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Geschichte

Deutschland über alles? Alles über Deutschland

Hallooo! Hier bin ich. Hier vorn. Hört ihr nicht? – Na, also. Heute gibt es mal Frontalunterricht. Ganz wie früher. Ruhe!!! Noah, vor die Tür! Nein, vor die Tür!

Foto: LiliGraphie/Shutterstock

So … Jeder Deutschstämmige kennt August Heinrich Hoffmann von Fallersleben als den unsterblichen Dichter so bedeutender Zeilen wie: „Alle Vögel sind schon da“ …

Foto: xpixel/Shutterstock

… und „Ein Männlein steht im Walde“.

Beide Poeme wurden artgerecht vertont. Auch die Verse

„Summ, summ, summ, Bienchen summ herum“,
„Winter ade, scheiden tut weh“,
„Kuckuck, Kuckuck ruft’s aus dem Wald“
und „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ …

Foto oben links: Jason Stitt/Shutterstock | Foto oben rechts: Ken Kojima/Shutterstock | Foto unten links: Locaguapa/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0 | Foto unten rechts: Bart Sadowski/Shutterstock

… sind denen von euch, die deutsche Eltern haben, vertraut oder verhasst. Doch neben hübschen Liedern schrieb Hoffmann von Fallersleben, was nur wenige wissen, auch ein markantes Gedicht, das gern auf die Melodie eines österreichischen Komponisten gesungen wird, der hieß Joseph Haydn und er war ein Zeitgenosse des Pfalzgrafen Karl IV., Theodor der Kurpfalz.

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Lasst uns, liebe Buben und Mädel, versuchen, diesen Sachverhalt während der nächsten fünfundvierzig Minuten so zu beleuchten, dass ihr lernt: Es gibt immer noch ein paar Dinge, die nach wie vor nicht mit einem Klick zu ergoogeln sind. Ich werde sprechen, ihr dürft fragen: morgen.

Ihr denkt vielleicht, der große Dichter war adlig, war er aber nicht. Er hieß Hoffmann, was ihm in den Ohren klang wie ‚Schulze‘ oder ‚Meier‘. Deshalb schmückte er sich zusätzlich mit dem Namen seines Geburtsortes, so ähnlich wie „Trude aus Buxtehude“, „Jutta aus Kalkutta“ oder „Wanda aus Uganda“.

Fotos oben links und unten (2): picture alliance/United Archives/IFTN | Foto oben rechts: picture alliance

Fallersleben wurde zum ersten Mal in einer Urkunde König Ottos I. aus dem Jahre 942 erwähnt.1 Da gab es den Ort also schon, lange vor Berlin (1237)2 und Los Angeles (1781)3. Trotzdem sind Berlin und L.A. bekannter und besuchter geworden. Aber was noch demütigender ist: Fallersleben ist inzwischen nur noch ein Stadtteil von Wolfsburg. Das war mal anders.

Am 26. Mai 1938 4, also 79 Tage, nachdem Hitler Österreich zu dessen Freude deutsch gemacht hatte, legte er den Grundstein für das Volkswagenwerk, in dem dann der Kraft-durch-Freude-Wagen gebaut werden sollte. Dafür wurde die „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“5 gegründet. Inzwischen hat die germanelnde Wolfs-Burg das Lamm Fallersleben geschluckt. Ja, so kann es gehen.

Übrigens: Ortsnamen auf ‚-leben‘ waren ursprünglich vom Grundherren verliehene ‚Lehen‘. August Heinrich Hoffmanns Vater war alles nacheinander oder auf einmal: Grundherr, Kaufmann, Gastwirt, Senator und Bürgermeister. Nur Künstler war er nicht, aber das wurde ja nun sein Sohn.

