschlimmert. Es wird die ganze Zeit geknipst und wenig real erlebt.

    1. Man braucht selbst für seine Erinnerungen eine Art Leitfaden. Für den einen ist das ein Tagebuch, für den anderen sind das Fotos. Oder man braucht wenigstens Freunde, die dieselben Erinnerungen teilen.

      1. Geteilte Erinnerungen sind doch die schönsten. Und die Chance, dass sie verblassen, ist weitaus geringer.

      2. Das ist der größte Schmerz, wenn ein naher Mensch stirbt. Man bleibt allein auf seinen Erinnerungen sitzen wie auf einem Ladenhüter.

      3. Eine traurige, aber auch sehr wahre Erkenntnis. Mit dem Tod enger Freunde sterben nach und nach auch viele Erinnerungen.

    2. Man trägt doch eine eigentümliche Kamera im Kopfe, in die sich manche Bilder so tief und deutlich einätzen, während andere keine Spur zurücklassen. 😉

      1. Ob man seinen Erinnerungen immer trauen kann, steht dahin. Aber solange einem keiner das Gegenteil beweist, kann man mit den Erinnerungen ja umgehen, wie es einem passt.

      2. Wen kümmert es auch ob die eigenen Geschichten mit der tatsächlichen Geschichte übereinstimmen?! Es tut ja in der Regel niemandem weh.

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