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Religion

straßenfest

Jetzt streiken schon die Schüler. Für die Umwelt. Der Umweltschutz treibt immer mehr Menschen um. Und dann auf die Straße. Sich bedroht zu fühlen ist ein positives Gefühl, weil Bedrohungen im Allgemeinen die Lethargie beenden und eine Handlung auslösen, nur nicht bei dem Kaninchen, das schreckensstarr vor der Schlange hockt. Normal sind Flucht oder Angriff, in westlichen Demokratien ist es bevorzugt der Angriff, weil man sich hier was trauen kann, ohne dafür büßen zu müssen. Das ist gut so, und es wird wie alles Gute ausgenutzt für weniger Gutes: Eine Marienstatue dient der Andacht, um die Hände zu falten und zu beten. Man kann mit ihr aber auch seine schwangere Freundin erschlagen. (Warum hat die Alte auch nicht besser aufgepasst?) Wer demonstriert, zeigt, dass er Verantwortung für etwas übernehmen will – oder sie auf andere abschieben möchte: Tut endlich was! Bevor es zu spät ist.

Fünf vor zwölf ist es, seit die Uhrzeit erfunden wurde. Die Christen der ersten Stunde wussten, dass Christus demnächst wieder herabsteigen würde, „zu richten die Lebenden und die Toten.“* Wie hart das wird, lese ich bei jesus.ch: „Ein schlechtes Wort, ein böser Gedanke oder eine falsche Tat disqualifizieren jeden für den Himmel.“ Aber ich werde auch getröstet: „Darin offenbarte sich die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben. Nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat.“ Seinen einzigen Sohn! Das klingt netter uns gegenüber als gegenüber seinem Nachkommen. Hätte er uns doch bloß gleich ordentlich erschaffen, dann wäre Jesus dieses Elend erspart geblieben!

Foto: prochasson frederic/Shutterstock

Spätestens als es auf das Jahr 1000 n. Ch. zuging, waren sich viele Christen einig: „Nun ist es so weit.“ Sie gingen offenbar davon aus, dass Gott unsere Zeitrechnung verinnerlicht hat und sein Jüngstes Gericht nach unseren Uhren ausrichtet. Hat er nicht gemacht. Seither gab es unendlich viele Endzeitszenarien, deren Schöpfer ihrer Gefolgschaft anschließend offenbaren mussten, wieso sie immer noch lebten. Dass Gottes Wege unergründlich seien, war eine große Hilfe bei der Deutung dessen, was nicht passiert war.

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Inzwischen hat „die Natur“ Gott in vielen Hirnen abgelöst. Aber nicht in allen. Trump und seine Wähler glauben, dass es überhaupt keine Umweltprobleme gäbe, schon deshalb nicht, weil sie so fromm sind; andere sehen in jedem Tag mit 30 Grad im Schatten einen Beleg für den selbstverschuldeten Weltuntergang. Auf meinem Tisch liegt wieder mal ein langer, langer Text mit dem Titel „Eine Minute vor zwölf. Tagebuch des Erwachens aus dem Spiel der Matrix – Heimkehr ins neue Paradies“. Überängstliche und Ignoranten. Wie fast immer liegt die Wahrheit womöglich auch hier in der langweiligen, unspektakulären Mitte.

Foto: Alexas_Fotos/pixabay

Als meine Eltern 1965 zum ersten Mal mit mir in Venedig waren, sagte meine Mutter zufrieden: „Wenn es jetzt untergeht, kann ich sagen: Ich habe es meinem Sohn noch gezeigt.“ Als Helmut Kohl 1987 zu Honecker sagte: „Sie müssen etwas gegen die Verschmutzung der Elbe tun“, antwortete der oberste deutsche Sozialist: „Für so etwas haben wir kein Geld. Dann müssen Sie das bezahlen.“ Und jetzt? Es ist nicht einzusehen, dass der Hambacher Forst, damals mit Zustimmung der Grünen, gerodet werden soll, genau zu dem Zeitpunkt, in dem der Braunkohleausstieg beschlossen wurde.