„Alle Vögel sind schon da, alle Vögel alle“ das ist bekannter, also besser als Schillers „Glocke“, weil sich Qualität, also Stärke, durchsetzt, wie wir seit Darwin wissen. Amsel, Drossel, Fink und Star erwähnt der Dichter namentlich. Amseln sind eigentlich Teilzieher, aber im hohen Norden sind sie Zugvögel und im Süden Standvögel. Also, ich würde an deren Stelle gleich auf Sizilien bleiben, wo es nicht nur schön warm ist, sondern man als Sänger auch die Chance hat, mit Rosmarin gesotten zu werden.

Drosseln sind leider nur, ein bisschen peinlich, Sperlingsvögel.
Ihre Abgrenzung gegen die Fliegenschnäpper „wird kontrovers diskutiert“. Da fliegen keine Schwalben, aber bestimmt die Fetzen auf den Kongressen.

Sogar die Finken sind Sperlingsvögel, selbst wenn sie sich ‚Prachtfinken‘, ‚Kardinäle‘, ‚Rosenschwanzgimpel‘ oder ‚Trugwaldsänger‘ nennen lassen. Alles Lug und ‚Trug‘. Die Finkenfamilie hat zwar 200 Arten, aber vierzehn von ihnen sind ausgestorben: vermutlich die, die auf Sizilien geblieben sind.

Foto links: zakharov aleksey/Shutterstock | Foto rechts: Arie v.d. Wolde/Shutterstock

Stare haben, wie der Name schon sagt, Allüren und geben häufig an wie eine schmackhafte Tüte Mücken, aber nur selten wie zehn politisch unkorrekte nackte Neger. Stare tun mit ihrer Stimme so, als seien sie jemand anderes. Ihre Umgebung nutzen sie als Bühne und ahmen die Rufe von Wachtel, Mäusebussard oder Kiebitz nach, angeblich auch Hundegebell, das Geräusch von Rasenmähern oder neuerdings Klingeltöne von Handys. Das klingt mir eher modern als glaubhaft. Die Finken können aber auch anders. Vor Flugfeinden, also Krähen und Greifvögeln, warnen sie mit einem schnell gereihten, scharfen, sehr kurzen „spett, spett“, vor Bodenfeinden dagegen mit einem wiederholten, langgezogenen „brrrrrrrt“ oder „tschrrrrr“, weiß der Kenner, kurz ‚Ornithologe‘ genannt.
Von gleichem Rang wie das eindrucksvolle Vogelgedicht ist Hoffmann von Fallerslebens wunderbar geheimnisvolles Poem „Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm. Es hat von lauter Purpur ein Mäntlein um.“ 6 Da soll der aufmerksame Zuhörer gefoppt werden und denken, es handle sich um den Fliegenpilz, der aber ja eher gepunktet ist, und Purpur sieht für mich auch anders aus.

6 Quelle: Textauszug abgerufen aus Wikipedia

Die Auflösung ist allerdings noch gewagter: Weil der Purpurne in der zweiten Strophe ein schwarzes Käpplein trägt, soll von der Hagebutte die Rede sein. Wieso ist die ein Männlein? Genauso überzeugend wie Conchita Wurst damals bei seinem ESC-Sieg mit ihrem schwarzen Bärtelein. ‚Still und stumm‘, das stimmt ja wohl, die Hagebutte darf weder weg noch sprechen, ein Schicksal, das sie mit Felsbrocken, Kartäusermönchen und all den anderen Hagebutten an ihrem Zweig teilt. Allein steht sie, das Männlein, nämlich nie, immer ist es in Gesellschaft, und es steht auch nicht im Walde, nein, am Waldrand wächst der Strauch. Wenn also die letzte Strophe naseweis verkündet, das Männlein könne nur die Hagebutte sein, möchte man zurückfragen: „Und wieso nicht die Hexe im Ofen?“

Dichterische Freiheit? Hier wurde sie sich genommen, zügellos. Die Exegese drückt es vornehmer aus: „Der Widerspruch zwischen beiden Strophen lässt darauf schließen, dass der Dichter inkompatible Vorlagen zu vereinigen suchte.“7 Da erkennt man gleich den aufrührerischen Geist, der Hoffmann sogar dazu trieb, politisch anzügliche Satiren zu schreiben. Auf die Melodie des „Jäger aus Kurpfalz“ dichtete er dreist:

1. Strophe:
Bei einer Pfeif’ Tabak,
Bei einer Pfeif’ Tabak,
bei einer guten Pfeif’ Tabak
und einem Glase Bier
politisieren wir.

