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0902
05 – Die Hostie

#9 – Silberdose

Das Mädchen trank, tief in Gedanken, von dem abgestandenen Saft.
––Die Frau kam zurück mit dem Cognacschwenker in der Hand. Sie setzte sich und nahm gleich einen Schluck. Dann sah sie zur Decke. Das Glasdach hoch oben ließ milchig-trübes Tageslicht herein, das von den Neonlampen ausgetilgt wurde, bevor es die Tische erreichte.

„Ich habe viel über Venedig gelesen. Ich habe mich wie immer gründlich auf diese Reise vorbereitet. Es war nicht schwer, trotz der kurzen Zeit. Ich hatte vorher schon viel über Venedig gehört. Stellen Sie sich vor, selbst das Kindermädchen, das Sonja und mich betreute, war schon da gewesen. Das war allerdings kein Wunder. Sie kam aus Norditalien und war bei uns, um ihr Deutsch zu verbessern. Ich glaube, sie wollte Sängerin werden. Sie erzählte uns von den Gondeln, die durch Kanäle schaukeln, von Häusern, die im Nassen stehen, mit Treppen, die ins Wasser führen, von Brücken, deren Form sie uns aufzeichnete. Sie deutete sogar damals schon etwas an von Casanova und seinem ausgeprägten Liebesleben, den Namen habe ich mir gemerkt. Es wurde für uns früh klar, dass Venedig nicht nur eine Stadt mit Kirchen und Palästen ist, sondern dass sich da ein geheimnisvolles Leben im Verbogenen abgespielt haben musste. Ich konnte gar nicht genug bekommen von den Geschichten. ‚Wenn ihr groß seid, dann macht ihr eure Hochzeitsreise nach Venedig‘, hatte sie oft gesagt, und das ‚ihr‘ klang so, als meinte sie Sonja und mich mit meinen Eltern. ‚Venedig ist eine Stadt für Liebende‘, erklärte sie uns, und das waren wir doch, wir liebten uns mehr als andere Familien. Später habe ich all die Gemälde gesehen, die Fotos und die Filme von Venedig.“

Sie beugte sich nach vorn, so, als wolle sie die Worte noch mit ihrem Körper unterstützen. Nicht geschwätzig wollte sie wirken, sondern eindringlich.

„Ich habe Erzählungen und Romane gelesen, die in Venedig spielten, aber, komisch, ich bin nie da gewesen. Ich war in Ephesos und in Troja, in Tokio und in Rio, aber es gab einfach keine Gelegenheit, nach Venedig zu kommen. Es liegt weder auf dem Weg nach Rom noch auf dem Weg nach Asien oder Amerika, und etwas, das so vergleichsweise nahe ist, das kann man auch später sehen, wenn einem die langen Reisen zu beschwerlich geworden sind. Aber vor ein paar Jahren sagte mein Vater: ‚Das ist doch lächerlich! Jetzt machen wir ein paar Tage Urlaub und fahren hin. Eine solche Bildungslücke ist geradezu eine Schande. Mama und ich waren früher so oft da.‘ – Ich hatte mich so darauf gefreut! Endlich nach Venedig! Aber dann wurde ich plötzlich am Tag vor der Abreise krank und musste zu Hause bleiben. Doch jetzt endlich, jetzt fahre ich hin. Meine Eltern hätten mich begleitet, obwohl sie gerade erst von einer längeren Reise zurückgekommen sind, aber ich wollte ihnen das nicht zumuten. Das Einzige, was ich meinem Vater erlaubt habe, war, das Hotel für mich zu bestellen. Wenn man irgendwo ankommt, braucht man gleich ein Hotel. Alles andere will ich selbst entdecken. Meine Schwester hätte zur Not ein paar Tage Urlaub rausgeschunden, aber sie hätte dann vielleicht nicht mitkommen können auf die Reise nach Budapest im August. Darum habe ich es ihr ausgeredet. Vielleicht ist Venedig auch schöner mit jemandem, den man noch nicht so lange kennt. Oder mit jemandem, der es gut genug kennt, um es einem zeigen zu können.“

Sie machte eine kleine Pause.