Die am Bildschirm generierten Zukunftsbilder von New York und Amsterdam unter Wasser sieht man als warnenden Ausblick ständig in Magazinen und Reportagen. Menetekel sind Auflagen steigernd, aber auch zielführend; dennoch lassen sich die Prognosen kaum in Einklang bringen: Hier wird durch ein Volksbegehren der Anwohner eine Trasse für Ökostrom verhindert, dort wird der Regenwald für gewinnorientierte Unternehmen abgeholzt. Alles wird heute über die Medien weltweit erfahrbar, und nichts passt zusammen. Arbeitsplatz gegen Umweltschutz, Luftreinheit gegen Autoindustrie.

Foto: Pixel-mixer/pixabay

Dass junge Menschen sich sorgen, verstehe ich. Auch Wut ist immer gut, wenn man etwas verändern will. Trotzdem steht der Zweifler dort, wo er hingehört: zwischen allen Stühlen. Jede Generation will und muss etwas verändern. Gewaltlos, geht das? Die Gelbwesten machen mehr Krawall, als dass sie eine Linie hätten. Macron wurde gewählt, um etwas zu ändern. Nun verändert er etwas, und wer betroffen ist, gibt sich empört.

Im Westen hatten die meisten von uns zwischen 1968 und der Finanzkrise 2008 kein ernsthaftes Bedürfnis nach grundlegender Veränderung. Und jetzt? In China wird der Umweltschutz einfach verordnet: Elektroautos, Abgaswäsche. Die Diktatur erweist sich wie immer als umsetzungsfreudiger als die Demokratie. Das kann dem mit Fantasie Begabten Angst machen, noch mehr als Sozialausgaben oder Aktienkurse.

Foto: Public Domain/pxhere

Ja, die Jugend ist die Zeit im Leben, zu der man etwas ändern will; gelingen tut es meist erst später, wenn es einem weniger wichtig geworden ist. Kinder halte ich eher für beeinflussbar als für originell, obwohl ich doch weiß, dass es bei mir umgekehrt war. Sehr gut, dass ich damals nichts Weltbewegendes entscheiden durfte. Kinder wissen schon sehr genau, was sie wollen; dabei berücksichtigen sie andere Standpunkte nie und Konsequenzen auch nicht. Manche Männer und Frauen behalten diese eingeschränkte Weltsicht bei, was sie auf den Thron oder aufs Schafott führen kann. Der Wunsch „Kinder an die Macht!“ ist kindisch. „Kinder müssen erst mühsam gebändigt werden, bevor sie erträglich werden für Menschen, die nicht zur eigenen Familie gehören“, behaupte ich überspitzt.

Foto links: Public Domain/pxhere | Foto rechts: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Jetzt streiken also freitags die Schüler, zum Teil wie die Franzosen als Gilets Jaunes. Merkwürdig. Bei Arbeitern, die die Geschäftsleitung weichkochen wollen, verstehe ich das. Bei Schülern, deren Pensum durch den Ausstand ja nicht weniger wird, erinnert es an den Spruch „Geschieht meinen Eltern ganz recht, wenn ich mir die Finger abfriere, warum kaufen sie mir keine Handschuhe?“. Aber vielleicht rüttelt es ja doch irgendwen auf, der mehr bewirkt, als man in der Schule lernen kann. Hungerstreik nützt eben manchmal auch, obwohl das Gefängnispersonal die ganze Zeit über genug zu essen hat.