Refrain:
Juja, juja!
Gar glücklich ist
fürwahr der Staat,
der solche Bürger hat.

2. Strophe:
Dann stoßen wir auch an,
Dann stoßen wir auch an,
auch auf die deutsche Freiheit an,
und unsre Polizei
sitzt fröhlich mit dabei.8

ORIGINAL

1. Strophe:
Ein Jäger aus Kurpfalz,
ein Jäger aus Kurpfalz,
der reitet durch den grünen Wald
er schießt das Wild einher,
Gleich wie es ihm gefällt.

Refrain:
Juja, juja!
gar lustig ist
die Jägerei
allhier auf grüner Heid’.9

7 Quelle: Hans-Josef Irmen: Hänsel und Gretel. Studien und Dokumente zu Engelbert Humperdincks Märchenoper. Schott, Mainz 1989, ISBN 3-7957-1850-3, S. 83, abgerufen über Wikipedia
8 Quelle: Volksliederarchiv
9 Quelle: Textauszug abgerufen über Wikipedia

1844 war das, vier Jahre vor der Revolution, schon ganz schön verwegen und strafbarer, als es heute ist, im Internet zu behaupten: ‚Merkel muss weg. Die Sau will die Umvolkung Deutschlands.‘

Foto: Elpisterra/Shutterstock

Der lustvoll besungene Jäger war aber auch nicht ohne. Das Lied wird 1794 zum ersten Mal in einer Urkunde erwähnt10, doch es wurde wohl schon viel früher gesungen, ohne Noten. Die Überlieferung braucht nie Noten oder Schrift, was natürlich auch zu Umgestaltungen und Irrtümern führen kann.

10 Quelle: Tobias Widmaier: Ein Jäger aus Kurpfalz (2008). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon des Deutschen Volksliedarchivs, abgerufen über Wikipedia

Foto oben: Wikimedia Commmons/gemeinfrei | Foto unten: Edel Puntonet/Shutterstock

So protestierte der 1837 gegründete Tierschutzverein gegen eine Märchenversion aus der Hohen Eifel, bei der Rotkäppchen den Wolf frisst (ein Scherz). Der Jäger, nicht der Grimmsche, sondern der aus Kurpfalz, soll, munkelte man, den Erbförster Friedrich Wilhelm Utsch aus Rheinböllen im Hunsrück porträtieren, und das Lied habe in seinen meist gestrichenen Strophen drei und fünf eine „derb sexuelle Bedeutung“.

In Erwartung säuischster Pornografie las ich dann aber bloß: „Er traf ein Mägdlein an, und das war achtzehn Jahr“11. Also, da habe ich aber schon wildere Zoten gehört.

Sogar das, was wir in der Schule sangen, war kesser:

Ein Jäger aus Kurpfalz,
ein Jäger aus Kurpfalz,
der reitet durch den Hühnerstall
und bricht sich Bein und Hals,
und bricht sich Bein und Hals.

Nun war die Kurpfalz besonders gut dazu geeignet, sich Hals und Bein zu brechen. Noch bis vor Kurzem ist dort mancher Lehrer an der Odenwaldschule über seine sexuellen Neigungen gestolpert.

Foto: pathdoc/Shutterstock

Heidelberg, nebenan, war schon früh eine Hochburg der Reformation. Kurfürst Friedrich der Fünfte ließ sich geschmeichelt von den evangelischen Böhmen deren Königskrone andrehen.