„Ein bisschen mulmig ist mir schon. Das ungewohnte Alleinsein. Nachher gefällt mir Venedig gar nicht, und ich bin enttäuscht. Wenn die Schmerzen so richtig einsetzen … Ich bin nicht wehleidig, ich habe keine Angst vor den Schmerzen, nur davor, dass sie einsetzen.“
––Sie trank einen Schluck und sah auf die Treppe, die zur Galerie führte. Sie sah auf den Feuermelder in der Ecke. „‚Werde ich sehr leiden müssen?‘, habe ich unseren Arzt gefragt. Er hat mir ausweichend geantwortet. ‚Ich bitte Sie um eins‘, habe ich zu ihm gesagt, ‚Sie müssen mir versprechen, meinen Eltern und Sonja nichts zu sagen. Ich ertrage alle Schmerzen, aber nicht, dass sie es jetzt schon wissen. Ich könnte sie dann nicht mehr um mich haben. Ich erinnere Sie an Ihre Schweigepflicht!‘ – ‚Aber das ist doch verrückt‘, sagte er. ‚Sie werden es noch früh genug erfahren, geben Sie ihnen noch ein bisschen Schonzeit und mir auch‘, bat ich ihn. Er nickte. Vorgestern war ich nochmal bei ihm. Er zitterte. Ich merkte, wie schwer es ihm fiel. ‚Was ist los?‘, fragte ich. ‚Ich dürfte es nicht tun, und wenn es jemand erfährt, bin ich ruiniert‘, sagte er, ‚hier ist etwas, das du nehmen kannst, wenn du es überhaupt nicht mehr aushältst. Du hast alle deine Entscheidungen allein getroffen, die verständlichen und die unbegreiflichen, du sollst auch diese Entscheidung treffen. Ich weiß, dass du nicht leichtfertig bist. Und vielleicht ist die Idee, dein Schicksal selbst bestimmen zu können, tröstlich für dich. Ich gebe es dir jetzt schon, denn später könntest du es zu leicht als direkte Aufforderung verstehen.‘“

Sie griff in ihre Umhängetasche, holte ein Silberdöschen heraus und öffnete es. Eine leuchtend grüne, längliche Kapsel lag darin. Sie gab dem Mädchen die Kapsel in die Hand mit einer fast beschwörenden Geste und sagte: „Ich denke, es ist Zyankali.“
––„Zyankali“, wiederholte das Mädchen. Sie starrte eine Weile auf die Kapsel und ließ sie dann zurückgleiten in die Dose.
––Die Frau trank einen Schluck Weinbrand. Ihr Blick verfing sich in den Preistafeln über dem warmen Büfett. Immer, wenn die Schwingtür aufwehte, sah man einen Augenblick lang den Stand mit Obst und Südfrüchten.
––Diese feuchte Hitze! Ein dampfender Krisenort.

„Mein Leben war unbedeutend, aber es war doch fast immer schön. Probleme gibt es überall, aber wir haben sie immer in gegenseitigem Verständnis gelöst. Wenn im Frühjahr die Gartenmöbel auf die Terrasse gebracht wurden und man wusste, bald wird der Flieder blühen und der Rhododendron und dann die Akazien und zum Schluss die Linden. Manchmal dachte ich dann schon: ‚Wieder ein Jahr, wieder ein Jahr‘. Aber das war nicht sehr beunruhigend: noch so viel Zeit! So lange, lange Zeit noch. Und nun war ich in der vergangenen Woche bei drei Spezialisten, und alle sagen dasselbe, wenn sie die Röntgenbilder sehen. Manchmal, wenn wir zusammensitzen, hat mein Vater jetzt so einen Ausdruck im Gesicht, oder bilde ich mir das bloß ein? Er sagt nichts, aber er denkt vielleicht: ‚Was haben wir bloß falsch gemacht? Wieso sitzen wir hier nicht mit Enkeln, sondern mit zwei alten Jungfern?‘ Und dann möchte ich es herausschreien: ‚Mach dir keine Sorgen, Vater, mich bist du bald los!‘ Sonja hatte vor ein paar Jahren einen Freund mitgebracht. Er kam häufiger zu uns, und wir mochten ihn alle sehr. Aber dann hat er sich wirklich unschön gegenüber meinen Eltern betragen, er hat Sonja geradezu aufgehetzt. Ich sagte zu ihm: ‚Wir mögen dich alle sehr, du bist uns immer willkommen, aber wenn du versuchst, die Familie auseinanderzubringen, dann können wir keine Freunde sein.‘ Das musste ich einfach klarstellen. Er kam dann nicht mehr. Vielleicht war es besser so.“

Sie sah das Mädchen genau an.