Ist dieser ganze Aufruhr wirklich auf Klimaaktivistin Greta Thunberg zurückzuführen? Zum richtigen Zeitpunkt richtig vermarktet, von Ingmar Rentzhog? Früher hieß es: „Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau.“ Heute kann man sagen: „Hinter jeder bewunderten Ikone steht ein gewiefter Manager.“ Eine Zwangsstörung ist dabei sehr hilfreich, beim Aushängeschild, nicht etwa bei dem Promoter. Tagelange Bahnfahrten statt Linienflug und Zöpfe statt Trendfrisur sind zur Imagepflege genauso segensreich wie die Bluttränen weinenden Madonnen für den Fremdenverkehr. Dass der Zweck die Mittel heilige, das formulierte Machiavelli schon vor fünfhundert Jahren, und wenn man mit langen Zöpfen und eingepaukten Reden die Welt verbessern kann, dann muss man die Zöpfe nicht abschneiden, sondern dranlassen.

Foto: klimkin/pixabay

*Glaubensbekenntnis

22 Kommentare zu “straßenfest

  1. Demonstrationen sind wichtig in einer Demokratie. Schließlich lebt sie davon, dass sich alle beteiligen. Und die gewählten Vertreter brauchen ab und an eine kleine Erinnerungshilfe warum und wofür sie ursprünglich unsere Unterstützung bekommen haben.

    1. Natürlich stimmt das, aber so etwas wie die Gelbwesten in Paris macht mir auch wieder Angst. Wie schnell friedliche Demonstrationen zu Gewaltexzessen werden können ist schon gruselig.

      1. Genau wie’s oben steht: jetzt versucht Macron wie versprochen etwas im Land zu ändern, und schon stehen die Menschen auf den Straßen weil’s ihnen nicht passt. Seltsam.

  2. Ich finde es durchaus richtig, dass sich die Jugend engagiert. Viel besser als die Politikverdrossenheit der letzten Zeit, meinen Sie nicht?

    1. Wenn’s z.B. um so etwas wie Parkland in den USA geht, ist das ein starkes Zeichen. Vielleicht das einzige was auf lange Sicht helfen kann, diese Waffenidiotie einzugrenzen.

      1. Oder in nicht allzu weiter Zukunft ein ‚National Emergency‘ zum Thema Schusswaffen…

      2. Der ausgerufene Notstand wird doch gerade schon wieder gerichtlich ausgehandelt. Damit ist’s dann auch wieder vorbei.

  3. Warum genau wartet man denn nun eigentlich auf die Rückkehr des Messias? Was erwartet man sich davon? Soll er endlich das Global Warming verhindern? Plastikbecher verbieten?

    1. Ich finde Menschen generell ziemlich faszinierend. Ohne Ironie. Nicht immer nachzuvollziehen aber faszinierend.

      1. Je mehr man in jemanden reinschaut, desto faszinierender wird sie/er. Nicht immer durchschaubar, manchmal sogar schauerlich, aber lohnend. Es kommt mir so vor, als würden die durchaus vorhandere Möglichkeit mithilfe der Digitalisierung in die Tiefe zu gehen, sehr wenig genutzt, weil eine Oberfläche sofort von der nächsten abgelöst wird. Schade.

      2. Man will/muss halt immer up-to-date sein. Da sind die oberflächlichen Infos erst einmal ausreichend. Für mehr reicht die Zeit dann doch wieder nicht.

  4. Die Wahrheit liegt meist in der Mitte und trotzdem braucht man oft die Extreme um seinen Standpunkt zu kommunizieren.

    1. Schwarz und weiss verkauft sich zumindest besser, als die langweilige Mitte. Deshalb funktioniert Populismus ja so außerordentlich gut.

  5. Trump und seine Wähler glauben, dass Global Warming nicht existiert. Und jedes Mal wenn es irgendwo schneit sagt er ’so where’s that Global Warming‘? Idiotie ohne Grenzen.

    1. Idiotisch und tragisch zu gleich. Wenn man nicht bald ernsthafte Schritte unternimmt – und zwar weltweit gemeinsam – wird es wohl zu spät sein 🙁

  6. Imagepflege ist so wichtig geworden. Und gleichzeitig ist das so ernüchternd. Nichts ist mehr „authentisch“, obwohl das Wort immer noch eines der wichtigsten Schlagwörter ist. Alles ist geplant, unterliegt einer Strategie. Wo bleibt das Spontane? Utopie?

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