Foto: Johann Georg Ziesenis der Jüngere/gemeinfrei

Er wurde aber nicht recht glücklich in Prag. Sein „böhmisches Abenteuer“ ging schief. Das katholische Wien griff ein und an. Anderthalb Jahre vorher hatte mit dem Prager Fenstersturz der Dreißigjährige Krieg begonnen.

Bild: gemeinfrei/Wikimedia Commons

Die runtergeworfenen Katholiken überlebten aus zwei Gründen. Die Katholiken sagten: weil ihnen die Jungfrau Maria geholfen habe; die Protestanten sagten: weil die Geschubsten auf einem Misthaufen gelandet waren. Heutige Atheisten gehen davon aus, dass die damals beliebten dicken, schweren Mäntel den Fall der unbeliebten Gesandten abgefedert hatten.

Über Friedrich aus der Pfalz wurde die Reichsacht verhängt; das war 162112 und nicht lustig: Der Täter wurde „rechtlos“ gestellt, und jeder brave Bürger war befugt, ihn „unschädlich“ zu machen. Auch für die Pfalz war das Ganze eher schädlich. Sie gehörte jahrzehntelang mal dem und mal jenen und wurde zwischendurch immer wieder „geplündert und entvölkert“.

Bild: ‚Marodierende Soldaten‘ von Sebastian Vrancx (Maler, 1573–1647)/Wikimedia Commons/gemeinfrei

Wenn „die Geschichtsschreibung“ oder die Leute, die sie schreiben, von einem Landstrich so etwas neutral behauptet, dann meint sie damit, dass die dort lebenden Menschen ausgeraubt und ermordet wurden, damals gern durch Verabreichung des Schwedentrunks: so lange Jauche eintrichtern, bis das Opfer platzt. Da lob ich mir doch den elektrischen Stuhl.

Foto oben: gemeinfrei/Wikimedia Commons | Bild unten: Fer Gregory/Shutterstock

Der Dreißigjährige Krieg war schon seit 193 Jahren vorbei, da badete Hoffmann von Fallersleben auf Helgoland: in der britischen Nordsee, denn Helgoland gehörte damals zu England.

Foto: Markus Stappen/Shutterstock

Er betrachtete das zerstückelte arme Reich also von außen, als er das „Lied der Deutschen“ schrieb. Die dritte Strophe hält ja immer noch als deutsche Nationalhymne her, aber die inzwischen verbotene erste Strophe ist doch wohl ein richtig typisches Beispiel für die Großmannssucht der Deutschen, die sich ganz Europa einverleiben wollten. Wirklich? „Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“13, heißt es da. Also Dänemark, Russland, Belgien und Italien deutsch? Nein!

13, 15–18 Text: August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: ‚Das Lied der Deutschen‘, 1841, Textauszug abgerufen über Wikipedia

1841 begrenzte die Maas das Deutsche Reich im Nordwesten. Die wegen Elsass-Lothringen heikle Grenze zu Frankreich wird gar nicht erst besungen. Die Etsch markiert in Südtirol den Beginn des deutschen Sprachraums, auch wenn Österreich damals erst im Veneto endete. Wieder verzichtet Hoffmann auf einen Fluss, der im Südosten von Österreich liegt, wo der Übergang von Muttersprache zu Eroberung nicht ganz klar ist, und wählt lieber die Memel, die damals Preußen gegen Litauen abgrenzte.

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Dort erst fing russisches Einflussgebiet an. Auf einem Floß auf der Memel wurde 1801 zwischen Zar Alexander, Napoleon und dem preußischen König Friedrich Wilhelm der Friede von Tilsit14 geschlossen, der durch Alexanders Fürsprache Preußen davor bewahrte, französische Kolonie zu werden. Viele Deutsche sind Russland dafür immer noch so dankbar, dass sie finden, Putin solle ruhig die Krim haben.