„Woran denken Sie?“
––„An meinen Freund“, sagte das Mädchen schuldbewusst.
––„Fürchten Sie, dass ihm etwas zugestoßen ist?“
––„Nein, ich glaube nicht.“
––„Sie werden sehen, es klärt sich alles als ganz harmlos auf. Seien Sie unbesorgt! Ich habe mir immer um alles Gedanken gemacht, und was ist dabei herausgekommen? Nichts. Mir ist nie etwas passiert. Alle Sorgen umsonst. Nur als ich wegen einer unbedeutenden Kleinigkeit zum Arzt ging, ohne an etwas Böses zu denken – da las ich den Befund in seinem Gesicht und hörte die Worte gar nicht. Sie denken sicher, ich bin ziemlich feige. Das stimmt, glaube ich, nicht. Ich habe es nicht weit gebracht. Ich arbeite in einem Büro, um nicht zu Hause rumzusitzen, sondern etwas einigermaßen Nützliches zu tun. Ich sitze am Computer, beantworte das Telefon und fülle Formulare aus. Viel mehr ist es nicht. Begabungen habe ich nicht, leider. Ich lebe bei meinen Eltern, das spricht für sich. Ich habe keinen Mann abgekriegt, das spricht auch für sich, aber ich bin hart im Nehmen. Meine Schwester habe ich mal aus dem Wasser geholt, als sie bei starkem Seegang zu weit rausgeschwommen war. Ich habe sie zurückgeholt. Es war ziemlich knapp, für uns beide. Ich habe mal eine Schlange getötet, die zu uns ins Zelt kam, als wir in Kenia waren – mit einem einzigen Schlag auf den Kopf. Und ich habe eigenhändig mein Pferd erschossen, als es so schwer gestürzt war, dass wir es aufgeben mussten. Ich habe offenbar Talent zum Töten.“

Sie lachte kurz auf.

„Mir werde ich vielleicht auch die Gnade selbst erweisen müssen. Ich habe nie gerne Verantwortung übernommen, dazu war ich zu unsicher, aber wenn es sein muss, kann ich ganz schnell handeln. Auch mit dieser Reise jetzt. – Andere Frauen fahren mit einem Liebhaber nach Venedig, ich fahre mit einer Giftkapsel. Sie ist mein Halt und meine Stütze. Meine Hostie. Das ewige Leben.“

Titelfoto/Collage und Abschlussfoto mit Material von Shutterstock: Anton Starikov (Dose), givaga (Venedig), Bon Appetit (Puzzleteile Fruchtsaft)

30 Kommentare zu “#9 – Silberdose

  1. Da fällt mir ein, dass Venedig jetzt angeblich Eintrittsgeld nimmt. Nun ja, irgendwie muss die Stadt wahrscheinlich mit der Belastung durch die Besucher klarkommen.

      1. So richtigen Ruhm gibt es heute wohl kaum noch. Kurzzeitigen Erfolg natürlich schon. Aber es kommt mir vor als wären die großen Stars unserer Zeit Menschen, die ihre Karriere vor Social Media etablieren konnten.

  2. Wann wird hierzulande eigentlich mal der freiwillige Tod als legaler Weg aus dem Leben akzeptiert?! Sterbehilfe etc…

      1. Darum geht es dich gar nicht. Es geht darum selbst bestimmen zu können wann das Leben nicht mehr lebenswert ist.

  3. Venedig, eine Stadt für Liebende. Das trifft allerdings eher auf die romantische Idee der Stadt zu als auf die touristische Realität. Mir gefällt es immer am Abend am Besten, wenn die ganzen Tagesgäste aus der Stadt verschwinden.

      1. Oh ich bin schon gespannt. Ich habe selbst so viele schöne Erinnerungen aus der Stadt 🙂

      1. Nein. Der Fanatiker ist kein Fatalist: Er hat ja die gültige Antwort parat. Noch unmittelbar vor dem Strang haben 1945 die Verurteilten gesagt: „Es lebe Deutschland!“ Thüringen heute sähnen sie als Erfolg. Höcke tut das wohl auch.

  4. Zwei fremde Frauen treffen sich am Bahnhof und tauschen eine Dose mit Zyankalikapseln aus. Eine Story wie aus den goldenen Bond-Jahren 😉

  5. Ein guter Freund hat vor kurzem die Diagnose Darmkrebs bekommen. Man macht sich eben keine (oder nach Typ unnötig) Sorgen bis wirklich mal etwas passiert.

  6. Oha, die Schlange im Zelt geköpft, der Gnadenschuss für das eigene Pferd … da überrascht einen das Silberdöschen nun auch nicht mehr.

  7. Mir stellt sich immer noch die Frage, ob nur wer Mann, Familie, Kinder vorweisen kann, das Recht hat glücklich zu sein. So kann das doch nicht stimmen.

      1. Das stimmt, aber es lässt ja zumindest vermuten, dass zumindest einige diese Essay-Ansicht teilen.

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