‚Belt‘ heißt ja vieles in der westlichen Ostsee. Der Fehmarnbelt etwa verbindet den Großen Belt und die Kieler Bucht mit der Mecklenburger Bucht. Da kann also bei ‚von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt‘15 nicht von Eroberungsplänen die Rede sein. Und selbst die vielgescholtene Anfangszeile ‚Deutschland, Deutschland über alles‘16 bezog sich damals auf das in Kleinstaaten zersplitterte Reich, dem in der dritten Strophe ‚Einigkeit‘17 gewünscht wird.

Welche Ansprüche die Nazis aus dem ‚über alles‘ herleiten würden, konnte Hoffmann nicht ahnen. Er war zwar ein schwärmerischer Liberaler, was in der Mitte des 19. Jahrhunderts ehrenwert, wenn auch meist verboten war, und die heutige FDP ein wenig alt aussehen lässt, aber er konnte sich durchaus vorstellen, ‚Das Lied der Deutschen‘ als Trinklied zu vermarkten. Schunkeln nach der Nationalhymne? Können wir uns das auch vorstellen?

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Natürlich mit einer anderen Melodie, und im 3/4-Takt, trotzdem … Jedenfalls gibt es zu den beiden letzten Zeilen „Blüh im Glanze dieses Glückes, blühe, deutsches Vaterland!“ die Abwandlung als Trinkspruch: „Stoßet an und ruft einstimmig: Hoch das deutsche Vaterland!“18

In diesen Zusammenhang fügt sich dann auch die zweite Strophe besser ein, die deutschen Wein, deutsche Frauen (die Reihenfolge ist zu beachten!) und deutschen Sang lobt.

Bild: gemeinfrei/Wikimedia Commons

„Einigkeit und Recht und Freiheit“ sind die Schlüsselworte des Gedichts; sie standen auf den 2- und den 5-Mark-Stücken und sind jetzt dem deutschen 2-Euro-Stück eingeprägt.

Außerdem sind sie, wie ich schon in der Grundschule lernte, „des Glückes Unterpfand“, ein Wort, das ich in keinem anderen Zusammenhang je gehört habe, aber gleich viel erhabener fand als die öde ‚Voraussetzung‘ oder die ‚Garantie‘, die nach neuer Waschmaschine klingt. Den Text des Hoffmanns aus Fallersleben anständig mitzusingen, das gelingt nicht mal jedem deutschen Fußballnationalspieler während der Siegerehrung. Da gehen Scham und Bildungsarmut ineinander über. Aber die schöne Melodie kennen fast alle zwischen Rhein und Oder. Diese traute Weise ist allerdings nicht ganz so deutsch wie Beethoven und Pumpernickel: Joseph Haydn schrieb sie 1797 für einen anderen Zweck, so dass ihre Worte damals baten: „Gott, erhalte Franz, den Kaiser!“19, was Gott dann auch noch 38 Jahre lang tat.

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Haydn hatte zu dieser Zeit schon einiges hinter sich und noch viel vor sich. Nachdem er 1790 beim Fürsten Esterházy in Eisenstadt rausgeflogen war, genauer gesagt, bei dessen unmusikalischem Sohn und Erben, reiste Haydn zweimal für je zwei Jahre nach London, wo er berühmt und, schöner noch, reich wurde.

Bild: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Erst wollte er schon Engländer werden, aber dann zog es ihn doch zurück nach Wien. 1793 hatte er ein Haus gekauft, dessen Umbauten 1797 beendet waren, was etwas an Limburg und Tebartz-van Elst erinnert, und tatsächlich war Haydn sehr fromm. Deshalb schrieb er, kaum dass er eingezogen war, zwei Oratorien: „Die Schöpfung“ und „Die Jahreszeiten“; und, damit das Weltliche nicht zu kurz kam, komponierte er nebenbei auch dieses „Volkslied“, wie es in der Erstausgabe hieß, auf Kaiser Franz. Die Melodie machte eine größere Karriere als der Monarch. Es gibt noch 58 weitere Vertonungen von Hoffmanns Helgoländer Hochlebe, aber nur die von Haydn stibitzte Version hat sich durchgesetzt.

Die Uraufführung fand in Hamburg statt: in Streits Haus am Jungfernstieg, wo später gehobene Filmkunstwerke ihre Hamburger Premiere erlebten. Jetzt gibt es da nicht mal mehr ein Kino.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Nationalhymne verpönt. Als Adenauer zum ersten Mal in die USA reiste, wurde er von Chor und Orchester mit dem Karnevalslied „Heidewitzka, Herr Kapitän“20 empfangen, was er so despektierlich fand, dass er sich rasch für Hoffmann, also auch für Haydn einsetzte, dem ja nun wirklich kein Weltkrieg und nicht mal der Zusammenbruch des Habsburger Reichs vorzuwerfen war.

Foto: picture alliance/UPI

Der Ärmste war bereits 1809 (achtzehn Jahre nach Mozart) an Entkräftung gestorben und daraufhin auf dem Hundsturmer Friedhof beigesetzt worden. Die Familie Esterházy tat erstmal lange Zeit gar nichts. Da musste erst jemand aus dem Ausland kommen. Denn als der Duke of Cambridge dem knausrigen Fürsten Nikolaus klarmachte, wie viel Prestige in der Leiche seines ehemaligen Bediensteten steckte, wurde Nikolaus wach und ließ Haydn elf Jahre nach dessen Tod exhumieren und nach Eisenstadt überführen.21

Ärgerlich: Der Kopf fehlte. Nachforschungen ergaben, dass der sektiererische Sekretär des Fürsten den Totengräber, einen Gefängnisverwalter (warum den?) und zwei Wiener Beamte bestochen hatte. Die Bestochenen öffneten heimlich nochmal das Grab und stahlen den Schädel. Diesen (also Haydns) Schädel vermachte der Sekretär dem Gefängnisverwalter (Finderlohn?). Der sollte das gute Stück eigentlich ausliefern, traute sich aber nicht, und seine Witwe später auch nicht.

Foto: Smeerjewegproducties/Shutterstock

So ging der Schädel weiter durch etliche konspirative Hände, bis ihn 1895 die „Gesellschaft der Musikfreunde“ in Wien bekam. Einmal war eine Rückgabe des Kleinods in letzter Minute gescheitert, doch 1954 konnte der Schädel, nachdem er zum Schluss auch noch einen Festzug von Wien nach Eisenstadt überstanden hatte, mit dem übrigen Haydn zusammengepackt werden. Dann endlich war Friedhofsruhe. Nach 145 Jahren.

Bild: Croisy/Shutterstock

Aber auch Dichter Hoffmanns weiteres Leben und Sterben war durchaus bemerkenswert: Wegen seines Eintretens für ein einheitliches Deutschland und wegen seiner liberalen Haltung wurde Hoffmann 1842 von der preußischen Regierung seiner Professur enthoben, ohne Pension. Die Regierung warf ihm „politisch anstößige Grundsätze und Tendenzen“ vor. Ein Jahr später entzogen ihm die superstrengen, amusischen Preußen auch noch seine/ihre Staatsbürgerschaft und verwiesen ihn des Landes. Erstmal irrte er quer durch Deutschland, aber politische Freunde unterstützten ihn. Für längere Zeit fand er Unterschlupf auf einem mecklenburgischen Rittergut. Gegenüber den Behörden wurde er dort als Kuhhirt deklariert, was bei einem reimenden Professor etwas nach Abstieg klingt.22

Foto: gemeinfrei/Wikimedia Commons

Immerhin, 1849, nach der Revolution, konnte Hoffmann rehabilitiert ins Rheinland zurückkehren. Noch im selben Jahr heiratete er, mit 51, seine 18-jährige Nichte („Mägdlein aus Kurpfalz“?), was ich nicht weiter kommentiere, zumal sie eine Pastorentochter war. 1855 bekam sie auch noch, oder erst, ein Kind von ihm (Junge). Mit 75 Jahren starb August Heinrich Hoffmann nach einem Schlaganfall am 19. Januar 1874. In Anwesenheit von mehr als tausend Trauergästen wurde er neben der Abteikirche von Corvey beigesetzt23, die liegt nicht in England, obwohl es danach klingt, sondern in Westfalen.

Aber damit wir, liebe Buben und Mädel, nicht ganz so traurig beim Tod enden, beschließen wir unseren kleinen Ausflug in die Vergangenheit mit einem hoffmannschen Gedicht, das in unserer genderneutralen Zeit von großer Aktualität ist:

„Keine Puppe will ich haben / Puppen geh’n mich gar nichts an.
Was erfreu’n mich kann und laben / ist ein Honigkuchenmann.
So ein Mann mit Leib und Kleid / durch und durch an Süßigkeit.
Stattlicher als eine Puppe / sieht ein Honigkerl sich an,
Eine ganze Puppengruppe / mich nicht so erfreuen kann.“24

24 Quelle: Heinrich von Fallersleben – „Vom Honigkuchenmann“, Textauszug gefunden in ‚Kinderlieder‘, Seite 214 auf Google Books

Foto oben: Abdallah1991/Shutterstock | Foto unten: sandra zuerlein/Shutterstock

Ach, da klingelt es. Pause. Wenn ihr euch jetzt im Klo Drogen reinzieht oder auf dem Schulhof „Opfern“ die Designerklamotten abzieht, dann denkt doch noch ein bisschen über das nach, was da im Wald auf einem Bein steht, oder was ein abgeschnittener Komponistenkopf beim Gefängnisverwalter verloren oder zu suchen hat.

Foto links: Corepics VOF/Shutterstock | Foto rechts: Motortion Films/Shutterstock

Foto: giedre vaitekune/Shutterstock

(leutselig:) Und jetzt raus, ihr desinteressiertes Null-Bock-Geschmeiß!

Foto: DarkBird/Shutterstock | Titelillustration: Fotos (3) Wikimedia Commons, Corepics VOF/Shutterstock

25 Kommentare zu “Deutschland über alles? Alles über Deutschland

      1. 2015, 2017, 2019 … aktuell ist halt nicht nur, was gerade in der BILD steht. Die Auseinandersetzung mit Deutschland bleibt wohl noch eine ganze Weile wichtig.

  1. Nationalhymnen sind mir immer suspekt. Ja, den Text kenne ich natürlich, aber lauthals mitsingen… dabei komme ich mir dann doch immer komisch vor. Dass man die ein oder andere Strophe weglässt ändert auch irgendwie nichts daran, dass sie ja eigentlich existieren. Sowohl Strophe 1 als auch 2 erscheinen mir übrigens zweifelhaft. Einigkeit und Recht und Freiheit klingt immerhin gut.

    1. Das Singen bzw. Nichtsingen von Nationalhymnen ist momentan eh ein großes Thema. Siehe USA. Da wird man von Trump schon mal gerne als „Son of a Bitch“ beschimpft und vom Platz geschickt. Sportliche Leistung hin oder her.

  2. Dass Hoffmann von Fallersleben einerseits den Ruf eines Vorkämpfers demokratischer Freiheiten hatte (man denke nicht zuletzt an seine „Unpolitischen Lieder“), andererseits aber für seine nicht unbedingt anspruchsvollen Volks- und Kinderlieder bekannt ist, war mir immer ein etwas schwer vereinbar erscheinender Zusammenhang. Andererseits soll man ja eigentlich froh sein, wenn einmal etwas nicht völlig eindimensional und sofort nachvollziehbar ist.

  3. Gab’s in Köln nicht auch einmal „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“ als Alternative zurm Deutschlandlied? Bei irgendeinem großen Sportevent? Oder ist die Geschichte dann doch erfunden? Wundern würde mich es jedenfalls nicht 😉

  4. Lieber Herr RInke, nun ist dann auch die Zeit gekommen die einzelnen Hymnen ( Nierdersachsenlied, Bayernhymne und „zehn kleine Negerlein“, ist doch die ofizielle von Thüringen, oder? ) der ehemaligen Fürstentümer vor 1871 genauer zu beleuchten, oder? Spannend allemal. Und für die Infos rund um die Vögel vielen Dank.

    Übrigens der akute Mangel an Lehrkräften könnte mit mehr lehrenden Laien, wie Ihnen, leicht behoben werden.

    bis auf bald

    mb

    1. Wie wäre es denn, anstatt mehr lehrende Laien auf unsere Kinder loszulassen mal über das gesamte Konzept Schulpflicht nachzudenken? Nichts gegen Herrn Rinkes Wissen. Aber vielleicht gibt es sinnvollere Lern- und Fördermodelle. Die Zeit sollte doch langsam dafür reif sein.

    2. Hier mal ein nicht ganz uninteressanter Beitrag zu diesem Thema:
      http://www.deutschlandfunkkultur.de/bildungssystem-die-schulpflicht-gehoert-abgeschafft.1005.de.html?dram:article_id=392423
      Dass die UN die Bundesregierung tatsächlich schon wegen des Schulzwangs offiziell gerügt haben, wusste ich gar nicht. Verstehen kann ich es allerdings. Die Entscheidung wie und was man lernt sollte doch eher bei Eltern und Kind liegen, nicht beim Staat. So dolle schneiden wir beim PISA Test auch nicht ab, dass unser System als das Maß aller Dinge verteidigt wird.

  5. Ich würde auch die Bildungspflicht der Schulpflicht vorziehen. Mit welcher Begründung dieses festklammern am Zwang in der Schule zu sitzen gerechtfertigt wird, fragt man sich wirklich.

    1. Der einzige Grund, warum ich trotz aller Probleme an die Schule glaube, ist der soziale Aspekt. Miteinander leben ist zwar eh eines der schwierigsten Themen, aber immerhin lernt man in der Schule einiges über das Miteinander. Im Guten wie im Schlechten.

    2. Wobei dieses „Miteinander“ dann in der Regel ja eher eine Leidensgemeinschaft ist. Ob man da soviel wertvolles lernt sei dahingestellt.

      1. Zwei Jahre später werde ich wohl keine Antwort mehr bekommen, aber wie Sie zu dieser Schlussfolgerung kommen würde mich als Mutter trotzdem interessieren.

    3. Es geht ja auch erstmal gar nicht darum die Schule abzuschaffen, sondern den Eltern eine Entscheidungsfreiheit zu geben. Momentan sind ja eher Freiheitsstrafen bei Schulverweigerung vorgesehen.

  6. Für die direkten Nachkommen von Universal-Genies wie Leonardo da Vinci (schwul) und Leibniz (kinderlos) wäre eine Schulpflicht in der Tat überflüssig, falls die Herren oder Damen sich verpflichteten, täglich sechs bis acht Stunden ihren Nachwuchs zu belehren und dessen Wissen fortlaufend zu überwachen.

    1. Bildung finde ich ungemein wichtig. Die Frage wäre meiner Meinung nach eher WAS und nicht OB man lernen soll.

  7. Endlich mal etwas, dass ich den Leuten weiterschicken kann, die mich fragen was denn nun typisch deutsch ist 😉 Es gibt ja genügend Wichtiges und genauso viele Nebensächlichkeiten zu erlesen.

    1. gab es das? stolz auf deutsche lieder? jedenfalls gibt es neben der weiblichen conchita nun auch die männliche wurst. artistisch gesprochen.

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